Dreissigstes Kapitel
Desmond und Mainart
Die junge Hexe führte Bodan und Desmond in das daneben liegende Zelt. Sie schlug das Tuch vor dem Eingang vorsichtig zur Seite, darauf bedacht, keinen Lärm zu machen. Das Zelt war nur von einem kleinen Feuer in der Mitte beleuchtet, neben dem rechts und links jeweils eine Pritsche standen. Mainart lag auf einer von ihnen, und neben ihm kauerte eine verheult aussehende junge Hexe mit blondem Haar. Sie schniefte hemmungslos und hob kaum den Kopf, als die beiden eintraten. Bodan blieb betreten neben dem Eingang stehen, während Desmond ein paar Schritte auf das Krankenlager zuging, um dann vor Schreck zurückzuweichen. Mainarts Gesicht war mit dunklen Blättern bedeckt, die Haut schimmerte dennoch tiefrot hindurch. Der Hals war ebenfalls mit allerlei Kräutern und Blättern belegt und schien nicht ganz so schlimm in Mitleidenschaft gezogen zu sein. Dafür war eine Hand dick mit Bändern umwickelt, die blutdurchtränkt waren. Der lange Zopf des Zauberers, den er stets getragen hatte, lag abgeschnitten auf dem Boden.
Bodan konnte den rasselnden, unregelmäßigen Atem des Magiers hören. Er packte Desmond am Arm.
»Lass uns gehen«, raunte er ihm zu. »Er ist kaum bei Bewusstsein. Wir werden hier nichts erfahren.«
Desmond schüttelte unmerklich den Kopf, löste sanft Bodans Griff, trat vorsichtig auf den Verletzten zu und kniete neben ihm nieder.
»Wie schlimm ist es?«, fragte er die junge Hexe mit leiser Stimme.
Sie blickte auf. Ihre hellen grünen Augen waren rot unterlaufen und mit Tränen gefüllt.
»Ich habe alles versucht, aber er heilt nicht.« Sie fing erneut an zu schluchzen.
Bodan ging ein paar Schritte auf Desmond zu und zog diesen am Hemd. »Lass es gut sein«, zischte er. »Das geht zu weit.«
Die Hexe blickte zu Bodan auf. »Was wollt ihr von ihm? Warum hat man euch zu ihm geschickt?« Ihre Stimme klang plötzlich hart und aufgebracht.
Der Spiegelwächter wich zurück.
»Das ist nicht so wichtig«, begann er stotternd. »Niemand hat uns geschickt. Mein Freund hier wollte mit Mainart reden.« Er schüttelte den Kopf. »Das ist in seiner Lage natürlich nicht möglich. Desmond, wir sollten gehen.«
Desmond rührte sich jedoch nicht. »Ich wollte mit Mainart ein paar wichtige Dinge besprechen. Es geht um das Fortbestehen von Eldrid.« Seine Stimme klang zittrig. »Wir sind uns nie persönlich begegnet, aber ich war immer ein großer Bewunderer dieses einst so mächtigen Zauberers.«
Die Hexe schluchzte erneut auf. »Ja, er war sehr mächtig, und auch ohne Schatten hatte er viele Fähigkeiten und Mächte, aber jetzt…« Ihre Stimme erstickte in Tränen.
Bodan bewegte sich unruhig hin und her, aber Desmond beachtete ihn nicht.
»Wann war er das letzte Mal bei Bewusstsein?« Seine Stimme klang sanft, und er hatte eine Hand auf den Arm der Hexe gelegt.
»Er scheint zwischendurch immer wieder zu Bewusstsein zu kommen, aber nicht richtig. Die Kräuter sind nicht stark genug. Er braucht Licht. Das ist das Einzige, was ihn retten könnte. Und das werden sie ihm nicht geben.«
»Wenn sie ihn hätten umbringen wollen, hätten sie es sicherlich längst getan. Hast du nach Licht für ihn gefragt?«, warf Bodan mit einer Kälte ein, die ihn selbst überraschte.
Die Hexe funkelte ihn wütend an. »Vielleicht sind sie ja davon ausgegangen, dass sie ihn umgebracht haben. Er ist viel zäher, als sie dachten, und er hat mich, und ich werde um ihn und sein Leben kämpfen.« Sie erhob sich und ging auf Bodan zu. »Und nein, bisher habe ich noch nicht um Licht gebeten. Keiner von uns bekommt welches, also warum sollten sie dann ihn anders behandeln?«, zischte sie ihn an. »Wer bist du, dass du es wagst so zu sprechen?«
»Nur ein schattenloser Spiegelwächter, der den Glauben und die Zuversicht verloren hat«, gab Bodan leise zurück.
Die Hexe hielt inne und kam noch ein Stück näher an ihn heran. Er blickte beschämt zu Boden und wich ihrem Blick aus.
»Bodan?« Ihre Augen weiteten sich und Tränen kullerten ihr die Wangen hinunter. »Bodan? Bist du es wirklich? Das kann doch nicht wahr sein.« Sie umarmte ihn stürmisch und heftig, so dass er gar nicht wusste, wie ihm geschah. Als sie seine Reaktion bemerkte, hielt sie inne. »Erkennst du mich denn nicht? Ich bin es, Gwendolyn. Ich habe dich öfter mit Amira besucht, aber das ist Jahre her.«
Er betrachte sie genauer und erkannte sie. Dennoch fiel es ihm schwer zu lächeln. Er konnte ihre Freude nicht teilen. »Gwendolyn, natürlich. Verzeih. Ich habe mich nicht sofort an dich erinnert. Du bist erwachsen geworden. Daran wird es wohl liegen.«
Sie blickte prüfend an ihm herunter und sah bestürzt zu Boden. »Wie konnte das passieren? Wie konntest du deinen Schatten verlieren?«
Er hob nur entschuldigend die Schultern. »Godal.«
Sie schüttelte traurig den Kopf. »Jetzt macht er noch nicht einmal mehr vor Spiegelwächtern halt.«
»Gibt es noch mehr Schatten, die so sind wie Godal?«, mischte sich Desmond ein.
»Und du bist?«, fragte die junge Hexe skeptisch.
»Desmond, Desmond Solas. Bodan ist der Spiegelwächter meiner Familie. Auch mir wurde mein Schatten geraubt.«
Gwendolyn erstarrte. »Du bist ein Spiegelfamilienmitglied und dir wurde dein Schatten gestohlen? Wie lange ist das her?«
Desmond warf Bodan einen bestätigenden Blick zu. »Erst ein paar Wochen, vielleicht einen Monat. Ich erinnere mich nicht so genau, aber es ist nicht sehr lange her.«
Sie nickte eifrig. »Und nachdem du deinen Schatten verloren hast, wurden die Berggeister geweckt?«
»Ja«, rief Desmond aus. »Ich habe es dir doch gesagt, Bodan. Da besteht ein Zusammenhang.«
Der Spiegelwächter seufzte. Er sah sich suchend nach einer Sitzgelegenheit um, aber es gab nur eine weitere Pritsche. Gwendolyn folgte seinem Blick.
»Oh, bitte, Bodan. Leg dich ruhig darauf. Du musst schrecklich erschöpft sein. Ich bringe dir gleich eine Schale Suppe. Ich habe sie nach Amiras Rezept gekocht. Du wirst sie lieben, und sie wird dich etwas stärken.«
Desmond sah sie bewundernd an. »Du trägst viel Fürsorge in dir, liebe Gwendolyn.«
Sie warf ihm einen kritischen Blick zu. »Ich sorge mich um alle Wesen, die Hilfe benötigen. Diejenigen, die unsere Welt retten können, um die kümmere ich mich natürlich besonders. Ob mit Schatten oder ohne. Unsere Spiegelwächter brauchen wir. Du siehst allerdings nicht so aus, als würdest du unbedingt Hilfe benötigen.«
Desmond lachte herzlich auf. »Ich hatte vergessen, wie schlagfertig ihr Hexen sein könnt.« Dann verstummte er, blickte sie ernst an und fragte dann unverwandt: »Also habt ihr noch keinen Weg gefunden, die Schatten zurückzurufen?«
Gwendolyn zog die Stirn in Falten. »Wie meinst du das? Zurückrufen?«
»Eure Schatten in der Schattenwolke. Habt ihr versucht, sie zu rufen?«
Die Hexe verstand immer noch nicht. »Wir sollen unsere Schatten rufen? Und was sollen sie antworten?«
Sie fing an zu lachen, und auch Bodan musste über diese Schlussfolgerung schmunzeln. Desmond ließ sich davon nicht beirren.
»Ihr habt es also noch nicht versucht. Schade. Es scheint mir aber so, als ob ihr auch an das Pentagramm der Schatten glaubt. An die Legende vom Pentagramm der Schatten. Und wenn die Legende wahr ist, dann gibt es auch die Alte Kunst.«
Sie starrte ihn an und nickte langsam.
Also fuhr Desmond fort. »Die Alte Kunst besagt, dass die Wesen des Lichts mit ihren Schatten sprechen sollen und sie dadurch an sich binden können. Warum soll das nur gehen, wenn die Schatten noch mit den Wesen verbunden sind? Das frage ich mich.«
Bodan setzte sich stöhnend auf.
»Ich meine, dass der Schatten immer ein Teil des Wesens ist. Unabhängig von seiner Magie.« Desmonds Stimme wurde lauter und bestimmter. »Also muss die Alte Kunst doch auch funktionieren, wenn der Schatten vom Wesen getrennt ist. Der Kern dieser Kunst besteht doch darin, dass das Wesen mit seinem Schatten kommuniziert. Das muss doch auch über eine gewisse Distanz möglich sein. Die Wolke ist zwar riesig, aber auf einen Versuch kommt es an.«
»Das verstehe ich nicht. Wozu soll das gut sein?«, fragte die Hexe.
Desmond lächelte. »Wenn die Schatten zu ihren Herrn zurückkehren, dann gibt es keine Schattenwolke mehr und damit auch keine Dunkelheit. Das Licht siegt.«
»Und die Magie?«, rief Gwendolyn. »Was ist mit der Magie?«
»Es geht darum, die Dunkelheit zu bekämpfen und die Schatten vom Himmel zu holen, und nicht um die Magie.«
»Sagt ein Mensch!«
»Sagt einer, der auch seinen Schatten verloren hat und der seit Jahrhunderten in Eldrid lebt, aber ja: ein Mensch!«
Sie funkelten sich an.
»Die Alte Kunst zu erlernen dauert Jahrhunderte. Und wofür? Für einen Schatten ohne Magie? Meinst du wirklich, dass die Wesen diesen Aufwand auf sich nehmen? Ganz abgesehen davon, dass es in ein paar Jahrhunderten zu spät sein wird. Dann wird Zamir über ganz Eldrid herrschen und unsere Welt in Dunkelheit tauchen. Dann werden auch ein paar Wesen des Lichts, die ihre Schatten zurückrufen, nichts mehr ausmachen können.«
Desmond atmete laut aus. »Wir haben alle unseren Schatten verloren und wollen unsere Welt retten. Warum also nicht die Alte Kunst erlernen und dadurch die Dunkelheit besiegen?«
»Du kannst das nicht verstehen, was du da vorschlägst«, wandte nun Bodan ein. »Die Wesen von Eldrid sprechen nicht mit ihren Schatten. Sie haben sich der Alten Kunst abgewandt, und das hatte einen bestimmten Grund. Die Wesen des Lichts respektieren ihre Schatten nicht. Sie verstehen sich nicht als Einheit mit den Schatten. Vielmehr sehen sie die Schatten als lästiges Beiwerk an, das sie schützen müssen, um ihre Magie zu schützen. Es ist für sie nicht erstrebenswert, mit den Schatten eine Einheit zu bilden. Dass das ein Fehler ist, haben sie nun möglicherweise begriffen. Leider ist es jetzt zu spät, denn alle Wesen, die ihre Schatten verloren haben, sind hier. Sie sehen keinen Sinn darin, den Fehler zu korrigieren, da es ihnen ihre Magie nicht zurückbringt. Dabei ist die Magie das, was den Wesen fehlt. Die Magie und das Licht. Nicht ihre Schatten.«
Der Spiegelwächter seufzte und fügte dann leise hinzu. »Das ist ein Fehler, ich erfahre es am eigenen Leib. Ich vermisse meinen Schatten mehr als meine Magie. Ob es allen Wesen so geht wie mir?« Er hob die Schultern.
»Dann sollten wir sie fragen«, beharrte Desmond. »Die Wesen des Lichts müssen umdenken. Sie können ihre Welt retten, indem sie sich ihre Schatten zurückholen. Dass sie ihre Magie nicht zurückbekommen, steht auf einem anderen Blatt. Zumindest hätten sie wieder einen Schatten und könnten im Licht leben.«
»Jedoch ohne Magie«, schrie Gwendolyn nun außer sich. »Was ist ein Wesen des Lichts ohne seine Magie?« Sie schnaubte. »Gar nichts! Wir definieren uns über unsere Magie. Das macht uns aus.«
»Jetzt habt ihr auch keine Magie und lebt weiter, oder?«
Sie schluckte. »Ja, schon, aber das ist was anderes.«
»Warum?«
»Weil«, stotterte sie, »weil wir Schattenlose sind.«
»Definiert ihr euch jetzt über eure Schattenlosigkeit?«
»Nein, natürlich nicht!«
»Seht ihr euch immer noch als die Wesen an, die ihr seid?«
»Natürlich, aber eben ohne Schatten.«
»Genau, weil du immer noch eine Hexe bist, oder?«
»Selbstverständlich!«
»Dann hol dir deinen Schatten zurück, Hexe!«
Sie funkelte ihn düster an. »Das ist nicht so einfach.«
»Doch, ist es. Die Wesen des Lichts müssen umdenken. Anders geht es nicht. So rettet ihr euch und Eldrid.«
Bodan räusperte sich. »Woher weißt du, dass es funktioniert?«
»Was funktioniert?«
»Dass das Erlernen der Alten Kunst dazu führt, dass der Schatten zu seinen Herrn zurückkehrt.«
Desmond hob die Schultern. »Das ist nur eine Vermutung.«
Gwendolyn und Bodan stöhnten gleichzeitig auf.
»Ich habe meine Gründe zu glauben, dass das funktioniert. Und natürlich müssten die Wesen die Alte Kunst schneller erlernen. Ein paar Jahrhunderte haben wir nicht mehr Zeit.«
»Wie wäre es, lieber Desmond, wenn du damit anfängst und es uns vormachst?«
Sarkasmus sprach aus ihrer Stimme, aber er erwiderte dies mit einem Lächeln.
»Das hatte ich vor, liebe Gwendolyn. Nur – ich muss euch warnen: Wir Menschen erlernen die Alte Kunst viel schneller als die Wesen des Lichts.«
Bodan starrte ihn erstaunt an. »Woher weißt du das?«
»Das weiß ich nicht, aber davon gehe ich aus.«
Die beiden Wesen lachten resigniert auf.
»Ich kann es euch beweisen. Nur bin ich leider kein gutes Beispiel.«
»Warum das?«
»Ich gehe davon aus, dass mein Schatten lebendig gemacht wurde, und wenn ich mich nicht täusche, ist er einer der mächtigen Fünf. Ihn werde ich mittels der Alten Kunst nicht zurückrufen können.«
Gwendolyn warf Bodan einen zweifelnden Blick zu.
»Und warum nicht?«, fragte der Spiegelwächter. Sein Unmut war nicht zu überhören.
»Wenn ich mit meiner Annahme richtig liege, dann sind die lebendigen Schatten eigenständige Wesen. Sie können nicht mehr mittels der Alten Kunst zurückgerufen werden, weil das Band zwischen Schatten und Wesen durch den Zauber des Lebendigwerdens durchtrennt wurde. Eine neue Wesensart in Eldrid sozusagen.«
»Das sind sehr viele Mutmaßungen, lieber Desmond, die du nicht beweisen kannst«, seufzte Bodan schließlich. »Denn du bist der Meinung, dass du eine Ausnahme bist, mit einem lebendigen Schatten. Wer soll denn dann dein Vorzeigeobjekt werden?«
Ein Lächeln breitete sich auf Desmonds Gesicht aus. »Ihr beide natürlich. Da Mainart leider nicht zur Verfügung steht.«
Betretenes Schweigen machte sich in dem Zelt breit.