Fünfundzwanzigstes Kapitel
Die Suche nach Mainart
Mit wunden Füßen und müden Beinen erreichten Bodan und Desmond schließlich den Ausgang des Gebirges. Bodan sog voller Gier die Luft ein, als er aus dem Gebirgsauslass trat, und verschluckte sich fast. Unter ihm lag das Dorf der schattenlosen Wesen. Es erstreckte sich über den gesamten Fuß des Gebirges, und niemals hätte er sich ausgemalt, dass es so groß war. Die Dunkelheit, die über diesem Teil von Eldrid herrschte, war erdrückend. Bodan hatte auf ein wenig Licht gehofft, aber das blieb ihm verwehrt. Er atmete tief durch, noch immer mit seinem Schicksal hadernd. Und nun sollte er auch noch Mainart gegenübertreten. Dem Magier, dem er noch nie vertrauen konnte, der ihm sein Leben lang unheimlich gewesen war. Seine Methoden waren fragwürdig, ebenso seine Einstellungen. Bodan hatte nie ein gutes Gefühl bei diesem Magier gehabt, auch wenn er mit seiner Meinung allein dastand. Mainart war geschätzt und angesehen, in allen Teilen von Eldrid, selbst jetzt, als Schattenloser.
Er unterdrückte ein Seufzen und blickte zu Desmond, der lächelnd neben ihm stand. Er war so zuversichtlich und ruhte in sich selbst, so dass sich Bodan seit ihrer gemeinsamen Flucht öfter gefragt hatte, wie er das machte. Woher nahm er dieses Vertrauen, dass alles gut werden würde? Denn das hatte Desmond immer wieder betont. »Es wird alles gut, Bodan«, hatte er auf ihrem gemeinsamen Weg so oft gesagt, dass Bodan aufgehört hatte, es zu zählen. Wie konnte er sich da so sicher sein? Insbesondere, wenn diese alberne Legende tatsächlich wahr werden würde, dann war Eldrid dem Untergang geweiht, und Desmond spazierte neben ihm her und hatte stets ein Lächeln auf dem Gesicht.
Ihm war dagegen nicht zum Lächeln zumute. Er fühlte sich miserabler als je zuvor. Alles tat ihm weh, selbst die Rippen, die er sich in dem Gebirgsspalt in der Gefangenschaft bei den Berggeistern gebrochen hatte, schmerzten wieder, und er fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, das Dorf der schattenlosen Wesen zu betreten. Bodan war noch nicht soweit. Auch wenn er keinen Schatten mehr hatte, konnte er sich noch nicht zu dieser Niederlage bekennen. Er schämte sich zu sehr. Abermals ließ er den Blick schweifen. Was er sah, machte ihm wenig Mut. Hier sollte er nun den Rest seines unsterblichen Lebens fristen? Ohne seinen Spiegel? Ohne seinen Schatten? Ein Schauer durchfuhr seinen gesamten Körper, und ihm wurde übel.
»Komm«, rief Desmond übermütig, und er sah dabei fast genauso aus wie der junge Mann, dem Bodan mit Hilfe der Hexe ein Leben in Eldrid ermöglicht hatte.
»Wir suchen Mainart. Wir sollten jemanden fragen, um die Suche abzukürzen. Sonst dauert es Tage, bis wir das ganze Dorf durchkämmt haben.«
Bodan lief kopfschüttelnd hinterher. Desmonds Enthusiasmus war trotz der Trostlosigkeit dieses Ortes nicht zu bremsen. Die erstbeste umhangverhüllte Gestalt, der sie begegneten, hielt er an und fragte nach Mainart. Die Antwort war ein Brummen, wovon sich sein Begleiter nicht beirren ließ.
»Irgendjemand wird uns schon helfen«, rief er übermütig und beschleunigte seinen Schritt.
Bodan trottete brav hinterher und widersprach nicht. Er wünschte sich die Begegnung mit Mainart zwar nicht herbei, aber er wünschte sich einen Ort zum Ausruhen und etwas zu Essen. Er liebte es zu essen und genoss die Gesellschaft, auch wenn er nicht darauf angewiesen war. Schmerzerfüllt dachte er darüber nach, dass er auch diese liebgewonnene Angewohnheit über Bord werfen musste. Hier, in der Dunkelheit, gab es kaum etwas Essbares, und sicherlich trachteten die Schattenlosen nur nach einem: dem Licht. Bodan hatte davon gehört, dass sie Licht zum Überleben bekamen. Gerade genug, um am Leben zu bleiben. Wer dafür sorgte, wusste er nicht. Es kam eigentlich nur Zamir in Frage, allerdings war ihm nicht klar, warum er sie nährte. Gedankenversunken lief er fast in Desmond hinein, der eine weitere Gestalt anhielt, um sie nach Mainart zu fragen. Dieses Mal hatte er Glück.
»Ihr seid neu hier«, brummte das Wesen.
Desmond nickte eifrig. »Und wie du sehen kannst, ganz ohne Schatten«, erklärte er fröhlich.
Das Wesen reagierte nicht darauf, sondern machte kehrt und gab ihnen mit einer Fingerbewegung zu verstehen, ihm zu folgen. Sie wechselten einen kurzen Blick, dann lief Desmond auch schon hinter dem Wesen her. Er sprang regelrecht die steilen Wege hinab und schien nichts Bedrückendes an dem Dorf zu finden. An einer Abbiegung wartete er, so dass Bodan ihn am Handgelenk packen konnte.
»Ein bisschen mehr Respekt, Desmond, bitte«, beschwor er ihn. »Die Wesen sind nicht freiwillig hier, und deine gute Laune könnte sie beleidigen. Nur weil du offenbar nicht vorhast, den Rest deines Lebens hier zu verbringen, gilt das nicht zwangsläufig auch für die anderen Schattenlosen. Sie haben sich hierher verbannt, weil das unsere Regeln so vorsehen. Gerne haben sie das sicherlich nicht getan.«
Desmond nickte und wirkte dabei bestürzt. »Das müssen sie nicht, denn wenn ich recht habe und meine Theorie umsetzbar ist, dann können all diese Wesen bald wieder nach Hause.«
»Nach Hause?«, brach es ungläubig aus Bodan heraus. »Was hast du vor? Was für eine Theorie?«
Statt einer Antwort strahlte Desmond ihn an und folgte dann wieder dem Wesen, das sie durch das Dorf führte. Bodan blieb nichts anderes übrig, als hinterher zu trotten. Er konnte sich auf Desmonds Worte keinen Reim machen und war viel zu erschöpft, um seinen Theorien weitere Beachtung zu schenken. Er würde es sicherlich früh genug erfahren.
Das Wesen führte sie an den Rand des Ortes, unweit von der Moorebene, die das Dorf von dem mächtigen Wald von Eldrid trennte. Dort waren nur ein paar Zelte aufgestellt. Stumm deutete es auf eines, drehte sich um und verschwand. Desmond warf Bodan einen fragenden Blick zu, dieser zuckte mit den Schultern, und sie traten zögernd darauf zu.
»Hhhmm«, räusperte sich Desmond vor dem Eingang, erhielt jedoch keine Reaktion aus dem Inneren des Zeltes. »Dürfen wir eintreten?«, fragte er weiter.
Als sich nichts rührte, schob Bodan das Tuch zur Seite und trat in ein matt beleuchtetes Zelt ein. In der Mitte, um eine kleine Feuerstelle herum, saßen zwei Gestalten. Sie steckten die Köpfe zusammen, als die beiden eintraten, und fuhren dann erschrocken hoch.
Bodan hob beschwichtigend die Hände. »Verzeiht. Wir wollten euch nicht …«
»Was wollt ihr?«, unterbrach ihn eine hohe, helle Frauenstimme. Sie gehörte einer jungen Hexe mit ebenmäßigem fahlem Gesicht. Sie erhob sich. Als sie die beiden erblickte, leuchteten ihre Augen kurz auf.
»Schon wieder Neuankömmlinge. Kommt herein.« Sie winkte ihnen freundlich zu. »Wo kommt ihr her? Seit ihr schon lange unterwegs?«
Die zweite Gestalt verschwand eilig aus dem Zelt, während die Hexe die beiden auf eine Pritsche neben der Feuerstelle drückte und anfing, sie zu untersuchen. »Seid ihr durstig oder hungrig? Wir haben zwar kein Licht und nur ein paar Kräuter, die euch helfen können, den Hunger zu unterdrücken. Seid ihr verletzt?«
Desmond schüttelte so heftig den Kopf, dass die Pritsche wackelte.
»Uns fehlt nichts, vielen Dank. Wir suchen Mainart.«
Sie zog ihre Hand zurück, die gerade Bodans Kopf untersuchte. »Mainart?« Ihre Stimme klang skeptisch. »Was wollt ihr von ihm?«
»Zunächst einmal sind wir hier, weil wir kürzlich unsere Schatten verloren haben«, erklärte Bodan schnell. »Mein Freund hier, Desmond, hat es sich außerdem in den Kopf gesetzt, Mainart zu treffen.«
»Wie kommt ihr darauf, dass er hier ist?«, fragte sie weiter.
Desmond stutzte. »Er ist doch hier, oder?«
»Wer seid ihr?« Sie trat nun ein paar Schritte zurück. »Wer schickt euch?«
»Niemand«, beeilte sich Desmond zu versichern. »Ich möchte nur gern mit ihm sprechen. Ich bin ein Schattenloser und dazu noch ein Mensch. Mein Name ist Desmond. Niemand schickt mich. Ich bin aus freien Stücken hier. Das ist Bodan. Auch er ist erst seit Kurzem schattenlos. Er ist mein Freund und …« Er stockte kurz. »… mein Spiegelwächter.«
Die junge Hexe fuhr zurück. »Ein Spiegelwächter«, keuchte sie. Ihre Augen suchten den Boden ab, wo Bodans Schatten hätte liegen müssen. »Ist das wirklich wahr? Du hast deinen Schatten verloren? Machen sie denn vor nichts mehr Halt?«
Bodan blickte sie erstaunt an. »Ich habe meinen Schatten verloren. Godal hat ihn mir genommen«, erklärte er leise.
Sie legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. »Das ist ja fürchterlich. Ich kann es mir vorstellen. Bei mir war es nicht Godal …« Sie brach ab.
»Ich kann euch zu Mainart bringen, jedoch geht es ihm sehr schlecht. Er wurde gefoltert und ist in keiner guten Verfassung, aber wenn ein Spiegelwächter ihn sprechen möchte, so wird er bestimmt seine Kräfte mobilisieren. Da bin ich mir sicher. Folgt mir.«