Sechszehntes Kapitel
Kelby
Kelby stand im Eingang der Höhle und betrachtete seinen Zwillingsbruder Arden argwöhnisch. Er war etwas größer als Arden, die Haare waren kürzer und sein Gesicht nicht so verhärmt. In seinen Augen glitzerte eine Milde, die man in Ardens Augen vergebens suchte.
»Was tust du da?«
Arden wirbelte herum. »Wie meinst du das?«
Kelby kam auf ihn zu. »Warum war Margot gerade hier? Ich hätte sie fast nicht wiedererkannt.«
Sein Bruder zwang sich ein Lächeln auf die Lippen.
»Sie ist uns von Nutzen. Lass mich mal machen, lieber Bruder!« Er breitete seine Arme zur Begrüßung aus. »Du wirst schon sehen.«
Kelby trat einen Schritt zurück und erwiderte die Geste nicht.
»Was hast du vor?« Er blickte ihm ernst in die Augen. »Arden, das gefällt mir nicht.«
Arden wandte sich ab und wanderte mit langen Schritten durch die Höhle.
»Sie spioniert die anderen Spiegelfamilien für uns aus. Das ist gut, Kelby. Das ist sogar sehr gut. Sie verschafft uns wichtige Informationen, die wir von unserem lieben Bruder, Uri« – er spuckte verächtlich einen Schwall goldener Funken auf den Boden – »nicht bekommen werden. Sie ist unser Kontakt zur Menschenwelt.« Er blieb stehen und ein fratzenartiges Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Ist das nicht fantastisch?«
Kelby starrte ihn entgeistert an. »Was ist daran fantastisch, wenn du die arme alte Margot für deine Zwecke benutzt? Sie gehört zu deiner Spiegelfamilie. Deine Aufgabe ist es, sie zu beschützen, und nicht, sie für dich arbeiten zu lassen. Was versprichst du dir davon?«
Er stand aufrecht und angespannt in der Mitte der Höhle und wandte sich nicht um, während Arden um ihn herumtigerte. Kelbys Augen funkelten vor Zorn.
»Ja, sie ist alt.« Arden lachte höhnisch auf. »Jedoch ist sie nicht zu bemitleiden. Sie ist selbst schuld, dass sie ihren Schatten verloren hat. Ich habe kein Mitleid mit ihr.«
Kelby presste die Lippen aufeinander und ballte die Fäuste. Der Spiegelwächter bebte vor Wut.
»Wir müssen wissen, was in der Menschenwelt vor sich geht. Vor allem, wann Uri Ludmilla endlich zurückschickt und wann die Spiegel unbewacht sind«, fuhr Arden fort. »Am besten wäre es, wenn die Spiegel unbewacht wären.«
»Wovon redest du, Arden?« Kelby wurde immer ungeduldiger. »Warum müssen die Spiegel unbewacht sein? Was hast du vor?«
»Du wirst schon sehen. Ich habe alles durchdacht. Wir werden Zamir und diese gespenstischen Schatten vernichten.« Arden fuhr sich mit der Hand durch sein langes welliges Haar, das ihm wirr ins Gesicht hing. »Wir werden alles wieder in Ordnung bringen und dafür sorgen, dass Eldrid nie wieder von Menschen oder von ihren Schatten bedroht wird.«
Kelby starrte ihn entsetzt an. »Was willst du damit sagen?«
»Ich mache uns mächtig, mein lieber Bruder. Nur du und ich werden an der Spitze von Eldrid stehen, und Eldrid wird strahlen, in dem hellsten Licht, das die Wesen je gesehen haben. Wir werden Eldrid von diesem ganzen Elend befreien. Wir sind die Guten, Kelby. Nicht Uri. Und das werden wir Eldrid zeigen, indem wir unsere Welt retten werden.«
Sein Bruder starrte ihn fassungslos an. »Ich verstehe nicht …«, stotterte er.
»Eldrid muss befreit werden, Kelby. Das verstehst du doch, oder?« Arden packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. »Nicht nur von Zamir und seinen Schatten, sondern auch von der Macht der Spiegel. Nur so kann diesem Albtraum ein Ende gesetzt werden. Eldrid kann ohne die Spiegel existieren. Wir brauchen die Spiegel nicht. Sie haben uns nur geschadet.«
Kelby streifte die Hände seines Bruders ab. »Was faselst du da? Willst du die Spiegel etwa zerstören? Alle?«
»Selbstverständlich alle fünf, nur dann macht es Sinn. Es geht darum, ihre Macht, ihre Magie zu zerstören. Die Portale müssen geschlossen werden. Die Menschen haben Eldrid immer nur geschadet. Ich sehe keinen Vorteil darin, Menschen durch Eldrid wandern zu lassen. Sie bringen das Schlechte, das Böse in unsere Welt. Sie sind der Ursprung unseres Leids. Sie sind schuld, dass Zamir diese Schatten geschaffen hat.«
»Warum meinst du, dass es allein die Schuld der Menschen ist, dass Zamir lebendige Schatten geschaffen hat?«
Arden blickte ihn irritiert an. »Natürlich sind die Menschen schuld. Wer denn sonst? Die lebendigen Schatten sind eine neue Spezies hier in Eldrid, und sie sind enorm mächtig. Der erste mächtige lebendige Schatten war Godal, und Mina war seine Herrin. Erst danach kamen weitere dazu. Von ihnen geht die Gefahr aus. Zamir ist ihr Schöpfer und damit die Bedrohung, aber ohne seine Schatten ist er ein Nichts.«
Er spuckte einen Funkenregen auf den Boden.
»Zamir. Zamir wird sich umschauen, wenn er keinen funktionierenden Spiegel mehr hat. Dann schwindet seine Macht. Du wirst schon sehen.« Arden lachte schrill auf.
»Du willst also die Spiegel zerstören, um Zamir unschädlich zu machen«, sagte Kelby ganz langsam.
Arden nickte eifrig. »Ist das nicht eine brillante Idee?«
Kelby schüttelte heftig den Kopf. »Hast du dir auch überlegt, was wir dann sind? Ohne unsere Spiegel?«
Ardens Augen zuckten verwirrt. »Wie meinst du das?«
»Wir sind Spiegelwächter, Arden! Wir wachen über unsere Spiegel. Wozu braucht Eldrid dann noch Spiegelwächter, wenn es die Spiegel nicht mehr gibt? Vielleicht löschst du uns gleich mit aus, wenn du die Magie der Spiegel zerstörst.« Kelby atmete schwer. »Und wie willst du das machen? Den Spiegeln die Magie nehmen? Die Portale schließen, wie du es nennst. Weißt du, was für Konsequenzen das haben kann? Du willst das Pentagramm der Spiegel zerstören. Vielleicht zerstörst du Eldrid gleich mit. Arden! Das ist Wahnsinn.«
Arden reagierte nicht. Sein Blick haftete auf dem Dena-Spiegel. Hass explodierte regelrecht in seinen Augen. »Dieses Risiko müssen wir eingehen«, murmelte er vor sich hin.
Kelby stellte sich direkt vor ihn und versperrte ihm die Sicht. Sein Gesicht war verzerrt vor Anstrengung und Entsetzen.
»Arden. Ich flehe dich an. Das kannst du nicht ernst meinen. Du hast nicht genug Informationen, um zu wissen, dass dein Plan gut ausgeht. Das ist gar kein Plan, mein lieber Bruder.« Fast zärtlich legte er ihm eine Hand auf den Arm. »Lass uns gemeinsam überlegen, ob wir eine andere Lösung finden. Wir können Zamir vernichten. W-i-r können ihn unschädlich machen. Dafür sind wir mächtig genug. Wir zwei, Arden. Wir zerstören Zamirs Macht, die Schatten und die Schattenwolke. Wir führen Eldrid ins Licht.«
Arden löste sich ruckartig aus seiner Erstarrung. »Ich wusste es, dass du auf meiner Seite bist«, schrie er euphorisch. Er entzog sich Kelbys Griff und fing an, im Kreis zu laufen. »Wir führen Eldrid ins Licht. Ja! Wir werden Eldrid befreien. Von Zamir und von den Schatten. Und dazu müssen wir nur die Spiegel zerstören oder ihnen ihre Magie nehmen. Ich wusste, dass du genauso denkest. Ich wusste es.«
Kelby ließ den Arm sinken. »Arden«, rief er. »Arden, hast du mir zugehört? Wir können die Spiegel nicht zerstören. Wir zerstören damit unsere Daseinsberechtigung. Ohne die Spiegel sind wir für Eldrid nutzlos.«
»Nutzlos? So nennst du das?«, herrschte Arden ihn an. »Wir sind Wesen des Lichts. Wir haben Mächte, und wir haben Schatten. Nur weil wir Spiegelwächter sind, muss unser Dasein nicht von den Spiegeln abhängig sein.«
»Arden, bist du noch bei Sinnen? Wir sind Spie-gel-wäch-ter«, brüllte Kelby nun außer sich. »Es gibt nur diese fünf Spiegel in Eldrid, sonst keine. Ohne Spiegel braucht es auch keine Wächter. Keine Spiegelwächter. Das ist ein gefährlicher Plan, Arden, und er wird tödlich enden, wenn du ihn ausführst. Glaub mir doch!«
Arden schien ihn nicht zu hören, sondern tigerte weiter durch die Höhle, den Blick ins Nichts gerichtet.