Zweiunddreissigstes Kapitel
Vince’ Wahrheit
Ludmilla spürte, wie ihre Magie zurückkehrte, und rannte immer schneller. Sie hörte Vince hinter sich schnaufen und fluchen, und schon bald konnte er nicht mehr mithalten.
»Ich dachte, du machst so viel Sport«, spottete sie, während sie ihn weiterzog. Er war völlig außer Atem.
»Ja«, japste er. »In unserer Welt mache ich sogar viel Sport. Dazu gehört aber kein Dauersprint, so wie du ihn hier hinlegst.«
Sie lachte kurz auf, während sie unentwegt darüber nachdachte, wie sie sich nun verhalten sollte. Warum hatte er sich für sie in Gefahr begeben? Wollte er sie tatsächlich an Zamir ausliefern und hatte deshalb diesen dummen Versuch unternommen, sie zu befreien? Oder hatte er ihr einfach nur helfen wollen? Nur warum? Sie misstraute ihm, und gleichzeitig fühlte sie sich mit ihm verbunden, weil er aus derselben Welt kam wie sie. Für sie wäre es nun ein Leichtes gewesen, ihre Kräfte voll einzusetzen, sich unsichtbar zu machen und ihn zurückzulassen, aber ihr Gewissen hielt sie davon ab. Gleichzeitig kreisten ihre Gedanken um Lando und Eneas. Sie musste sie schnellstmöglich finden.
Nach einer Weile, als sie einsah, dass Vince völlig außer Atem war und nicht mehr vorankam, suchte sie nach einem hohen Hügel, hinter dem sie Rast machen konnten.
Vince ließ sich schnaufend auf den Rücken fallen und kam nur sehr langsam wieder zu Atem. Sie setzte sich neben ihn und betrachtete ihn kritisch. Auch ihr Atem ging schwer, aber sie hatte ihn schnell wieder unter Kontrolle.
»Hast du etwas zu trinken?«, fragte er matt.
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich habe nur diese Wurzel, sie versorgt mich auch mit Flüssigkeit«, erwiderte sie und zog sie aus ihrer Hosentasche.
Vince betrachtete sie misstrauisch. »Was soll das sein? Leder?«
Ludmilla schmunzelte. »Nein, das ist eine Wurzel. Sie enthält Nährstoffe, und sie kann auch den Durst stillen.«
Er streckte gierig die Hand danach aus.
»Besser als gar nichts«, und wollte sie ihr aus der Hand reißen, aber sie zog sie zurück.
»Nicht so schnell«, sagte sie und warf ihm einen giftigen Blick zu. »Was willst du hier, Vince Taranee?«
Er drehte sich auf die Seite, stützte sich auf seinen Unterarm ab und sah sie erstaunt an. »Ich habe dir gerade das Leben gerettet.«
»Hast du nicht. Das war der Irrling.«
»Ich habe dir bei der Flucht geholfen.«
»Das beantwortet nicht meine Frage.«
»Ich habe meinem Großvater versprochen, dass ich ihm seinen Schatten zurückbringe. Zamir versprach mir, dass ich den Schatten mit in unsere Welt nehmen kann, wenn ich dich ihm ausliefere, das weißt du doch.« Er zwinkerte ihr verschmitzt zu und sein Ton hatte etwas Sarkastisches an sich.
Sie lächelte kurz. »Das ist kein Spiel, Vince. Zamir wird dir den Schatten deines Großvaters nicht so einfach zurückgeben, damit du ihn in unsere Welt mitnehmen kannst.«
Er überlegte kurz und betrachtete sie nachdenklich. Von seinem sonst so makellosen Aussehen war nichts mehr übrig. Er war über und über mit Ruß bedeckt, und in seinen Augen standen Müdigkeit und Erschöpfung. Sie konnte auch keinen Kampfwillen mehr darin erkennen. Eher Resignation. Sie reichte ihm die Wurzel.
»Es schmeckt erst widerlich, und die Konsistenz ist gummiartig und du musst ewig darauf rumkauen, aber dann kommen verschiedenen Geschmäcker und auch Flüssigkeit. Du brauchst gar nicht viel.«
Er nahm sie ihr ab, betrachtete sie kurz und biss dann hinein. Zu Ludmilla Erleichterung nahm er nur einen kleinen Bissen und gab ihr den Rest zurück. Sie genehmigte sich etwas, und so saßen sie eine Weile kauend und schweigend nebeneinander. Ludmilla beobachtete Vince’ Verwunderung über den Wechsel der Geschmäcker und genoss die Magie, die sich in ihr breitmachte und ihr ein Sättigungsgefühl verlieh.
Schließlich, nachdem er das letzte Zipfelchen Wurzel hinuntergeschluckt hatte, sagte er langsam: »Dass das kein Spiel ist, weiß ich spätestens, seitdem ich deiner Großmutter ins Krankenhaus gefolgt bin, um mich zu vergewissern, dass es ihr gut geht.«
Ludmilla hatte das Gefühl, als würde ihr das Herz in die Magengegend sausen, und für einen Moment bekam sie keine Luft.
»Mina? Mina ist im Krankenhaus?«, stotterte sie.
Er nickte ernst.
»Geht es ihr gut? Was hat sie? Warum ist sie im Krankenhaus? Woher weißt du das?«
Er zuckte mit dem Mundwinkel. »Das ist eine lange Geschichte. Keine Sorge, es geht ihr gut, und sie wird wieder. Sie hatte einen Herzinfarkt.«
Ludmilla entfuhr ein leises Quietschen vor Entsetzen, sie presste sich die Hand auf den Mund und Tränen traten ihr in die Augen. »Einen Herzinfarkt?«
Vince wandte den Blick nicht ab.
»Wie wäre es damit, Ludmilla?« Sein Tonfall war sachlich. »Wir machen hier und jetzt reinen Tisch. Du erzählst mir alles, was du über Eldrid und diese Schatten weißt, und ich erzähle dir alles, was ich von deiner Großmutter und den Spiegeln weiß. Ich gebe es ungern zu, aber ich weiß nicht mehr so genau, was ich noch glauben soll und was ich hier mache.«
Sie schluchzte. »Ernsthaft?«
Er brummte kurz etwas Unverständliches und nickte dann.
»Gut, aber du fängst an. Ich muss ganz genau wissen, was mit meiner Großmutter ist«, presste sie unter Tränen hervor.
Er setzte sich auf. »Hand drauf«, verlangte er und hielt ihr seine Hand hin.
Sie zögerte kurz, schlug dann ein und lächelte etwas verlegen, während sie ihre Tränen wegwischte. Sie schniefte und atmete tief durch, als Vince zu erzählen begann. Von seinem Großvater, dem Spiegel, von ihrem Spiegelbild, Arndt Solas und der Szene in der Bibliothek im Taranee-Anwesen. Er erzählte ihr auch, dass der Taranee-Spiegel wieder funktionierte und wie er den Weg nach Eldrid gefunden hatte. Sie hörte ihm stumm zu, atmete wegen der vielen Tränen manchmal etwas unkontrolliert, aber unterbrach ihn nicht.
»Bist du dir sicher, dass die Operation gut verlaufen ist?«, fragte sie schließlich leise.
Er nickte. »Mach dir keine Gedanken. Sie wird wieder.« Dabei ergriff er ihre Hand und drückte sie kurz.
Irritiert starrte sie auf seine Hand, und er ließ sie sofort wieder los.
»Entschuldige«, entfuhr es ihm, und er rückte unwillkürlich etwas von ihr ab.
Ludmilla ließ den Kopf hängen. Ein paar rote Haarsträhnen hingen ihr ins Gesicht. Sie konnte die neuen Informationen schlecht verarbeiten. Sie war hier, hier in Eldrid, und weit und breit war kein Spiegel, der sie zurückbringen konnte. Uri war so schwach, dass er kaum mit ihr kommunizieren konnte. Sie bezweifelte, dass seine Macht und Magie dazu ausreichen würden, um sie zurückzuschicken. Und selbst wenn? Sie hatte keine Möglichkeit, ihn zu kontaktieren. Sie fühlte sich hilflos und plötzlich so klein. Nur ein Gedanke verfestigte sich in ihrem Kopf: Sie wollte nach Hause zu ihrer Großmutter. Das war alles, was für sie zählte, und der Rest kam ihr in diesem Moment so unwichtig vor.
»Bist du sicher, dass es ihr gut geht, dass sie wieder wird?«, fragte sie zum zigsten Mal, und jedes Mal nickte Vince geduldig.
»Ja, ich bin mir sicher. Ich habe mit Arndt Solas gesprochen.«
»Und wer ist nochmal Arndt Solas?«, fragte sie. Vince hatte den Namen öfter erwähnt und auch von Mina kannte sie ihn, aber sie war dem Mann nie begegnet.
»Arndt Solas ist der Wächter der Solas-Familie und des Solas-Spiegels. Bodans Spiegel. Er ist bei Mina und kümmert sich um sie und um dein Spiegelbild.«
Sie nickte. Ihr Spiegelbild. Dann durchfuhr es sie. »Was ist eigentlich mit deinem Spiegelbild, Vince?«
Er sah sie unsicher an. »Was soll damit sein?«
»Das treibt doch sicherlich jetzt auch sein Unwesen in unserer Welt, während du hier bist.«
Er zuckte unbedarft mit den Schultern. »Mein Großvater erklärte mir irgendetwas von Vorbereitungsmaßnahmen, die er getroffen habe. Ich denke, er hat das im Griff.«
Sie nickte langsam. »Was er da machte, das weißt du aber nicht, oder?«
Vince schüttelte den Kopf. »In deinem Fall ist es ja auch gar nicht so schlecht, dass eine Version von dir durch unsere Welt marschiert. Stell dir mal vor, du wärst einfach spurlos verschwunden.«
»Das stimmt«, murmelte sie mehr zu sich selbst, und machte sich plötzlich fürchterliche Vorwürfe. Wie hatte sie so egoistisch sein können und Mina mit dem Spiegelbild einfach alleine lassen? Sie hatte sich über den ausdrücklichen Wunsch ihrer Großmutter hinweggesetzt und war einfach nach Eldrid gereist. Jetzt schämte sie sich für ihr Verhalten und fühlte sich verantwortlich für Minas Herzinfarkt.
In Gedanken versunken saß Ludmilla da, und Vince ließ ihr alle Zeit, die sie benötigte, um das zu verarbeiten, was er ihr erzählt hatte.
»Habe ich dich endlich gefunden«, riss sie eine bekannte Stimme aus ihren Gedanken.
»Nouk«, rief sie und sprang auf. Obwohl sie sich mehr freute, ihn zu sehen, als sie sich ärgerte, dass er sich erst jetzt zeigte, machte sie eine ärgerliche Handbewegung. »Warum hat das so lange gedauert, und wo sind Eneas und Lando?«
Der Kobolddrache landete direkt vor ihren Füßen und fauchte mit seinem Nebenkopf, während der Hauptkopf sich verneigte. Vince sprang auf und machte ein paar Schritte rückwärts. Nouk beachtete ihn gar nicht.
»Es ging nicht schneller. Dich von diesen Nuria zu befreien, wäre nicht so einfach gewesen. Zum Glück konntest du fliehen«, flötete er unterwürfig.
Ludmilla winkte ab. »Wo sind meine Freunde?«
»Woher soll ich das wissen?«, keifte das kleine Wesen. Sein Nebenkopf schoss eine Flamme auf den Boden, die nur wenige Zentimeter vor ihren Füßen landete. Sie warf ihm einen mahnenden Blick zu.
»Ich habe mir die Flügel wundgeflogen, um dich zu finden. Da habe ich mich doch nicht noch um diese zwei Idioten gekümmert.«
»Sprich nicht so über sie«, herrschte sie den Drachen an, so dass dieser zwei Schritte zurückwich. »Ich habe eine Aufgabe für dich.«
Der Nebenkopf des Drachens schnitt eine böse Grimasse. »Darf man sich noch nicht einmal ausruhen?«
Sie schüttelte ungeduldig den Kopf. Drohend hob sie eine Hand, als wollte sie seinen Hals ergreifen. »Suche meine Freunde und führe sie zu mir. Ich werde hier auf euch warten.«
Nouks Nebenkopf schnitt eine hämische Grimasse. »Das würde ich dir nicht raten. Die Nuria können euch wittern. Schon vergessen?« Er warf Vince einen abschätzigen Blick zu. »Und mit dem im Schlepptau haben sie dich innerhalb der nächsten Stunde gewittert. Werd ihn los, und zwar so schnell wie möglich, und dann verschwinde von hier.«
Ludmilla sah kurz zu Vince hinüber, der in Abwehrhaltung den Kobolddrachen betrachtete. »Das lass mal meine Sorge sein«, entgegnete sie. »Dann müssen wir uns eben weit genug von ihnen fernhalten. Du wirst uns schon finden und meine Freunde zu mir führen. Hast du mich verstanden?«
Der Drache murrte etwas, erhob sich dann dennoch in die Lüfte und verschwand kurz darauf.
Vince starrte ihm keuchend nach. »Was ist das?«
Sie lachte erleichtert auf. Die Begegnungen mit dem Drachen waren ihr nicht geheuer, und sie war es nicht gewohnt, ein Wesen so herumzukommandieren. Aik hatte ihr geraten, Nouk nicht mit Samthandschuhen anzufassen, sondern direkt und forsch aufzutreten.
»Das ist ein Kobolddrache, und ich habe ihn erweckt.« Eine Spur Stolz konnte sie nicht unterdrücken.
Vince trat stirnrunzelnd näher. »Erweckt? Ein Wesen? Wie geht das?«
»Lange Geschichte«, murmelte sie. »Bleib, wo du bist, ich mache mal einen Rundgang.« Bevor er antwortete, hatte sie sich unsichtbar gemacht.
»Ludmilla«, flüsterte er, so laut er konnte. »So war das nicht abgemacht. Du schuldest mir eine Erklärung.« Er breitete die Arme aus und drehte sich. »Für all das.«
Unschlüssig blieb er stehen und sank dann, den Rücken an die Felskugel gelehnt, in die Hocke.
Ludmilla beobachtete ihn vom gegenüberliegenden Steinhügel aus. Sie hatte nicht vorgehabt, sich weit von ihm zu entfernen. Die Nuria würden sie wittern, und sie würde Gefahr laufen, ihre Macht zu verlieren, wenn sie ihr zu nahe kamen. Jedoch musste sie sich darüber im Klaren werden, wie sie sich Vince gegenüber verhalten sollte. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihm vertrauen konnte. Warum hatte er ihr von ihrer Großmutter nicht schon im Dorf der schattenlosen Wesen erzählt oder bei ihrem Zusammentreffen vor dem Schattendorf? Warum erst jetzt? War das eine Taktik oder wusste er tatsächlich nicht, auf welcher Seite er stand? Gedankenverloren rieb sie sich den Arm, auf dem immer noch die Brandwunde war, die sie dringend heilen musste. Auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie das bei ihr selbst funktionierte. Wichtiger war für sie aber, mit Vince zu sprechen. Denn eines war klar: Würde sie sich dazu entscheiden, ihn mitzunehmen, würde er eine Last bedeuten. Eine Last und eine Gefahr.