Zweiundzwanzigstes Kapitel
Verschleppt
Nouk hatte die Anweisung, Ludmilla und ihre Freunde zu dem Dorf der Wiar zu führen, ohne dabei von den Schatten oder den Nuria entdeckt zu werden. Der Drache flog voraus und stieß kleine Stichflammen aus, so dass sie ihn nicht aus den Augen verloren, gefolgt von Lando als Adler. Eneas und Ludmilla liefen wie selbstverständlich nebeneinander. Sie spürte die Anwesenheit ihres großen unsichtbaren Freundes, auch wenn sie ihn immer noch nicht sehen konnte. Ihre gemeinsame Reise durch die Moorebene von Fenris und die Erlebnisse im Dorf der schattenlosen Wesen hatten sie zusammengeschweißt. Eneas war ein treuer Freund, der ihr ans Herz gewachsen war. Seine aufbrausende emotionale Art, die sie anfangs hatte zurückschrecken lassen, kannte sie nun gut, und sie brachte sie nicht mehr aus dem Konzept.
Die Umrundung des Schattendorfes, auf der der Drache bestand, wurde durch die Anwesenheit eines Croax-Wolfes unterbrochen. Als Nouk die Bestie erblickte, schrie er auf und flog aufgeregt zu Ludmilla.
»Da ist«, stammelte er, während sein grimassenschneidender Nebenkopf sich angewidert schüttelte, »eine Kreatur, die ich noch nie zuvor gesehen habe. Sowas Monströses und Böses, daran kommt kein Drache heran.«
»Beschreib uns das Wesen«, befahl Eneas, der den Kopf sichtbar machte. Der Adler zog seine Kreise über ihren Köpfen und schrie warnend auf.
»Es ist riesig«, erhitzte sich Nouk. »Vorne ein Wolf und hinten ein Schwarm von Vögeln. Vollkommen schwarz und …« Er schüttelte sich. »… fürchterlich.«
Ludmilla wechselte einen Blick mit Eneas. »Ein Croax-Wolf.« Sie überlegte kurz. »Wir sind unsichtbar, und Lando in der Luft. Er darf uns nicht entdecken, also machen wir einen großen Bogen um ihn herum.«
Der Unsichtbare brummte etwas Unverständliches und nickte widerwillig.
»Der Bogen muss sehr groß sein«, meckerte der Drache weiter. »Dieser Kreatur möchte ich nicht begegnen.«
»Du wirst den richtigen Abstand schon finden.« Ludmilla nickte ihm zu, und Nouk erhob sich wieder in die Lüfte.
Die Umrundung des Dorfes dauerte viele Stunden, und zu Ludmillas Überraschung sahen sie den Croax-Wolf noch nicht einmal von Weitem. Der Weg war uneben und rutschig. Das Land der Nuria könnte nicht weniger einladend sein. Ludmilla gab die Hoffnung auf, dass es in diesem Teil von Eldrid jemals heller werden würde. Der Himmel verfärbte sich röter, und die Luft wurde zunehmend stickiger. Am Horizont fegten die Nuria auf ihren Feuerpferden entlang. Das war ein faszinierender Anblick, von dem sich Ludmilla nur schwer losreißen konnte. Die Schweife ihrer Pferde brannten lichterloh und sahen dadurch aus wie Fackeln. Die funkensprühenden Haare der Reiter, die im Wind nach hinten flogen, glühten wie Lava.
»Starr sie nicht so an«, raunte Eneas an ihrem Ohr.
»Warum nicht?«
»Sie können uns wittern, wenn sie uns zu nahe kommen. Vielleicht können sie auch unsere Blicke spüren«, argwöhnte er.
Ludmilla nickte ihm zu, auch wenn sie ihm nicht glaubte. Eneas war, was die Nuria anbelangte, übervorsichtig. Er hatte Lando und ihr eingebläut, wie wichtig es war, dass sie auf ihre Mächte achteten. Sollten sie schwächer werden, war dies ein Zeichen dafür, dass die Nuria in unmittelbarer Reichweite waren, da sie ihre Magie blockierten. Das beste Erkennungszeichen war, dass Ludmilla sichtbar wurde. Dies war schon einmal passiert, zum Glück nur kurz, und Nouk hatte augenblicklich reagiert und die Richtung gewechselt. Es war erschreckend, wie leise sich diese Feuerwesen ihnen nähern konnten, ohne dass sie es bemerkten.
Nach vielen Stunden der Wanderung taten Ludmilla die Beine und Füße weh. Ihre Kräfte ließen nach, und sie fühlte sich erschöpft. Als sie schließlich nach Atem rang, bat sie um eine Pause. Auch Lando und Eneas waren dankbar für eine kurze Erholung. Sie ließen sich im Schatten eines besonders hohen Hügels nieder und streckten sich aus. Ludmilla kaute kurz auf der Wurzel herum, die Eneas ihr aus dem Moor auf der Ebene vor dem Dorf der schattenlosen Wesen herausgezogen hatte. Sie gab ihrem Körper Flüssigkeit und Nährstoffe, und obwohl Ludmilla kaum glauben konnte, wie wenig sie darauf herumkauen musste, war sie schnell gesättigt und fühlte sich auch nicht mehr durstig. Sie winkte Nouk zu sich, während Lando und Eneas schwer atmend neben ihr lagen.
»Wir brauchen eine Pause. Halte Wache und wecke uns, wenn die Nuria kommen.«
Der Kobolddrache erhob sich mit einem raucherfüllten Schnauben in die Lüfte. »Habe ich keine Pause verdient?«, meckerte er vor sich hin, aber keiner hörte ihm zu, da sie bereits eingeschlafen waren. Also schwang er sich in die Lüfte und kreiste über dem Rastplatz. Das kleine Wesen ließ sich in der schweren Luft, die über diesem Land hing, schweben und verfiel ins Träumen: Es gab das Land der Nuria schon viel länger als die Feuerwesen selbst, und er hatte es gekannt. Die Landschaft war immer rotleuchtend gewesen, die Farbe, die von dem Land der Unsichtbaren gestohlen worden war. Ein Magier hatte sich in das Rot verliebt. Selbst für Kobolddrachen war der Diebstahl von Farben etwas Besonderes. Sein Erwecker hatte den Magier aufgesucht und zusammen hatten sie sich ausgemalt, welche Wesen in einem rotleuchtenden Land wohl leben könnten. Es war eine außergewöhnliche Zeit gewesen, voller Magie, und alles erschien möglich. Eldrid war schon immer magisch gewesen und dennoch anders zu dieser Zeit.
Versonnen ließ er den Blick über die Landschaft gleiten und wurde von einem gellenden Schrei aus den Gedanken gerissen. Der Drache verlor vor Schreck viele Meter an Höhe und musste kräftig mit den Flügeln schlagen, um nicht auf dem Boden aufzuschlagen. Unter ihm bot sich eine Szene, die ihn zusammenfahren ließ. Entsetzt schlug er sich eine Pfote vor die Schnauze seines Hauptkopfes. Fünf Nuria hatten die Schlafenden umzingelt und über Ludmillas Oberkörper einen Sack gestülpt. Sie zappelte und wand sich in dem festen Griff eines Nuria.
Nouk entfuhr ein Feuerschwall und er brüllte los: »Nein!«
Kurz bevor er Ludmillas Angreifer erreicht hatte, hielt er inne. Er schlug wieder mit den Flügeln und gewann so an Höhe zurück. Er konnte nichts gegen die Nuria ausrichten, da sein Feuer sie nicht beeindruckte. Entsetzt musste er tatenlos zusehen, wie ein großes glühendes Wesen, das Ludmilla um mindestens zwei Köpfe überragte, sie zu seinem Pferd zerrte. Der Formwandler und Eneas kämpften erbittert mit den blanken Fäusten gegen die anderen Nuria und schrien dabei auf sie ein. Jedoch verbrannten sie sich bei jedem Treffer nur die Hände und Arme und konnten ebenfalls nichts gegen die Feuerwesen ausrichten. Die Nuria hatten leichtes Spiel. Der eine, der sie sich geschnappt hatte, schlug Ludmillas Beine in eine Decke ein und legte sie wie einen Sack über den Rücken seines Pferdes. Sie schrie und trat um sich, aber es zeigte keine Wirkung. Er schwang sich hinter sie und preschte mit ihr davon. Die anderen folgten ihm. Nouk sah nur noch, wie der Formwandler und der Unsichtbare atemlos und wie erstarrt hinter ihnen her starrten.
Der Kobolddrache zögerte nicht lange und folgte den Entführern in sicherer Entfernung. Er sah, wie sich Lando und Eneas ebenfalls in Bewegung setzten und die Verfolgung aufnahmen, sie waren jedoch zu langsam und mussten eine gewisse Entfernung einhalten, um ihre Magie einsetzen zu können. So fielen sie immer weiter zurück, und bald konnte Nouk sie nicht mehr erkennen, während er seiner Herrin folgte. Die Nuria waren schnell auf ihren Pferden, und das kleine Wesen hatte Mühe mitzuhalten, aber es strengte sich an, schimpfend, fluchend und feuerspuckend. Zu seinem Entsetzen realisierte er, dass sie in Richtung des Schattendorfes unterwegs waren. Zu gerne wäre er diesen gruseligen lebendigen Schatten mit ihrem Wolfsmonster nie wieder begegnet. Heftig schlug er mit seinen kleinen Flügeln und hielt nach Ludmillas Freunden Ausschau, aber sie waren außer Sichtweite. Gegen die Nuria war selbst er, der mächtige Kobolddrache Nouk, hilflos. Er stieß eine Stichflamme in den dunklen glühenden Himmel. Es war seine Aufgabe, seine Herrin zu beschützen. Nur wie?
Ludmilla hing wie ein Sack über dem Rücken des Pferdes. Anfangs hatte sie sich gewehrt, bis sich der Nuria mit seinem Gewicht auf sie gelehnt und ihr damit die Luft abgeschnürt hatte, so dass sie es vorzog stillzuhalten. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken.
»Mach dich nicht so steif«, zischte eine züngelnde Stimme wie die einer Schlange, nur dass sie die Sprache verstand. »Du tust dir nur weh, und mein Pferd muss mehr arbeiten. Kämpfe nicht gegen uns an. Du hast ohnehin keine Chance.«
Ludmilla brummte etwas wie: »Das werden wir ja sehen«, unterließ es aber, lauter als unbedingt nötig zu sprechen. Sie folgte dem Rat, denn ihre Rippen schmerzten schon, und der Rücken des Pferdes fühlte sich weicher an, wenn sie sich nicht so steif machte.
Sie nahm die Hitze, die von dem Körper ausging, der hinter ihr auf dem Pferd saß, deutlich wahr und war für die Decke um ihre Beine und den Sack über Oberkörper und Kopf dankbar. Sie spürte die rhythmische Bewegung des Tieres und versuchte sich zu beruhigen und ihre Gedanken zu ordnen. Sie war gefangen genommen worden, entführt. Ihre Tritte und Schläge hatten bei den Nuria Gelächter ausgelöst, sie hatten sie einfach gepackt, als wäre sie ein Sack.
Nun war die Frage: Was wollten sie mit ihr? Gab es noch mehr Eigenarten der Nuria, die Ludmilla nicht kannte? Sie konnte sich keinen Reim darauf machen. Fassungslos dachte sie an Nouk, der sie so dreist verraten hatte. Bezüglich seiner Loyalität hatte sie sich in ihm getäuscht. Wütend schnaufte sie auf, während die Decke über ihrem Oberkörper immer schwerer zu wiegen schien.
Nach einem schier endlosen Ritt hielten sie plötzlich an, und der Reiter stieg ab. Mit einem Ruck wurde sie vom Pferd gezogen und auf den Boden geworfen. Sie stöhnte auf, während ihr die Decke von den Beinen gerissen und der Sack unsanft vom Kopf gezogen wurde. Ludmilla rappelte sich auf und sah sich um. Ihre Augen brauchten nicht lange, um sich an die Umgebung zu gewöhnen, da es außerhalb des Sackes nicht viel heller war. Die Landschaft hatte sich nicht verändert, und sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Ihr Blick fiel auf den Eingang einer Höhle, vor der sie standen. Er führte direkt in einen der riesigen Steinhügel. Ein harter Stoß ließ sie darauf zu taumeln. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass der Nuria, der das Pferd geritten hatte, sie mit einem Stock vor sich hertrieb. Offenbar wollte er sie nicht berühren oder sie vielleicht sogar vor Verbrennungen schützen?
Ein weiterer Stoß ließ sie in die Höhle stolpern. Das Innere glich keiner der Höhlen, die Ludmilla bisher in Eldrid gesehen hatte. Es gab weder eine Feuerstelle noch Stroh zum Sitzen, sondern nur den blanken dunklen Stein. Die Wände glühten schwarz-rot, und es roch modrig und stickig. Vor ihr lag ein kauerndes Wesen auf dem Boden.
»Heile es«, flüsterte die schlangenartige Stimme hinter ihr.
Ludmilla zuckte zusammen. Was dachten sie, wer sie war? Eine Hexe? Eine Heilerin? Sie kniete sich neben das Wesen und streckte eine Hand danach aus.
»Nicht«, fuhr der Nuria sie an. Ein missbilligendes Zischen folgte. »Noch nicht, Hexe. Erst wenn ich es dir erlaube, darfst du es untersuchen und heilen.«
Ludmilla senkte ihren Kopf. »Verzeihung.« Innerlich zitterte sie wie Espenlaub. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Nuria herausfinden würden, dass sie keine Hexe war. Ihr musste so schnell wie möglich etwas einfallen, sonst wäre sie verloren. Sie glaubte nicht, dass Lando und Eneas schnell genug an ihrer Seite sein würden, um sie zu befreien. Diesen Gedanken erlaubte sie sich einfach nicht. Das wäre zu viel Glück. Und Glück war in Eldrid gerade ein seltenes Gut.
Der Stock stieß ihr unsanft in die Seite. »Untersuche es«, befahl er. Neben ihr landeten ein paar schwarze lederne Handschuhe auf dem Boden. »Berühre es nicht mit deiner blanken Haut und sieh ihm nicht in die Augen.«
»Wenn ich das Wesen heilen soll, benötige ich meine Kräuter«, erinnerte sich Ludmilla an Gwendolyn. Ihre Stimme klang unsicher.
»Die habt ihr Hexen doch immer bei euch«, zischte der Nuria. Sie wagte, einen Blick auf ihn zu werfen. Er war groß und schlank und trug ein enganliegendes kuttenartiges Gewand. Das Gesicht war umrahmt von flammenartigen Brandmalen, die sich um Augen, Mund und Nase rankten. Sie sahen aus wie flammende Tattoos, die sich in die Haut gebrannt hatten und rot leuchteten. Auch der Hals war davon übersäht. Sie konnte Ornamente erkennen, die sie an die erinnerten, die sich auf dem Rahmen des Scathan-Spiegels befanden. Ornamente in der alten Sprache von Eldrid, die sich in die Haut der Nuria gebrannt hatten, oder zumindest in die Haut dieses einen. Ludmilla starrte so unverwandt auf die Zeichen, dass sie einen weiteren Stoß mit dem Stock kassierte.
»Kümmere dich um die Heilung. Mein Aussehen hat dich nicht zu interessieren.«
Sie nickte eingeschüchtert und versuchte, das Spiel mitzuspielen und Zeit zu gewinnen, da sie keine Ahnung davon hatte, wie die Hexen ihre Künste anwandten. Sie hatte nur einmal bei Amira gesehen, wie sie eine Paste angerührt hatte, um Ludmillas Arm zu heilen, aber daran erinnerte sie sich nur noch schwach.
»Ich habe meine Kräuter beim Rastplatz gelassen«, log sie. »Ich hatte den Beutel zum Schlafen abgelegt.«
Der Nuria musterte sie kritisch und fuhr mit dem Stock an ihrer Kleidung entlang. »Ungewöhnliche Bekleidung für eine Hexe«, züngelte er.
Sie nickte. »Eine Tarnung. Ich wollte nicht entdeckt werden«, erklärte sie schnell. »Ich benötige meine Kräuter für die Heilung. Kannst du mir den Beutel bringen? Er liegt noch bei der Raststelle, da bin ich mir sicher.«
Das Feuerwesen lachte auf. »Das ist ein ganz mieser Trick. Denkst du wirklich, dass dir deine Freunde helfen können? Sie haben keine Mächte in unserer Anwesenheit. Sie können uns nicht bekämpfen.«
»Das weiß ich. Ich habe ja selbst keine.«
»Für die Heilung benötigst du keine Magie. Die Kraft der Kräuter reicht völlig aus. Du untersuchst jetzt das Wesen, und ich versuche, einen Beutel mit Kräutern aufzutreiben.«
Sie sah ihn flehend an. »Ich benötige meinen Beutel. Bitte. Dann helfe ich.«
Innerlich zitterte sie. Wie konnte sie das nur behaupten? Sie hatte keine Ahnung, wie sie diesem Wesen helfen sollte, dass da zu ihren Füßen lag.
»Du hast keine Bedingungen zu stellen, du hast zu gehorchen. Wenn du es geheilt hast, darfst du gehen. Untersuche es«, befahl er. »Ich kümmere mich um die Kräuter.«
Mit diesen Worten verschwand er.