Vierunddreissigstes Kapitel
Zamir zurück im Dorf der Schattenlosen
Zamir hechtete durch die weißen Gassen von Ios. Er hatte sich sichtbar gemacht. Es war ihm egal, ob die Wesen von Ilios ihn sahen. Alles was nun zählte, war sein Schatten, den er vor den Toren der Stadt zurückgelassen hatte. Er fühlte sich plötzlich nackt und machtlos ohne ihn. Es dauerte endlose Minuten, bis er ihn schließlich erreicht hatte. Für einen kurzen Moment erblasste der Spiegelwächter, da er seinen Schatten nicht sofort sah, und rief nach ihm. Zusammengekauert saß er an eine Wand gelehnt.
»Hast du mich nicht gehört?«, herrschte Zamir ihn an.
Erst als er über ihm stand und sich zu ihm hinunter beugte, erhob er sich wortlos.
»Mach das nie wieder«, zischte er seinen Herrn an. »Ich bin zwar abhängig von dir, aber du auch von mir, und das war demütigend.«
Zamir funkelte ihn wütend an, während sie wieder verschmolzen. Er biss sich auf die Lippen und schwieg. Noch nie zuvor hatte sein Schatten das Wort in dieser Form an ihn gerichtet. Und zum ersten Mal seit langem war Zamir sprachlos und ihm war mulmig zumute. Er hätte es den Weißen durchaus zugetraut, dass sie ihm seinen Schatten nahmen. Auch wenn er bezweifelte, dass sie es konnten. Jedoch wollte er es nicht darauf ankommen lassen. Also erhob er sich in die Lüfte und floh. Er verließ Ilios auf dem schnellsten Weg.
Sein Flug war dieses Mal nicht berauschend. Er verspürte Wut. Schreckliche, unbändige Wut. Er konnte seinen Triumph, dass die Berggeister genau das taten, was er vorhergesagt hatte, nicht feiern. Er konnte sich darüber noch nicht einmal richtig freuen. Und das ärgerte ihn noch mehr. Selbstverständlich war er sich über sein Handeln im Klaren. Wofür hielten diese alten Zauberer sich? Für allwissend? Das waren sie bei Weitem nicht. Sie hatten keine Vorstellung davon, wozu er in der Lage war. Wozu er fähig war. Und sie wussten nicht, wovon er abhängig war und wovon nicht. Er fühlte sich wie ein kleiner Schuljunge, den sie versucht hatten zu belehren. Sie waren sogar respektlos gewesen. Inzwischen war er völlig in Rage. Je mehr er sich ärgerte, desto schneller flog er.
Zamir rauschte über Odil hinweg, sah das Schneegebirge in der Ferne an ihm vorbeiziehen. Ziellos ließ er sich knapp unter der Schattenwolke dahingleiten. Das Dorf der schattenlosen Wesen war sein Ziel, entschied er, während es in ihm kochte. Er konnte seine Emotionen kaum kontrollieren. Er wollte explodieren, seine Macht demonstrieren, und genau das würde er in dem Dorf dieser erbärmlichen Wesen tun.
Seine Landung war unsanft und wenig elegant, aber es kümmerte ihn nicht. Er stieß das Portal zum Saal der Zeremonien auf und stolzierte hinein. Ceres stand in Begleitung eines anderen Schattens am Becken der Wahrheit und zischte ungehalten, als Zamir eintrat.
»Lebt er noch?«, brüllte Zamir unwirsch los. Als die Schatten nicht sofort reagierten, setzte er sofort nach. »Mainart, der Magier?« Zamir hielt inne und lachte schrill auf. »Der ehemalige und jetzt schattenlose Magier, lebt er noch?«
Ceres zischte erneut markerschütternd und nickte.
»Führe mich zu ihm«, befahl Zamir.
Der lebendige Schatten gab dem anderen Schatten einen Wink, und dieser verließ augenblicklich den Saal. Ceres geleitete Zamir hinaus. Sie glitten durch die dunklen Gassen, vorbei an den modrig stinkenden und spärlich beleuchteten Behausungen. Angewidert verzog Zamir das Gesicht.
»Wie kann man so leben?«, bemerkte er, wobei er die Stimme erhob, so dass es die Wesen hören mussten. »Wie kann man ohne Schatten leben?«
Ceres wandte sich zu ihm um. Seine glühenden Augen funkelten. Zamirs Gelächter prallte von den Bergwänden ab und hing wie ein Echo über dem Dorf.
»Es ist eine Schande in Eldrid, seinen Schatten zu verlieren. Das Leben hier in diesen Baracken ist eine Gnade, die ich meinen Opfern zuteil werden lasse. Sie müssen mir dankbar sein.«
»Wir werden am Leben erhalten«, ertönte eine leise weibliche Stimme aus dem Schatten eines Zeltes.
Zamir wandte sich ihr zu. »Ja, und zwar von mir.«
»Warum nur? Was hast du davon? Du hasst uns, verabscheust uns, und dennoch schickst du deine mächtigen Schatten mit dem Licht in dieses Dorf, um uns zu nähren. Warum? Warum lässt du uns nicht einfach sterben?«
Er blinzelte in die Dunkelheit. »Zeig dich, wenn du es schon wagst, so mit mir zu sprechen.«
»Warum sollte ich? Ich habe keine Angst vor dir. Ich habe nichts mehr zu verlieren. Mein Schatten ist fort, und ich würde lieber sterben, als hier in diesem Dorf vor mich hin zu vegetieren.«
Zamir bewegte sich auf die Stimme zu.
»Ich befehle dir, dich mir zu zeigen«, zischte er erzürnt.
Ein glockenhelles Lachen, wie das von einer Fee, ertönte. »Und ich habe dir eine einfache Frage gestellt, Zamir. Warum?«
»So sieht Dankbarkeit aus? Du verhöhnst mich. Du bist es nicht wert, genährt zu werden.«
Ein Kichern erklang als Antwort.
»Jetzt weiß ich, was du bist«, frohlockte Zamir böse. »Du bist eine Fee. Zeig dich mir. Ich will sehen, ob ich mich an dich oder an deinen Schatten erinnere.«
Die Stimme antwortete nicht mehr. Zamir fegte um die Ecke, hinter der er das Wesen vermutete, aber da war niemand. Sie war weg, und er war noch mehr in Rage als zuvor.
»Zu Mainart solltest du mich bringen«, knurrte er Ceres an.
Dieser fauchte ungehalten. »Wir können jederzeit weitergehen, mein Herrscher und Gebieter.«
Als sich Zamirs Augen vor Erstaunen über so viel Respektlosigkeit weiteten, neigte der Schatten kurz seinen Kopf und schwebte wieder voran.
Schon bald betraten sie das Zelt, in dem Mainart auf einer Pritsche lag. Ein weibliches Wesen beugte sich gerade über ihn und schien seinen Zustand zu beklagen.
»Raus hier«, befahl Zamir.
Sie zuckte zusammen, fuhr herum und schlug sich die Hand vor den Mund, als sie Zamir erblickte. Ihr Gesicht war tränenüberströmt.
»Du beweinst ihn schon«, höhnte Zamir. »Er ist noch nicht tot. Und jetzt raus hier.«
Sie zögerte kurz, als der Schatten sie mit glühenden Augen anfunkelte und einen Schritt auf sie zutrat. Ihr entfuhr ein unterdrückter Entsetzensschrei, und sie verließ eilig das Zelt.
Zamir setzte sich zu Mainart an die Pritsche. Dessen Gesicht war kaum zu erkennen. Es lagen viele Schichten von Blättern und Kräutern darauf, die die Wunden heilen sollten. Auch eine Hand war verbunden. Er atmete flach. Zamir entfernte umständlich und voller Ungeduld die Blätter von der Stelle, an der er den Mund des Magiers vermutete. Als er ihn freigelegt hatte, fuhr er mit dem Finger darüber, und dieser öffnete sich einen Spalt. Zamir blies ihm eine goldene Flüssigkeit hinein. Mainart fing an zu husten und zu prusten. Sein gesamter Körper bäumte sich auf, der Brustkorb hob und senkte sich, und es schien, als würde er die Flüssigkeit wieder ausspucken wollen. Zamir verhinderte dies, indem er ihm den Mund zuhielt.
»Schluck sie, mein alter Freund. Schluck sie, denn ich muss mit dir reden, und du musst dazu in der Lage sein, mir deine ewigen Widerworte zu geben und mir Vorwürfe zu machen. Also schluck das Licht. Es ist das Licht von Ilios. Es wird dir besonders munden.«
Mainart riss die Augen auf. Erst jetzt schien er Zamir erkannt zu haben. Er versuchte, sich aufzurichten, ließ sich dann stöhnend wieder auf die Liege fallen. Zamir tätschelte seinen unverletzten Arm und lächelte verkrampft. Als sich der Magier etwas beruhigt hatte und seine Augen auf dem Spiegelwächter ruhten, nahm dieser seine verletzte Hand und drückte sie dem Magier auf die Brust, so dass dieser aufstöhnte.
»Du wirst jetzt zu Kräften kommen, und dann werden wir ein Gespräch führen, verstanden?«
Mainart nickte matt, aber seine Augen sprachen eine andere Sprache. Er war angespannt und umklammerte Zamirs Arm.
»Was willst du mit mir schon besprechen?«, presste der Zauberer hervor. »Ich habe dir nichts mehr zu sagen.«
Zamirs Gesicht verzog sich zu einer bösen Fratze, während er Mainarts gesunde Hand von seinem Arm abstrich.
»Doch, hast du, jedoch erst, wenn du dazu imstande bist. Ich will einen ebenbürtigen Gegner.« Kurz lachte er auf. »Zumindest verbal.«
Mit diesen Worten verließ Zamir das Zelt. Davor stand die verheulte Hexe.
»Kümmere dich um ihn«, herrschte er sie an. »Heile ihn. Ich brauche ihn in einem ansehnlicheren Zustand, als er jetzt ist. Das schaffst du doch, oder?«
Sie riss die Augen auf und blickte ihn entsetzt an. Unmerklich schüttelte sie den Kopf. »Wie soll das gehen?«, flüsterte sie.
Zamir lächelte nur. »Natürlich geht das, und du schaffst das, denn du hast mir zu gehorchen.«
Die Hexe duckte sich und huschte an ihm vorbei.
»Heile ihn, Hexe!«, befahl der Spiegelwächter und verfiel in ein höhnisches böses Gelächter. »Soweit dir das möglich ist.«