Achtundzwanzigstes Kapitel
Die Explosion
Sie näherten sich dem Schattendorf aus einer anderen Richtung als die, in der Ludmilla und ihre Freunde es verlassen hatten. Breit und majestätisch lag es vor ihnen, die Zelte akkurat aneinander gereiht wie kleine Zinnsoldaten. Ludmilla dachte an ihre Landung aus dem Becken der Wahrheit und an das Gefühl, das sie bei dem ersten Anblick des Schattendorfs empfunden hatte: Abscheu und Angst. Maßlose Angst. Wieder bekam sie Zweifel an ihrem Vorhaben, dieser Welt zu helfen. Was konnte sie schon ausrichten? Nun, da sie von den Nuria entführt worden war und diese sie den lebendigen Schatten opfern würden, wäre ihre Reise bald zu Ende. Verzweifelt sann sie auf einen Ausweg.
Da fiel ihr Nouk ein. Wo war der kleine Kobolddrache? Er musste ihr folgen. Sie war seine Erweckerin. In der Höhle hatte er sich nicht zeigen können, ebenso wenig wie davor, aber nun musste er ganz in der Nähe sein und würde sie retten. Sie würde ihm befehlen, sie zu retten. Einen anderen Ausweg sah sie nicht. Nur wie? Immer wieder ertappte sie sich, wie sie den Himmel nach einem Zeichen von dem Kobolddrachen absuchte. Sie brauchte dringend einen Plan. Lando und Eneas konnten ohne Magie wenig gegen die Nuria ausrichten. Sie wog ihre Möglichkeiten ab: Sie hatte keine Magie, solange die Nuria sie umringten. Aik konnte zwar mit ihr reden, jedoch ebenfalls nicht helfen. Ihre Lage war aussichtslos, und dennoch erlosch dieses kleine Flämmchen an Hoffnung nicht in ihrem Kopf. Irgendwie würde sie dieser Gefangenschaft entkommen. Irgendwie würde sie es schaffen, dass sie sie nicht die lebendigen Schatten auslieferten. Irgendwie.
Inaki wandte seinen Kopf. »Was ist dir eingefallen?«, fragte er gelassen.
Sie schüttelte den Kopf. »Wie meinst du das?«
»Dein Herzschlag verlangsamt sich plötzlich und deine Aufregung schwindet. Dafür gibt es bestimmt einen Grund, und ich brenne darauf, ihn zu erfahren.«
Er lachte auf, seine Wortspielerei schien ihn zu amüsieren.
»Was ist?«, brüllte einer der Nuria, der gerade neben ihnen über die Ebene ritt.
»Nichts«, winkte Inaki ab. »Die Hexe hier ist anscheinend der Meinung, fliehen zu können.«
Ludmilla zuckte zusammen. Die Nuria um sie herum fingen an zu lachen, ein bösartiges, schallendes Gelächter, bis das Oberhaupt Hari die Hand hob und sofort alle verstummten. Er zügelte sein Pferd, und die übrigen verfielen ebenso wie seines in einen leichten Trab.
»Wir werden hier unser Lager aufschlagen. Das Dorf ist nicht weit, und wir sollten uns den Schatten noch nicht zeigen. Wir geben der Hexe eine letzte Chance. Dann können wir sie ihnen zum Fraß vorwerfen.«
Gelächter erhob sich erneut unter den Nuria. Sie zügelten ihre Pferde und bildeten einen Kreis an einer Stelle, an der die kugelförmigen Steine weiter auseinanderstanden, wie eine Art Lichtung in einem Wald.
Neben Ludmilla fiel ein Sack vom Pferd. Der Irrling! Wie gebannt starrte sie darauf. Sie fing wieder an zu zittern. Wo war Nouk? Wo waren Lando und Eneas? Und warum rührte sich der Irrling nicht? Der Sack, in dem das Wesen steckte, bewegte sich nicht. Kein Heben und Senken. Nichts.
Bitte, bitte, bitte, flehte sie in Gedanken. Du darfst noch nicht gestorben sein. Bitte nicht!
Inaki glitt vom Pferd und zog sie unsanft hinunter.
»Aua«, entfuhr es ihr, zum Glück nicht so laut, dass es die anderen Nuria gehört hätten. Jedenfalls hoffte sie das. Nervös blickte sie sich um. Inaki warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Halt dich zurück«, zischte er sie an. »Wenn du jetzt eine Szene machst, dann ziehen sie mich von dir ab, und ich bin der Einzige, der dir helfen kann.«
Grob presste er sie an sein Pferd, so dass der Sack von ihren Schultern rutschte und ihr Hoodie zu zischen begann. Sie zuckte zusammen und starrte in seine glühenden Augen.
»Du willst mir helfen?«, raunte sie ihm zu.
Er zog sie vom Pferd weg, und ein Grinsen huschte über sein von Feuer gezeichnetes Gesicht. »Was denkst du denn? Wenn es stimmt, was erzählt wird, bist du die einzige Chance, die Eldrid hat, diese Schatten wieder loszuwerden. Die werde ich doch nicht einfach verschenken.«
»Verschenken?«, entfuhr es ihr.
Nervös drehte er sich um, aber die anderen Nuria schienen ihr Getuschel nicht zu bemerken. »Geschenk, Opfer. Kommt doch aufs Gleiche raus, oder?«, gab er achselzuckend zurück. »Keine Sorge, ich werde das verhindern.«
»Warum sagst du ihnen nicht einfach, wer ich bin?«
Er warf ihr einen Blick zu, den sie nicht zu deuten wusste.
»Mein Volk hasst diese Schatten und ihr Dorf. Wir sind keine Anhänger von Zamir, aber wir verfolgen ein Ziel, das wir mit Zamir gemein haben: die Vernichtung von Ilios.«
»Zamir will das Licht vernichten. Wie könnt ihr euch sicher sein, dass der vor dem Land der Nuria halt machen wird?«
»Können wir nicht«, zischte er. »Deshalb helfe ich dir.«
»Was gibt es da zu tuscheln«, hörte sie eine Stimme hinter ihnen. Einer der Nuria kam herübergeschlendert und betrachtete Ludmilla neugierig.
»Sie ist nur etwas aufsässig. Das kennen wir ja schon von den Hexen«, erwiderte Inaki gelassen. Er zog sie mit seiner behandschuhten Hand zur Seite und stieß sie in die Richtung des Irrlings. Sie ließ sich neben dem Sack fallen, in dem das Wesen gefangen war. Was hatte dieser Nuria vor? Wie wollte er sie retten? Sie hatte keine andere Wahl, als ihm zu vertrauen, da er, realistisch gesehen, die einzige Chance war, die sie noch hatte, dem Schattendorf und den Nuria zu entkommen.
Ein rasselndes Geräusch unterbrach ihre Gedanken. Es kam aus dem Sack. Sie blickte sich kurz um, öffnete ihn vorsichtig und befreite einen Teil des Kopfes des Irrlings von dem dicken Tuch.
»Was tust du da?«, brüllte ein Nuria sie an.
»Ich verschaffe dem Wesen etwas Luft«, erklärte sie, wobei sie versuchte, unterwürfig zu klingen. »Ihr wollt doch nicht, dass es in diesem Sack erstickt, oder?«
Die Nuria sahen einander an und waren offenbar verblüfft.
»Dieses Wesen kann nicht ersticken, und es braucht keine Luft«, schnarrte da Haris Stimme in ihrem Rücken.
Sie ließ den Kopf gesenkt und wagte es nicht, ihn direkt anzuschauen.
»So, Hexe«, befahl er. »Du kannst es jetzt ein letztes Mal versuchen. Heile es!«
Noch bevor Ludmilla sich dem Irrling zuwenden konnte, kam plötzlich Bewegung in die Menge der umherstehenden Nuria. Einer von ihnen zerrte etwas hinter einem Steinhügel hervor. Sie erstarrte. Es war Vince!
Das Feuerwesen hatte den Taranee-Sprössling an den Haaren gepackt und schleifte ihn auf Hari zu.
»Nicht doch, nicht doch«, versuchte Vince zu beschwichtigen. Er hätte keine erbärmlichere Figur abgeben können. Seine gesamte Kleidung und auch sein Gesicht waren von Ruß bedeckt, selbst seine blonden Haare waren dunkel. Er schrie auf, als er begriff, dass seine Haare unter dem Griff des Nurias zu brennen begannen. Zu ihrem Erstaunen holte er aus und boxte dem Nuria in die Seite, so dass dieser seine Haare losließ. Vince stolperte nach vorne, fing sich und stand dann in der Mitte der Nuria, sein Blick auf Ludmilla geheftet.
»Sie«, schrie er, als wäre er von Sinnen. »Ich erhebe Anspruch auf sie. Sie gehört zu mir und ihr dürft ihr nichts antun.« Er atmete schwer und blickte wild in die Runde.
Die Nuria schienen überrascht von diesem Auftritt und betrachteten ihn voller Neugier. Dann brach Hari in schallendes Gelächter aus.
»Was ist das denn?«, brachte er mühsam hervor. »Solch ein Wesen habe ich noch nie gesehen. Und es scheint vollkommen ohne Macht zu sein.«
Die anderen Nuria stimmten in das Gelächter ein. Vince stand in deren Mitte und wischte sich die Haare aus dem Gesicht. Sein Blick ruhte auf Ludmilla, und er ließ sich nicht beirren.
»Ihr habt mich verstanden. Dieses …« – er suchte kurz nach dem richtigen Wort, und Ludmilla hob die Augenbraue vor Verwunderung über seinen Mut – »… Exemplar untersteht meiner alleinigen Herrschaft.« Vince schnaufte bestätigend. »Wenn ihr wollt, dass sie etwas für euch tut, dann müsst ihr erst mich fragen.« Zur Bekräftigung seiner Worte schlug er sich mit der Faust auf die Brust, wodurch er zu husten anfing.
Seine Worte hatte ihre Wirkung nicht verfehlt, jedoch nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte. Hari hielt sich den Bauch vor Lachen, und auch die anderen Nuria krümmten sich regelrecht. Nur Inaki blickte Ludmilla fragend an.
»Wer ist das?«, formten seine Lippen, und in seinen Augen meinte sie, Sorge zu erkennen.
Sie hob nur unbeholfen die Schultern. Was hätte sie erwidern sollen? Das ist Vince und er versucht vermutlich, mir zu helfen? Konnte sie sich da sicher sein? Vielleicht war das nur ein erneuter verzweifelter Versuch, Zamirs Aufgabe zu erfüllen, indem er sie aus den Fängen der Nuria befreite, um sie dann zu Zamir zu bringen? Sie sah eine kleine Chance, die in seinem Versuch steckte, egal mit welcher Intention er unternommen wurde. Sie versuchte zu improvisieren.
»Das stimmt«, erhob sie ihre Stimme. »Das ist mein Herr und Meister. Ein Hexer aus der Menschenwelt. Seine Magie ist mächtiger, als ihr es euch vorstellen könnt.«
Vince konnte seine Verwunderung kaum verbergen; glücklicherweise starrten die Feuerwesen Ludmilla an. Sie schienen für einen Moment aus dem Konzept gebracht.
»Genau. Ich bin ihr Herr und Meister«, wiederholte er und streckte seinen Rücken durch.
Hari schien dies jedoch nicht im Geringsten zu beeindrucken.
»Das interessiert mich nicht«, brüllte er Vince an. »Sie ist unsere Gefangene, und sie soll dieses Wesen heilen. Wenn du ein so mächtiger Hexer bist, kannst du uns ebenfalls behilflich sein. Deine Kleine hier hat nur noch einen Versuch, dann werden wir sie den Schatten opfern. Hilf ihr oder versuche es selbst, ansonsten darfst du sie gern begleiten.« An seine Gefolgschaft gerichtet sprach er: »Das wird ein regelrechtes Festmahl für die Schatten. Gleich zwei, wobei der Schatten dieses sogenannten Hexenmeisters noch nicht einmal zu erkennen ist.«
»Wenn sie heilen soll, muss ich es ihr erst befehlen«, unterbrach ihn Vince.
Hari starrte ihn verdutzt an und schritt langsam mit peitschenden Haarschweif, der vor Feuer nur so sprühte, auf ihn zu.
»Du bist ein Meister, und ich bin das Oberhaupt dieses Stammes. Zolle mir gefälligst Respekt«, brüllte er und kam Vince dabei gefährlich nahe. »Deine kleine Hexe untersteht unseren Anweisungen. Du hast wohl vergessen, dass ihr keine Mächte in unserer Gegenwart habt, also hast du ihr auch nichts zu befehlen. Was für ein Hexenmeister bist du, der seiner Hexe noch nicht einmal die grundlegende Kräuterkunde beibringt? Sie sagte, dass sie ungeübt sei. Sie ist alt genug für diese Kunde, und das ist eine Schande für euer Volk. Und nun lass sie das Wesen heilen oder es wenigstens versuchen.«
Mit diesen Worten stieß er Vince in die Seite, so dass dieser taumelte und direkt neben Ludmilla auf den harten Boden fiel. Verzweifelt schüttelte sie den Kopf. Noch eine Hürde mehr, denn nun musste sie wohl oder übel nicht nur sich und den Irrling, sondern auch noch Vince versuchen zu retten.
»Was sollte das denn?«, raunte sie ihm zu.
Er hob nur die Schultern. »Mir ist nichts Besseres eingefallen.«
Sie machte sich wieder an dem Sack des Irrlings zu schaffen. Alle Augen der Nuria ruhten auf ihr, während sie langsam den schweren Stoff von dem Körper löste und den Irrling mit den blanken Händen daraus befreite. Ein Raunen ging durch die Menge der Nuria, aber sie griffen nicht ein. Der Irrling lebte noch. Vorsichtig legte Ludmilla den Kopf des Geschöpfes auf den Boden ab und schob einen Teil des Sackes darunter.
»Es leidet«, erklärte sie vorwurfsvoll. »Was habt ihr mit ihm gemacht?« Etwas anders fiel ihr nicht ein. Sie wollte Zeit schinden. Zeit, die sie nicht hatte, und ihr war bewusst, dass alle Augen auf ihr ruhten.
In diesem Moment öffnete der Irrling die Augen. Seine gleißend hellblauen Augen leuchteten in der Dunkelheit, und die Nuria stießen Schreie des Entsetzens aus.
»Schaut ihm nicht in die Augen«, brüllte Hari und hielt sich die Hand vor das Gesicht. Seine Gefolgschaft tat ihm nach. Manche wandten sich ab.
Über das Gesicht des Geschöpfs huschte ein Lächeln, und es blickte Ludmilla an. »Richte mich etwas auf«, raunte das Wesen ihr zu. »Und wenn es passiert, dann renn«, fügte es so leise hinzu, so dass es Ludmilla kaum verstand. Sie nickte nur und half dem Irrling, sich aufzurichten. Die Nuria, die sich noch nicht abgewandt hatten, schrien auf und hoben abwehrend die Hände.
»Was tust du da?«, fuhr Hari Ludmilla an.
Weiter kam er nicht, denn in diesem Moment öffnete der Irrling seinen Mund, und daraus entfuhr ein gleißender Lichtstrahl. Die Nuria schrien auf vor Entsetzen und starrten wie paralysiert auf den Irrling. Sein ganzer Körper begann zu vibrieren und zu leuchten. Dann brach das Licht mit einem gewaltigen Strahl aus dem Brustkorb des Wesens heraus. Der Irrling wurde dadurch von den Füßen gerissen und schwebte ein paar Meter über dem Boden. Es wurde so hell, dass die gesamte Lichtung, auf der sie standen, erleuchtet wurde. Plötzlich ging alles ganz schnell. In die Menge der Nuria kam Bewegung, Hari schrie etwas, was sie nicht verstand, dann folgte ein lauter Knall, gefolgt von einer Explosion, die von dem Irrling ausging. In Ludmillas Ohren klingelte und summte es, die Umgebungsgeräusche vernahm sie nur gedämpft, als hätte sie Watte in den Ohren.
Sie starrte in das Gesicht des Irrlings, dessen Lippen nur ein Wort formten. »Renn!«
Vince packte Ludmilla geistesgegenwärtig an der Hand und zog sie von der Lichtung weg. Sie rannte los, musste sich aber noch einmal umdrehen. Hinter ihr explodierte der Körper des Irrlings nun gänzlich. Er zersprang in zigtausende Einzelteile, die wie ein Feuerwerk über den Köpfen der Nuria explodierten und sie von den Füßen rissen. Mehr konnte Ludmilla nicht erkennen, denn Vince zog sie immer weiter mit sich. Weg von den Nuria, weg von der Explosion und weg von dem Licht, das einen großen Teil der Ebene erleuchtete. Ein letztes Mal warf sie einen ängstlichen Blick auf das Dorf und erkannte Schatten, die aus den Zelten getreten waren. Hunderte von Schatten, eingehüllt in lange schwarze Umhänge mit Kapuzen und glühend roten Augen.