Einundzwanzigstes Kapitel
Arndt Solas
Margot saß stumm neben Arndt in seinem Auto. Ihr Herz trommelte wie wild gegen ihre Brust, und sie konnte ihren Atem nur langsam beruhigen. Von Zeit zu Zeit warf sie einen Seitenblick auf Arndt. Er war alt geworden. Schon in jungen Jahren war er in ihren Augen kein sonderlich attraktiver Mann gewesen, mit den stets fettigen Haaren und der dicken Brille. Nun war er alt und runzlig, hatte einen dicken Bauch und fast keine Haare mehr auf dem Kopf. Seine Kleidung war befleckt und verschlissen, und er roch nach »altem Mann«. Sie dagegen war als junges Mädchen sehr hübsch gewesen, dafür hatte sich jedoch niemand interessiert, nachdem sie das Haus nicht mehr verlassen durfte. Sie seufzte fast unhörbar.
»Wie konnte das passieren, Margot?«, fragte Arndt schließlich in die Stille hinein. »Wer war dieser Mann?«
Seine Stimme war fast unverändert, tief und angenehm. Sie lächelte in sich hinein. Das kam ihr alles so vertraut vor, obwohl es mehr als fünfzig Jahre her war, seitdem sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Sie schwieg und betrachtete die Straßen, die an ihr vorüberflogen. Wie sich die Stadt verändert hatte! Ihre Erinnerungen waren inzwischen verschwommen und die Eindrücke aus den Fenstern ihres Gefängnisses viel zu wenige.
Arndt fuhr ein paar Mal im Kreis und etliche Umwege, um etwaige Verfolger abzuschütteln, und ständig blickte er in den Rückspiegel. Manchmal schaute er sie kurz an, wollte sie zu einer Antwort drängen, entschied sich dann aber dazu, ihr Zeit zu lassen.
Schließlich fragte er: »Wie gut bist du zu Fuß?«
Sie hob die Schultern. »Ich kann laufen, wenn du das meinst.«
»Auch ein wenig länger?«
Sie nickte. »Ob das so klug ist? Ohne Schatten?«
Er lachte auf. »Margot. Wir sind zwei alte Menschen, sehen beide etwas heruntergekommen aus und können uns nicht mehr ganz gerade halten. Wir werden nicht gesehen. Keiner wird es bemerken. Ich verspreche es dir.«
Dennoch zögerte sie. »Ich war seit über fünfzig Jahren nicht mehr draußen.«
Er blickte sie kurz mit seinen wässrig blauen Augen durch die dicke Brille an. Lag darin Mitleid? Oder etwas anderes? Bevor sie es für sich entscheiden konnte, lächelte er.
»Auch das ist kein Problem. Ich bin bei dir, und das hier ist eine Wohngegend. Keine zu lauten Geräusche, kaum Menschen auf der Straße, keine Leuchtreklamen oder viel Verkehr. Noch nicht einmal ein Bus fährt hier durch. Du wirst also gar nicht bemerken, wie viel Zeit inzwischen vergangen ist.«
Sie zuckte nur mit den Schultern. »Und warum können wir nicht vor dem Haus parken?«
Er schüttelte entschieden mit dem Kopf. »Margot! Die Lage ist ernst. Sie waren schon in deinem Haus. Wenn sie nun das Nummernschild meines Wagens notiert haben, sollte es nicht direkt vor Minas Haus stehen, oder?«
»Daran habe ich nicht gedacht«, gab sie kleinlaut zu.
Er grinste verschmitzt. »Ich habe viel Zeit, Krimis zu schauen und zu lesen. Das kommt uns jetzt zugute.«
Er wendete den Wagen und fuhr in die entgegengesetzte Richtung davon. Kein auffälliges Auto kam ihnen entgegen. »Vielleicht haben sie die Verfolgung noch nicht aufgenommen«, murmelte er.
»Sie wollten mir Fragen stellen. Früher oder später werden sie mich suchen«, gab sie patzig zurück.
»Also ging es ihnen um deine Schattenlosigkeit?«, wollte Arndt wissen.
Sie zuckte mit den Schultern und erinnerte sich an die Szene, wie sie vor Franz stand, die Sonne im Rücken, und an den Spiegel, der in seiner vollen Pracht leuchtet. Der Dena-Spiegel. Wie sehr sie ihn liebte. Hätte sie sich doch nur viel früher getraut, ihn zu besuchen. Und dann musste sie an Ardens Auftrag denken. Wie sollte sie ihm berichten, was sie herausfinden würde, wenn sie nicht durch den Dena-Spiegel reisen konnte? Konnte sie überhaupt zurück in ihr Haus? Und wenn ja, wollte sie das? Das waren zu viele Fragen. Jetzt ging es erst einmal darum, dass Arndt sie vor ihren Verfolgern in Sicherheit brachte. Wen hatte Franz da bloß mitgebracht? In ihr Haus! Sie war immer noch entsetzt von dieser Dreistigkeit.
In diesem Moment parkte Arndt das Auto. »Und nun laufen wir ein Stück und du erzählst mir in Ruhe, was passiert ist.«
Er stieg aus, ging um das Auto herum und hielt ihr die Autotür auf. Als er ihr hilfsbereit eine Hand entgegenstreckte, winkte sie energisch ab. »Ich bin alt, Arndt, aber nicht so alt.«