Dreiunddreissigstes Kapitel
Wieder vereint
Leise schlich sich Ludmilla an Vince an und ließ sich neben ihm auf den Boden gleiten. Zuvor hatte sie sich vergewissert, dass die Nuria weit entfernt waren. Nun war es Zeit, Klartext zu sprechen.
»Warum hast du die Information über meine Großmutter nicht schon viel früher verwendet? Du hättest mich wahrscheinlich dazu bringen können, Eldrid zu verlassen«, fragte sie ihn fast zu laut.
Vince machte einen Satz zur Seite und starrte sie böse an. »Musst du mich so erschrecken?« Er betrachtete sie argwöhnisch. »Wie machst du das? Wie kannst du dich unsichtbar machen?«
Da war es wieder, das zischende S . Die Vince-Art. Immer ein wenig überheblich und herablassend. In ihr kam Wut auf.
»Ich kann es eben.« Ihr Tonfall wurde schnippisch, obwohl sie das inzwischen nicht mehr mochte, aber in diesem Moment und gegenüber Vince war ihr das egal.
»Du schuldest mir ein paar Antworten«, forderte er unbeirrt.
Die Vertrautheit, die sie verspürt hatte, als er ihr von der Menschenwelt erzählt hatte und von dem Herzinfarkt ihrer Großmutter, war verschwunden. Jetzt war er fordernd. Dabei hatte er ohne ihre Hilfe in diesem Teil von Eldrid keine Chance. Skeptisch betrachtete sie ihn.
»Das weiß ich, aber ich weiß immer noch nicht, woran ich bei dir bin. Vielleicht ist das eine Falle. Du schleimst dich jetzt bei mir ein, gewinnst mein Vertrauen, und sobald wir in der Nähe von Zamir sind, schleppst du mich zu ihm.«
Vince entfuhr ein hohes schrilles Lachen, und er wandte sich ihr komplett zu.
»Ernsthaft, Ludmilla? Das Schattendorf ist hier ganz in der Nähe. Ich könnte dich auch einfach den Schatten zum Fraß vorwerfen, und Zamir hätte seinen Willen. Dafür brauche ich nicht dein Vertrauen zu gewinnen.«
Seine blauen Augen blitzten, während er seine blonden Haare, oder was davon übrig geblieben war, hinter die Ohren schob.
»Du weißt ja gar nicht, was die Schatten mit mir machen würden«, konterte sie. »Vielleicht würden sie mich nicht zu Zamir schicken, sondern mir meinen Schatten nehmen und mich in das Dorf der schattenlosen Wesen verfrachten.«
Er lächelte überlegen. »Und das würde ich zulassen? Denkst du das wirklich?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Was weiß ich denn schon?«
»Genau! Du weißt nichts von mir.« Er atmete laut aus. »Ich hatte keinen Plan, als ich dir gefolgt bin. Nicht, dass ich eine Wahl gehabt hätte, denn diese lebendigen Schattenkreaturen haben mich einfach hinter dir her geschickt. Mir wurde Eldrid immer als wunderschöne Welt voller Magie beschrieben, aber ich sehe keine wunderschöne Welt. Ich sehe hier nur Dunkelheit, Kälte und dunkle Magie. Auch wenn ich kein kleines Kind bin, das sich von Feen verzaubern lässt, so fühle ich mich doch auch nicht von Dämonen und wild gewordenen Schatten angezogen. Du scheinst zu meinen, ich wäre ein fieser Typ. Das hier ist Eldrid. Hier kann man nur fies sein, wenn man mächtig ist. Und das bin ich nicht.«
Nein, weiß Gott nicht, dachte Ludmilla, aber sie sprach es nicht aus, sondern schwieg. Sie ließ ihn reden und hoffte, dass er noch mehr sagen würde. Zu ihrer Enttäuschung schwieg er und blickte sie erwartungsvoll an.
»Jetzt du, wir haben eine Abmachung.«
Sie sehnte sich nach Nouks Rückkehr und reckte sich, um über den Hügel sehen zu können. Keine Spur von dem Kobolddrachen, und auch die Nuria waren weit entfernt. Sie hatten bisher die Suche nach ihnen nicht aufgenommen, zumindest schien es so. Als sie sich Vince wieder zuwandte, starrte er sie unverwandt an.
»Ludmilla!« Sein Ton wurde fast drohend. Dann atmete er durch. »Wie kann ich dir denn noch begreiflich machen, dass ich keine Ahnung von dieser Welt habe und davon, was hier vor sich geht? Wie soll ich wissen, was richtig und was falsch ist, wenn mich keiner aufklärt? Ziehst du es vor, dass es die Bösen machen? Möchtest du etwa, dass wir gegeneinander arbeiten?«
Langsam schüttelte sie den Kopf. Nein, weitere Gegner konnte sie nicht gebrauchen. Nicht einmal Vince. Dennoch besann sie sich.
»Ich kann das nicht allein entscheiden. Wenn du uns begleitest, dann müssen Eneas und Lando auch dafür sein, dass du in unser Wissen eingeweiht wirst.«
Er schlug sich ungeduldig auf die Oberschenkel. »Wir hatten eine Abmachung. Ich habe meinen Teil erfüllt, jetzt bist du dran.« Er wurde ungehalten. »Deine feinen Freunde sind jetzt nicht hier. Ich bin dafür, dass du mal anfängst zu erzählen. Es gibt sicherlich einiges, was hier allgemein bekannt ist. Nur eben mir nicht.«
Ein letzter sehnsüchtiger Blick an den dunklen feuerdurchzogenen Himmel verriet ihr, dass sie Vince etwas erzählen musste. Sie hatte keine Wahl, wenn sie nicht unnötig eine Auseinandersetzung provozieren wollte. Also erzählte sie ihm von dem Streit zwischen Mina und Uri, den sie belauscht hatte, vom Rufen des Spiegels und von ihren ersten Reisen nach Eldrid. Sie vermied es, ins Detail zu gehen, erzählte aber von den Gräueltaten Godals und Zamirs, von dem Mord an Amira, von der Trauerzeremonie und dem Kopf. Ihre Reise durch das Moor von Fenris erwähnte sie nicht, ebenso wenig die Begegnung mit Mainart und Gwendolyn und erst recht nichts über die Legende des Pentagramms der Schatten. Sie erzählte ihm genau so viel, wie sie dachte, dass es ihm helfen würde, diese Welt besser zu verstehen und sich für eine Seite zu entscheiden. Sie traute ihm noch immer nicht, schließlich war er ein Taranee, die Spiegelfamilie von Zamir, und das hatte etwas zu heißen.
Vince hörte ihr mit regungsloser Miene zu. Sein Kopf hing etwas tiefer, als sie von Godal und Zamir und dem Mord an Amira erzählte. Sie meinte sogar, dass sich die Härchen auf seinen Armen aufstellten. Er ließ sich sonst nichts anmerken. Schließlich schloss sie ziemlich vage ihren Bericht über diesen Teil der Welt und ihre Entführung.
Als sie verstummte, durchbohrte er sie regelrecht mit seinem Blick. »Das ist doch nur die Hälfte«, brummte er.
»Was ist nur die Hälfte?«, tönte da Eneas’ Stimme aus dem Hintergrund.
Ludmilla fuhr erschrocken herum und sprang auf. »Na endlich«, rief sie erleichtert aus.
Fast hätte sie Eneas umarmt, so sehr freute sie sich, ihn wieder zu sehen. Lando trat ebenfalls hinter der Steinkugel hervor, und auch er beäugte Vince misstrauisch.
»Was hast du ihm erzählt?«, herrschte er Ludmilla an.
»Das ist ja eine nette Begrüßung!« Sie zog ihre Stirn in Falten. »Kein ›Wie geht es dir, Ludmilla? Ist dir auch nichts passiert, Ludmilla?‹«
Lando hob nur die Schultern. »Ich sehe doch, dass es dir bestens geht. Diese Nuria sind tückisch, wir müssen uns besser vor ihnen in Acht nehmen. Zum Glück hast du einen Helfer, der uns zu dir geführt hat.« Er warf Nouk einen genervten Blick zu. »Du solltest ihm noch ein wenig mehr Respekt beibringen. Er hat uns die meiste Zeit beschimpft und versucht, uns mit seinem Feuer zu treffen. Er fand das lustig und hoffte, dass wir dadurch schneller laufen würden.«
Eneas schnaubte zustimmend. »Dabei sind wir verdammt schnell«, meckerte nun auch er los.
Sie hob beschwichtigend die Hand. »Ich bin froh, dass ich entkommen bin und Nouk euch so schnell zu mir führen konnte.«
»Darüber sind wir auch froh, aber was hat der hier zu suchen? Und warum erzählst du ihm so viel?« Lando packte sie am Arm.
Sie versuchte, sich von ihm loszureißen, und funkelte den Formwandler wütend an. »Du tust mir weh. Ich hatte noch keine Zeit, meine Brandwunde zu heilen. Die Nuria haben mich verbrannt, da brauchst du nicht auch noch reinzugreifen.«
Eneas ging dazwischen. »Was ist in euch gefahren?«, piepste er aufgeregt mit seiner dünnen Stimme. »Wir müssen hier weg, und zwar so schnell wie möglich, da können wir uns nicht auch noch streiten.« Er warf einen Blick auf Vince. »Den können wir nicht mitnehmen. Er wäre nur eine Last.«
Ludmilla seufzte. »Ihn hierlassen können wir auch nicht. Er hat versucht, mir zur Flucht zu verhelfen.«
Eneas und Lando tauschten vielsagende Blicke aus.
»Das ist nicht dein Ernst«, polterte Lando los. »Er ist der Grund, warum wir überhaupt hier gelandet sind.«
»Du wolltest hierher, genau hierher«, konterte sie hitzig. »Zum Schattendorf. Um dich zu vergewissern, dass es existiert. Wie es der Zufall so will, haben wir nun im Land der Nuria noch etwas zu erledigen.« Sie rieb sich den Arm.
»Ist es schlimm?« Eneas war sichtlich besorgt.
»Nein, es geht schon. Halb so wild. Lieb, wie besorgt du bist.« Sie warf Lando einen bissigen Blick zu. »Ich sollte die Wunde so schnell wie möglich heilen, bevor wir weiterziehen.« Sie atmete laut aus. »Wollt ihr denn gar nicht wissen, was ich bei den Nuria erlebt habe und wie ich fliehen konnte?«
Eneas runzelte die Stirn. »Hast du etwas in Erfahrung bringen können?«
»Nicht viel.« Sie beruhigte sich langsam. Sie sah ein, dass es nichts brachte, sich mit Lando zu streiten. »Ich habe einen Irrling kennengelernt. Es hat mich gerettet.«
»Uns gerettet«, warf Vince ein, aber sie beachteten ihn nicht.
»Ein Irrling«, entfuhr es den beiden Wesen wie aus einem Munde.
»Wo ist ein Irrling?«, schnarrte Nouk plötzlich über ihren Köpfen. »Ach«, er schlug sich mit der Tatze vor die Stirn des Hauptkopfes, »das muss die Explosion gewesen sein. Schönes Farbspiel.«
Ludmilla warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Das war alles andere als schön, Nouk. Kümmere dich bitte um deine Aufgabe. Noch einmal möchte ich nicht gefangen genommen werden.«
Der Kobolddrache murrte unwillig, flatterte dann wieder höher und umkreiste die Raststätte. Ludmilla erzählte kurz, wobei sie Vince im Auge behielt, was sie von dem Irrling erfahren hatte. Ihre Freunde starrten sie entsetzt an.
»Es hat sich selbst in die Luft gejagt?«, fragte Eneas ungläubig. »Das ist ja schrecklich.«
In ihre Augen traten unwillkürlich die Tränen. Sie hatte das Wesen zwar kaum gekannt, aber es hatte sich für Eldrid und für sie geopfert, und das berührte sie zutiefst. Sofort musste sie wieder an ihre Großmutter denken, und die Tränen flossen unkontrolliert die Wangen hinunter. Eneas sah sie besorgt an.
»Was hast du? War das so schlimm?« Seine hohe Stimme zitterte vor Mitgefühl.
Ludmilla nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Vince hat mir von meiner Großmutter erzählt. Sie hatte einen Herzinfarkt und liegt im Krankenhaus.«
»Er hat was?«, donnerte Lando los, so dass seine Freunde ihn warnend anschauten.
»Nicht so laut«, wetterte der Kobolddrache los. »Sonst brauchen die Nuria euch bald nicht mehr zu wittern, hören reicht da völlig aus.«
»Ausgerechnet jetzt?«, zischte der Formwandler ungehalten. »Und du glaubst ihm das?«
Sie sah erst Lando, dann Vince verwirrt an. »Wie meinst du das?«
»Vielleicht hat er das auch nur erfunden.«
Vince riss die Augen auf und schüttelte den Kopf. »Sowas würde ich mir nie ausdenken.« Er sah Ludmilla aufgebracht an. »Wirklich, das kannst du mir glauben. Ich lüge nicht. Außerdem ist Mina auf dem Weg der Besserung. Sie stirbt nicht.«
Bei diesen Worten trat der Unsichtbare ganz nah an ihn heran. »Natürlich stirbt Mina nicht«, funkelte er ihn wütend an. »Das würde sie Ludmilla nicht antun, während sie hier ist und alles für uns riskiert.«
Vince lehnte sich nach hinten, so weit er konnte. »Noch einmal …« Er sah Ludmilla hilfesuchend an. »Ich lüge nicht. Es ist die Wahrheit.«
»Ich glaube ihm«, sagte Ludmilla leise. »Er hat recht. Sowas denkt man sich nicht aus.«
Ihre Freunde sahen sie überrascht an, und Vince atmete erleichtert auf.
»Wie gut für dich«, Lando blitzte Vince feindselig an, »dass wir das hier und jetzt nicht klären können, außerdem müssen wir hier weg.« Er klatschte etwas zu laut und zu hart in die Hände. »Du bestehst also darauf, dass wir ihn mitnehmen?«
Ludmilla nickte, wenn auch etwas widerwillig.
»Also gut. Dann müssen wir sofort aufbrechen.«
»Wisst ihr denn, in welche Richtung wir gehen müssen, um uns an die Aufgabe zu machen, die Uri uns gestellt hat?«
»Was für eine Aufgabe?«, fragte Vince leise.
Keiner schenkte ihm Beachtung.
»Bei unserer Suche nach dir sind wir in die Nähe ihres Dorfes gekommen«, raunte Eneas aufgeregt. »Ich habe sogar eine von ihnen entdeckt, daher wissen wir, dass wir ganz in der Nähe gewesen sind.«
Sie sah ihn fragend an.
»Na, weil sie sich nie weit von ihrem Dorf entfernen«, erklärte Eneas, als wäre es das Logischste der ganzen Welt.
Sie wollten gerade aufbrechen, da meldete sich Vince zu Wort.
»Ludmilla«, rief er und winkte sie zu sich. Widerwillig trat sie auf ihn zu.
»Wir hatten eine Abmachung«, raunte er ihr zu. »Du hast mir nicht alles erzählt. Ich weiß immer noch viel zu wenig über diese Welt.«
Sie presste die Lippen zusammen. »Dafür ist jetzt keine Zeit«, wisperte sie ihm zu. »Sie misstrauen dir eh schon. Du willst doch nicht, dass wir dich zurücklassen?«
»Also gut«, murmelte er. »Ihr nehmt mich mit, damit muss ich mich wohl vorerst zufrieden geben.«
»Das ist alles, was ich momentan für dich tun kann, Vince«, raunte sie.
Ludmilla nutzte den kurzen Moment, in dem ihre Freunde auf sie warteten, und hielt sich ihre Hand auf die Brandwunde. Sie konzentrierte sich auf ihre Magie und dachte daran, dass sie heilen konnte – und die Wunde verschloss sich sofort. Ein Glücksgefühl durchströmte ihren Körper. Sie konnte tatsächlich heilen.
Dann brachen sie auf. Nouk begleitete den kleinen Trupp aus der Luft, während die anderen sich langsam ihren Weg bahnten. Mit ihren Kräften wären sie viel schneller vorangekommen, aber mit Vince war es mühsam und dauerte viel länger, als sie angenommen hatten.
Ludmilla lief mit Eneas meistens am Ende und betrachtete Vince nachdenklich. Sie war sich immer noch nicht sicher, ob sie Vince vertrauen konnte, aber er hatte sich verletzlich gezeigt, und das war für ihn, so wie sie ihn kannte, sehr untypisch. Und so oder so hatte er ihr bei der Flucht vor den Nuria geholfen. Es steckte also irgendetwas Gutes in ihm.