Dreiundzwanzigstes Kapitel
Der Irrling
Ludmilla ließ sich auf die Knie sinken und zog die Handschuhe an. Vorsichtig wandte sie sich dem Wesen zu. Dann zuckte sie zurück. Was tat sie da? Sie konnte nicht heilen.
Aik
?, versuchte sie es zaghaft.
Ich kann dich hören
, ertönte seine sanfte melodische Stimme in ihrem Kopf.
Kann ich heilen? Haben wir die Kräfte der Hexen?
Selbst wenn wir die Macht hätten, hilft sie dir nicht, da du sie nicht nutzen kannst, solange die Nuria in der Nähe sind,
belehrte er sie.
Das weiß ich selbst.
Sie bemühte sich, nicht verärgert zu wirken. Ich kann sie vielleicht heilen, bevor er zurück ist. Was ist das überhaupt?
Sie wandte sich erneut dem Wesen zu, das vor ihr lag. Es atmete schwer.
Auf jeden Fall kein Nuria,
erklärte Aik besserwisserisch.
Das ist mir auch klar. Sonst könnte ich nicht mit dir reden.
Aik lachte auf. Du brauchst keine Macht, um mit mir zu reden. Unsere Magie ist zwar gelähmt, wenn die Nuria in der Nähe sind, aber miteinander kommunizieren können wir eigentlich immer. Das findet in deinem Kopf statt. Dafür bedarf es keiner Magie. Zumindest nicht hier in Eldrid.
Das wusste ich nicht
, gab sie kleinlaut zu. Sie fühlte sich plötzlich nicht nur machtlos, sondern auch ahnungslos. Also gut, wenn es kein Nuria ist, was ist es dann für ein Wesen?
Dreh es um. Wir müssen es uns ansehen.
Zögerlich versuchte sie, das Wesen auf den Rücken zu drehen. Sie packte es an den Schultern und erschrak fast, wie leicht es war. Es hatte eine kindliche Statur und war sehr zierlich. Behutsam legte sie den Kopf auf dem blanken harten Boden ab und betrachtete das Gesicht. Es war von hellbraunem kurzem glattem Fell bedeckt und hatte menschliche Züge, Mund, Nase, Ohren und Augen. Auch der restliche Körper war von Fell bedeckt.
Ein Tier?
Sie hörte, wie ihr Schatten die Luft scharf einsog.
Nein
, erwiderte Aik mit ungewöhnlich trockener Stimme. Das ist ein Irrling.
Ein Irrling?
Ja.
Was sind das für Wesen?
Aik schwieg kurz. Irrlinge sind sehr besondere und seltene Wesen. Sie können Licht aufspüren, wo es eigentlich keines gibt.
Stotterte er etwa?
Licht aufspüren? Das magische Licht von Eldrid?
Korrekt.
Wie geht das? Licht, wo es keines gibt, und dann spüren sie es auf, und plötzlich gibt es dort doch Licht?
Aik druckste ein wenig herum. Sie sind außergewöhnliche Geschöpfe. Sie erschaffen quasi das Licht.
Ludmilla schnappte nach Luft. Sie kniete immer noch neben dem behaarten Wesen und betrachtete es neugierig, während es flach atmete. Die Augen waren weiterhin geschlossen. Wie geht das? Ich habe es immer so verstanden, dass das magische Licht einfach da ist und von seinen Wesen erhalten, gepflegt und genährt wird. Sie sind dafür verantwortlich. Wie kann es da ein Wesen geben, das das Licht erschaffen kann?
Erschaffen ist vielleicht der falsche Ausdruck. Irrlinge können aus einer winzigen Menge Licht, schon aus einem Funken magischen Lichts, eine große Menge erzeugen.
Ludmilla erstarrte. Das war fantastisch und vielleicht die Rettung für alle schattenlosen Wesen. Gibt es viele von ihnen? Und in welchem Teil von Eldrid leben sie?
Aik schwieg erneut. Soviel ich weiß, existiert nur eine Handvoll von ihnen. Es gibt viele Geschichten und Legenden über sie. Nur einer deiner Vorfahren ist einem solchen Geschöpf begegnet, daher weiß ich von ihrer Existenz. Sie sind sehr selten und verstecken sich gut, da sie nicht benutzt werden wollen. Es gibt eine Legende, die besagt, dass sie von den Lichtgeistern abstammen und den Tod bringen, wenn man sie anfasst oder ihnen in die Augen blickt. Das stimmt nur nicht. Dein Vorfahre hat einem dieser Kreaturen in die Augen geschaut und die Hand geschüttelt und ist nicht gestorben. Du brauchst also keine Angst zu haben.
Ich habe keine Angst vor diesem Wesen, schau doch nur, es ist halb tot
, murrte Ludmilla verdrossen und betrachtete den Irrling genauer. Es war nur sehr spärlich mit einem kurzen Hemd und einer Hose bekleidet. Die Ärmel und Hosenbeine waren zu kurz, als wäre das Wesen der Kleidung entwachsen.
Was meinst du, warum ist es hier? Was hat es im Land der Nuria zu suchen? Haben sie es vielleicht krank gemacht?
Aik schwieg, sie konnte sein Unbehagen spüren.
Verschweigst du mir etwas?
Ihr Schatten antwortete nicht, sondern er brummte kurz etwas vor sich hin, das sie nicht verstand.
Noch bevor sie weiter mit ihm diskutieren konnte, betrat der Nuria wieder die Höhle. Schnell erhob sie sich und trat einen Schritt zurück. Er trug einen ledernen Beutel in seiner behandschuhten Hand.
Und jetzt?
Panik ergriff sie.
Sag, dass es nicht deiner ist. Versuche, Zeit zu schinden
, zischte Aik.
»Das sind nicht meine Kräuter.« Sie musste sich beherrschen, um nicht zu stottern, so aufgeregt war sie. »Ich kann es versuchen, aber ich benötige m-e-i-n-e Kräuter.« Sie blickte dem Nuria fest in die Augen und nahm ihren gesamten Mut zusammen. »Du blockierst meine Macht. Ich bin eine junge Hexe und ungeübt in der Heilung. Ich weiß nicht, ob ich es heilen kann. Das ist bei diesen Wesen schwierig.«
Er zuckte zusammen. »Du weißt, was es ist?«
Blitzschnell überlegte sie. »Es ist ein Kobold, ein Seltener.«
Er musterte sie kritisch und ein Lächeln umspielte seine feuerroten Lippen. »Du lügst«, stellte er trocken fest.
Sie hob die Schultern und beschloss, in die Offensive zu gehen. »Was erwartest du von mir? Du entführst mich und erwartest, dass ich ein Wesen heile, das ich noch nie zuvor gesehen habe. Ich bin unerfahren in der Heilung. Und dann sagst du mir auch noch, dass ich diese Kreatur nicht anfassen und ihm nicht in die Augen sehen soll.«
Er nickte erst zustimmend und polterte dann los. »Belehre mich nicht. Wenn du es nicht heilen kannst, dann haben wir keine weitere Verwendung für dich.«
Ludmilla blickte eingeschüchtert zu Boden. »Ich versuche es«, beteuerte sie, während ihr Herz ihr fast bis zum Hals schlug. »Vielleicht schaffe ich es. Gib mir eine Chance. Bitte.«
Der Nuria blickte mit flammenden Augen auf sie herunter. »Also gut, aber du wirst die Kräuter verwenden, die ich dir gebracht habe.«
Sie nickte unterwürfig. »Ja, ist gut. Ich versuche es. Danke für die Kräuter.«
Der Nuria brummte, dann sagte er: »Ich werde kurz die Höhle verlassen. Das wird dir reichen, um festzustellen, was du brauchst und ob deine Künste ausreichen.«
Wieder nickte sie. Tränen standen in ihren Augen.
Als der Nuria die Höhle verlassen hatte, wandte sie sich an ihren Schatten. »Was muss ich tun? Sag mir einfach, was ich tun kann. Ich muss jetzt einen kleinen Erfolg erzielen. Wir müssen diesen Irrling retten und dann hier rausschaffen. Er könnte ganz Eldrid vor der Dunkelheit retten.« Sie hatte vergessen, in Gedanken mit Aik zu sprechen, so aufgeregt war sie.
Atme durch, Ludmilla
, ertönte es in ihrem Kopf. Die Macht der Hexen wird dir nicht helfen, da du ihr Wissen nicht hast, aber du kannst heilen.
Ludmilla zuckte zusammen. Und das sagst du mir erst jetzt?
Ich konnte nicht ahnen, dass du ihn davon überzeugst, die Höhle zu verlassen.
Sie atmete erleichtert auf. Sie hatte die Macht eines Heilers. Teilst du sie mit mir?
Aik lachte auf. Seine Stimme war warm und dunkel, jedoch meinte sie, eine gewisse Verbitterung darin zu erkennen. Ich brauche keine Macht mit dir zu teilen. Du nimmst sie dir, wann immer es dir beliebt. Ich habe darauf keinen Einfluss.
Ludmilla zuckte zusammen, als sie das hörte. Sie hatte das schon bei dem Erwecken von Nouk gespürt, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollte. Das machte ihr Angst, und sie fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, so viele unbekannte Mächte in sich zu tragen, von denen sie nichts wusste. Außerdem hatte sie sich an ihren Schatten gewöhnt. Er war ein Vertrauter für sie. Sie war sich zwar nicht immer sicher, ob er ihr helfen würde, aber wenn es darauf ankam, hatte sie sich auf ihn verlassen können. Fast immer zumindest.
Ich weiß nicht, welche Mächte wir haben und welche nicht. Um sie einzusetzen, muss ich das wissen
, konterte sie. Also muss ich dich immer noch fragen, auch wenn ich deine Erlaubnis nicht mehr brauche.
Ihr Schatten brummte etwas Unverständliches. Du schuldest mir noch eine Erklärung
, tönte er. Wie hast du das mit Nouk gemacht?
Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Ich kann es dir auch nicht genau sagen. Ich weiß nicht, wie ich das gemacht habe. Ich erkläre es dir später gerne nochmal,
erwiderte sie und konzentrierte sich auf ihre Fähigkeiten als Heilerin.
Sie hielt ihre Hände über den Körper des Irrlings und versuchte, all ihre Magie hineinzulegen.
Du musst die Hände schon auflegen
, ertönte es überheblich in ihrem Kopf.
Genervt rollte sie mit den Augen und legte die Hände vorsichtig auf dem Körper ab. Als sie keine Energie verspürte, zog sie die Handschuhe aus. Behutsam und fast zögerlich berührte sie den behaarten Körper. Das Fell war weich wie das eines Welpen. Sie spürte sofort die Energie des Wesens. Sie war schwach, aber sie war da. Ludmilla konzentrierte sich mit aller Kraft darauf und versuchte, ihre Energie in das Wesen hinein zu lenken. Sie wollte es um jeden Preis heilen. Seinetwillen und ihretwillen. Der Irrling bewegte sich jedoch nicht. Als Ludmilla Schritte aus dem Höhleneingang hörte, ließ sie die Hände schnell sinken, stand auf und trat zurück. Sie schnappte sich den Beutel mit den Kräutern und wühlte darin herum. In diesem Moment bog der Nuria um die Ecke. Er blickte Ludmilla scharf an, dann wanderte sein Blick auf ihre Hände und auf die Handschuhe, die neben dem Irrling lagen.
»Ich kann mit den Dingern die Kräuter nicht anrühren«, erklärte sie schnell. »Ich denke, dass ich das Wesen heilen kann, aber ich benötige mehr Zeit. Bekomme ich mehr Zeit?«
Von ihrer Offensive schien der Nuria überrumpelt zu sein. Er strich sich verlegen über den Kopf und Nacken, wobei seine langen Haare leise vom Feuer knisterten. »Mehr Zeit?«, murmelte er. »Wir haben keine Zeit mehr. Wir brauchen es.«
»Nur ein paar Stunden«, bat sie nachdrücklich. »Ich kann das.«
Er seufzte schwer und kleine Flammenzungen lösten sich von seinem Körper. »Das geht nicht. Sie erwarten, dass ich ihnen berichte, ob du erfolgreich warst, und wenn du es warst, dann wollen sie es sehen.«
»Du kannst ihnen doch sagen, dass es zu schwach ist. Ich habe es fast geschafft. Ich verspreche es dir.«
Der Nuria seufzte. »Ich gebe dir noch ein wenig Zeit, jedoch nicht so viel, wie du denkst oder dir wünschst. Also beeile dich besser.« Mit diesen Worten verließ er die Höhle.
Ludmilla beugte sich erneut zu dem Wesen hinab. Ihre Hände fingen an zu glühen, und noch bevor sie sie auflegen konnte, schlug der Irrling die Augen auf. Eisblaue und gleißend hell starrten sie sie an. Ludmilla fuhr zurück.
»Du bist wach«, brach es ungewollt aus ihr heraus.
»Verschwende nicht weiter deine Energie«, hauchte das Wesen. Seine Stimme war hoch und dünn, und es war, als sänge es beim Sprechen. »Es gibt nichts zu heilen. Ich bin schwach und werde den Nuria nicht helfen. Selbst wenn ich es wollte.«
Ludmilla fing an zu zittern und erhob erneut ihre Hände. Sie wollte unbedingt helfen. Mit einer blitzschnellen Bewegung krallten sich die behaarten Finger um ihr Handgelenk.
»Lass das, hatte ich dir gesagt«, fauchte es.
Die Finger gruben sich tief in ihre Hand, so dass Ludmilla zurückschreckte. Sie zog an ihrer Hand, aber der Griff ließ sich nicht lösen.
»Warum darf ich dir nicht helfen? Ich rette mich damit auch«, presste sie mühsam hervor.
Auf dem behaarten Gesicht erschien ein fratzenhaftes Grinsen. »Wir dürfen uns beide nicht retten. Wir müssen uns opfern. Sonst bekommen sie, was sie wollen, und das würde der Untergang für Eldrid bedeuten.«
»Wie meinst du das?«
»Du bist ein unwissendes Menschenmädchen, aber du hast einen sehr mächtigen Schatten mitgebracht.« Fast liebevoll blickte es an ihr herunter und betrachtete Aik, wie er regungslos auf dem Boden verharrte. »Um den solltest du dir mehr Gedanken machen.«
»Du weißt nicht, wie wissend ich bin«, presste Ludmilla hervor, während sie versuchte, den Griff des Wesens zu lockern. Ihr Blick blieb an den eisigen Augen hängen. Sie starrten ins Leere, als wäre das Leben in ihnen bereits erloschen. Ein scharfer Atemzug erinnerte sie daran, dass dem jedoch nicht so war.
»Du kannst heilen«, brachte es mühsam hervor. »Und du bist mächtig.« Es lachte schnarrend auf. »Die Frage ist nur, ob du weißt, wie sehr.«
Langsam lockerte es seinen Griff. Ludmilla blickte in das behaarte Gesicht. Sie erkannte eine spitze kleine Nase, hohe Wangenknochen und einen breiten Mund mit feinen Lippen.
»Sag mir, warum du nicht möchtest, dass ich dich heile.« Als das Wesen nicht antwortete, setzte sie nach: »Was sollst du für die Nuria tun?«
»Ich soll den Bann der Unsichtbaren brechen. Sie wollen mich an die Grenze bringen. Dort kann ich so viel Licht finden, dass ich eine Explosion herbeiführe. Diese Explosion wäre so heftig, dass der Schutzwall der Unsichtbaren bricht.«
»Ilios«, flüsterte Ludmilla entsetzt.
Das Wesen nickte. »Ilios.«
»Das darfst du nicht zulassen«, entfuhr es ihr hitzig.
Der Irrling fing an zu lächeln. »Doch nicht so unwissend, Menschenmädchen. Nein, das darf ich nicht zulassen. Es ist schlimm genug, dass sie von der Explosion wissen.«
»Wie meinst du das?«
»Irrlinge wie ich führen bei zu viel Licht Explosionen herbei. Wir spüren Licht auf, um es zu vermehren. Ist zu viel Licht vorhanden, können wir es nicht kontrollieren, und es kommt zu einer heftigen Explosion.«
In diesem Moment blieb der Blick des Irrlings an Ludmillas Kettenanhänger hängen und sein Lächeln erstarrte: das Herz.
»Ich kann es sehen. Es ist eingesperrt, ich muss es befreien«, stammelte es und streckte seine behaarten Finger nach dem Anhänger aus.
Ludmilla schlug die Hand instinktiv weg. »Nein«, fauchte sie und dachte an ihre Freunde, die das Licht aus dem Anhänger vielleicht noch gebrauchen könnten.
»Ich zerstöre es nicht«, wisperte der Irrling. »Ich vervielfache es. Es wird dir guttun.«
Ludmilla hielt inne und blickte das Wesen an. »Ich brauche das Licht nicht. Siehst du das nicht? Ich bin kein Wesen von Eldrid, ich bin ein Mensch.«
Das Geschöpf wich zurück und zischte etwas Unverständliches. Sein Gesicht verzog sich wieder zu einer Fratze.
Es ist bösartig
, Aik
, durchfuhr es Ludmilla.
Nein, ist es nicht
, hörte sie ihn. Es ist seine Natur. Irrlinge können nicht anders. Wenn sie unterdrücktes Licht entdecken, wollen sie es vermehren.
»Aber … aber ich kann es vervielfachen. Es ist ganz einfach«, wisperte das Geschöpf.
»Hör auf«, zischte Ludmilla. »Ich brauche dein Licht nicht, und du bekommst es nicht«. Sie umfasste ihren Anhänger und umschloss ihn mit ihrer Faust. »Lass uns lieber überlegen, wie wir hier rauskommen.«
Der Irrling starrte immer noch auf den Anhänger, und eine dunkle Flüssigkeit tropfte aus seinem Mund. Doch dann schien er sich wieder zu fangen. »Wir kommen hier nicht raus. Nicht lebend«, erwiderte es knapp. »Vielleicht findest du einen Weg, für mich gibt es keinen Weg.«
Nervös blickte Ludmilla zum Höhleneingang. Ihr Herz trommelte gegen ihre Brust. Sie brauchte dringend eine Idee.