Vierundzwanzigstes Kapitel
Inaki, der Nuria
Schritte hallten im Höhleneingang. Ludmilla hatte keine Zeit mehr, sich etwas auszudenken. Sie kamen und erwarteten einen geheilten Irrling. Sie stand auf und stellte sich schützend vor das Wesen, das immer noch am Boden lag.
Dieses Mal kam der Nuria nicht allein. Er hatte zwei weitere mitgebracht. Aufrecht, stolz und brennend gingen sie hinter ihm her. Die Statur der Nuria war komplett menschlich, sie trugen kuttenartige Gewänder, die Ludmilla an asiatische Kämpfer erinnerte. Meist waren sie schmal und hoch gewachsen, hatten mandelförmige Augen und dünne Lippen. Ihre Haare waren pechschwarz und fast bodenlang. Die beiden Neuen, die nun die Höhle betraten, hatten ihre Haare zu dicken Zöpfen geflochten, die wie brennende Peitschen über dem Boden schwangen und dabei Funkenregen in alle Richtungen verteilten. Auf dem Rest der Körper loderten kleine Flammen, und die Haut glühte wie glimmende Asche. Kritisch beäugten die drei Nuria Ludmilla und das Wesen. Es war offensichtlich, dass sich der Irrling bewegt hatte.
»Es war kurz wach«, erklärte sie schnell, als sie die Blicke wahrnahm. »Es ist sehr schwach, aber ich konnte es aufwecken. Ich kann es heilen, jedoch brauche ich dafür viel mehr Zeit, und es braucht Ruhe, um sich zu erholen.«
Die Blicke ruhten auf ihr und das Feuer knisterte von allen Seiten.
»Ihr müsst etwas Geduld mitbringen«, fügte sie hastig hinzu. »Es ist bereit zu sterben, aber ich kann helfen und es heilen.«
Zischende Laute unterbrachen sie. Ein vierter Nuria betrat die Höhle und schob die anderen beiseite. Er war kleiner, dafür breiter gebaut und von imposanter Erscheinung. Sie konnte nicht sofort ausmachen, woran das lag. Vielleicht war es die Reaktion der anderen oder die Art, wie er ging. Sein Feuer hatte einen helleren Schein, und die Glut, die an manchen Teilen seines Körpers glomm, war intensiver als bei den anderen Nuria.
»Wir geben dir nicht mehr Zeit, Hexe«, herrschte er sie an. »Entweder du heilst es jetzt oder wir haben keine Verwendung mehr für dich.«
»So schnell geht das nicht«, flüsterte sie verzweifelt. »Ich versichere, dass ich helfen kann.«
Der kleinere Nuria ließ sich davon nicht beeindrucken und packte sie am Arm. Sofort zischte ihre Haut auf und Ludmilla schrie. Es war derselbe Schmerz, den sie bei der Verbrennung durch den Feuerschlucker auf dem Marktplatz von Fluar durchfahren hatte.
»Hari!«, meldete sich der zu Wort, auf dessen Pferd sie gesessen hatte. »Wir brauchen sie vielleicht noch, verbrenne sie nicht.«
Brummend ließ Hari ihren Arm los. Sie presste ihre Hand darauf, während ihr Tränen die Wangen hinunterliefen. Die Haut brannte, als ob sie in Flammen stünde. Sie fing an zu zittern und sah sich hilfesuchend um, aber wer sollte ihr schon helfen?
Du kannst dich selbst heilen, sobald sie nicht in der Nähe sind , hörte sie Aik in ihrem Kopf flüstern. Er sprach fast sorgenvoll mit ihr. Etwas schwang in seiner Stimme mit, das sie bei ihm bisher nicht gehört hatte.
Sie nickte tapfer vor sich hin und schluckte die Tränen hinunter. Im nächsten Moment wurde sie aus der Höhle gestoßen und trat in die dunkle trostlose Landschaft, die von blanken kugelförmigen Hügeln übersäht war. Der Himmel war schwarz und von tiefroten Wolken durchzogen. Von einem Stoß in den Rücken fiel sie auf die Knie. Sie hörte die Nuria diskutieren, verstand jedoch nichts von dem, was sie sprachen. Einer von ihnen deutete immer wieder an den Horizont. Der nächste gestikulierte in die Richtung der Höhle. Streit brach aus. Nervös blickte sie sich um, erkannte aber keine Möglichkeit zur Flucht. Sie konnte nicht schnell rennen oder sich unsichtbar machen. Ihre Mächte waren blockiert. Außerdem hatte sie Angst vor diesen Wesen. Sie konnten sie mit ein paar Berührungen zum Brennen bringen. Daher würde sie es nicht wagen, zu fliehen.
Abrupt endete der Streit. Mit einem Stock wurde sie an den nächsten Steinhügel gestoßen, wo man ihr bedeutete, sich hinzusetzen. Offenbar waren sie sich nicht einig, was sie mit ihr machen sollten. Zwei der Nuria liefen in die Höhle hinein und kamen mit einem Sack über der Schulter wieder hinaus. Der Irrling. Wo brachten sie ihn hin? Als Ludmilla Anstalten machte, sich zu erheben, fauchte sie einer von ihnen an und stieß mit dem Stock nach ihr.
Neben ihr ertönte eine züngelnde Stimme: »Wage es nicht. Sie sind aufgebracht genug. Mische dich am besten nicht ein.« Es war der Nuria, auf dessen Pferd sie geritten war. Er hatte sich neben sie gesetzt, ohne dass sie es bemerkt hatte. Seine Augen leuchteten tiefrot, und sein gesamter Körper glühte, während er sie mit einer behandschuhten Hand auf den Boden drückte.
»Du solltest mir vertrauen«, raunte er ihr zu. »Ich weiß, wer du bist, und du willst doch nicht, dass es die anderen auch erfahren.«
Ludmilla fuhr herum. »Was soll das heißen?«
»Du bist keine Hexe«, flüsterte er. »Und du hast einen sehr mächtigen Schatten.«
Ihr Herz fing an, heftig zu schlagen, und sie schluckte hart. »Und was ist diese Information euch Nuria wert? Interessiert ihr euch für mächtige Schatten?«
»Wir nicht.« Er lachte leise auf. Es klang rau und passte nicht zu seiner sonst so zischenden Schlangenstimme. »Diese lebendigen Schatten in dem Dorf, das uns stört, die interessieren sich sogar sehr für Wesen mit mächtigen Schatten.« Er machte eine kurze Pause und ergänzte dann: »Oder für Menschen mit äußerst mächtigen Schatten.«
Ihr durchfuhr ein unangenehmer Schauer. Sie wagte nicht, ihn anzuschauen. »Wie viel wisst ihr über die lebendigen Schatten?«
Er zögerte einen Moment. »Nicht viel. Nur, dass sie ihresgleichen suchen.« Wieder hielt er kurz inne. »Und dass sie böse sind. Sehr böse.«
Sie nickte. »Und was weißt du über mich?« Ihr Mund fühlte sich trocken an.
»Du bist das meistgesuchte Menschenmädchen in Eldrid. Und wir haben dich gefangen. Durch einen dummen Zufall.«
Ludmilla bemerkte, wie er immer wieder zu den anderen hinüberblickte. Er hatte nicht die Absicht, sein Wissen zu teilen. Dennoch konnte sie ihren Herzschlag kaum kontrollieren.
»Was hast du jetzt vor?«, keuchte sie.
Er zuckte unbedarft mit den Schultern. »Das weiß ich noch nicht. Auf jeden Fall werde ich es vorerst für mich behalten.« Er stand auf.
»Wenn du es weißt, dann können es die anderen Nuria vielleicht auch herausfinden«, flüsterte sie aufgeregt.
Der Nuria blitzte sie an. »Das bezweifle ich.«
Mit diesen Worten ließ er sie sitzen und ging zu den anderen hinüber.
Es versammelten sich immer mehr Nuria auf dem Platz vor der Höhle und umringten den Irrling, der im Sack in ihrer Mitte auf dem Boden lag. Ludmilla konnte nicht erkennen, ob der Sack am oberen Ende offen war und das Wesen Luft bekam, aber sie sah, wie er sich regelmäßig hob und senkte. Es lebte noch.
Dann kam Bewegung in die Gruppe, und der Nuria, mit dem sie gesprochen hatte, kam auf sie zu. Er griff nach ihrer Hand und zog sie wortlos auf die Füße. Dann warf er ihr ein paar Handschuhe und einen dicken Leinensack vor die Füße.
»Anziehen«, befahl er mit lauter Stimme.
Sie bückte sich und zog die Handschuhe über. Den Sack warf sie sich über den Kopf und bemerkte dabei, dass das Ende abgeschnitten war, so dass er auf ihren Schultern hängenblieb. Er bildete einen Schutz für ihren gesamten Oberkörper. Der Nuria nickte ihr zufrieden zu und schob sie dann vor sich her zu seinem Pferd.
»Wir brechen auf«, rief er in die Runde. Er legte einen weiteren Sack über den Rücken des Pferdes, schwang sich selbst hinauf und zog dann Ludmilla hinter sich. Der Sack war weit genug, so dass sie unversehrt auf dem Tier landete.
»Lehn dich an mich«, raunte er ihr zu. »Ich habe extra ein Hemd angezogen, das dich nicht verbrennen wird. Nur halte dich von meinen Haaren fern.«
Erst zierte sie sich, doch kaum hatte sich das Pferd in Bewegung gesetzt, musste sie Halt finden und lehnte sich an ihn. Sein Körper fühlte sich erstaunlicherweise nicht brennend heiß an. Das Pferd gewann schnell an Geschwindigkeit, und so schossen sie über die Ebene des Landes, das so uneinladend war wie zuvor.
»Wohin bringst du mich?«, wagte sie, nach einer Weile zu fragen. Er antwortete nicht. »Wie heißt du?«, fragte sie weiter. Es konnte nicht schaden, eine persönliche Beziehung zu ihm aufzubauen. »Du weißt, wie ich heiße«, plapperte sie, obwohl ihr nicht danach war. Sie spürte, wie er aufseufzte.
»Ich heiße Inaki, und wir bringen dich und das Wesen zum Dorf der lebendigen Schatten. Wir geben dir eine letzte Chance. Solltest du versagen, jagen dich meine Mitbrüder in das Dorf. Dabei wissen sie noch nicht, wer du bist. Wenn sie das wüssten, würde das vielleicht einiges ändern.«
»Warum wollen sie mich in das Dorf jagen?«
»Weil du einen Schatten hast, und wir opfern den lebendigen Schatten regelmäßig Schatten, damit sie uns nicht bestehlen.«
»Ihr habt Angst vor ihnen«, stellte sie erstaunt fest.
»Ja, natürlich. Es sind lebendige Schatten, und sie stehlen Schatten. Auch wir sind auf unsere Schatten angewiesen und wollen nicht bestohlen werden.«
Das leuchtete ihr ein, aber das Opfer verstand sie nicht. »Ihr seid nicht besser als sie, wenn ihr ihnen Schatten bringt«, zischte sie unbeherrscht.
Inaki lachte bitter auf. »Das sagt das Menschenmädchen, das von den Schattendiebinnen abstammt.«
Einer der Nuria, die vor ihnen über die Ebene jagte, drehte sich um. »Was quatschst du mit ihr?«, rief er Inaki zu.
»Dass sie die Klappe halten soll«, erwiderte er barsch. »Genauso wie du.«
Er trieb sein Pferd an, so dass es an den anderen Reitern vorbeischoss, wobei der Schweif noch heftiger und höher peitschte. Ludmilla klammerte sich unwillkürlich fester an ihren Reiter. Was führte er im Schilde? Warum verriet er sie nicht? Und was würde sich ändern, wenn die anderen Nuria wüssten, wer sie war?
»Das wirst du aber nicht zulassen, oder?«, flüsterte sie nach einer Weile.
»Was?«, seine Stimme klang barsch.
»Dass ihr mich an die lebendigen Schatten ausliefert.«
Er lachte auf. »Für wen hältst du mich? Ich bin nicht Hari. Hari ist unser Oberhaupt. Er entscheidet das. Ich entscheide nur, welche Informationen ich teile und welche nicht.«
Sie presste die Lippen zusammen und hoffte inständig, dass Lando und Eneas ihnen längst auf den Fersen waren. Sie hatte sich mehrfach umgeschaut und die Ebene abgesucht, aber nichts deutete darauf hin, dass ihre Freunde in der Nähe waren. Dafür erkannte sie nach einem stundenlangen Ritt die schwarzen Zelte am Horizont. Sie war wieder dort angelangt, wo ihre Reise in diesem Teil von Eldrid begonnen hatte: im Schattendorf.