Fünfunddreissigstes Kapitel
Margots Rückkehr ins Dena-Haus
Auf dem Weg vom Krankenhaus zurück zum Scathan-Haus herrschte eine bedrückte Stille im Auto. Es war inzwischen Abend geworden, und der Sonnenuntergang tauchte die Stadt in ein rötliches Licht. Arndt war in seine Gedanken versunken, als Margot plötzlich erklärte: »Ich muss nach Hause und ein paar Sachen holen.«
Arndt zuckte zusammen. »Du kannst da nicht mehr hin.« Er schüttelte den Kopf. »Stell dir vor, sie sind noch da und warten auf dich.«
»Dann bring mich in der Nacht hin. Ich brauche diese Sachen.« Sie blickte ihn fordernd an, und ihre Lippen zuckten.
»Das Risiko ist zu groß, Margot.«
Doch sie reagierte nicht.
»Möchtest du, dass das Geheimnis um die Spiegel auffliegt?«
»Wird es nicht. Es geht nicht um die Spiegel, es geht darum, dass ich keinen Schatten habe. Franz hat gar nicht auf den Spiegel geachtet«, erwiderte sie hitzig.
Arndt warf ihr einen prüfenden Blick zu. »Wie kannst du dir so sicher sein?«
Sie zuckte nur trotzig mit den Schultern und schwieg. Margot hatte einen Plan: Sie würde in ihr Haus gehen, unter dem Vorwand, dass sie ein paar Kleidungsstücke benötigte. Dann würde sie den Spiegel aktivieren, zu Arden reisen und ihm alles berichten, was sie in Erfahrung gebracht hatte. Und dann, dann würde sie in Eldrid bleiben dürfen.
»Ich halte das für keine gute Idee. Was sind das für Sachen?«, beharrte Arndt.
»Anziehsachen, ein paar persönliche Gegenstände, die mir wichtig sind«, brummte sie.
Den Rest der Fahrt schwiegen beide beharrlich, während das Spiegelbild auf der Rückbank hockte und auf seinem Handy herumtippte. In Minas Haus angekommen, half Arndt Margot dabei, eines der Gästezimmer herzurichten. Davon gab es genug in diesem Haus. Er selbst hatte sich ebenfalls in einem häuslich eingerichtet, um so über das Spiegelbild wachen zu können. Spät nach dem Abendessen, als schon tiefste Nacht herrschte und alle sich zurückgezogen hatten, saß Margot in dem Sessel neben der Haustür und wartete. Arndt hatte sie bereits im ganzen Haus gesucht, da er zu Bett gehen wollte. Er hatte gehofft, dass sie ihr Vorhaben vergessen hatte.
»Margot, was machst du hier?«
»Das sagte ich dir bereits. Ich muss ein paar Sachen aus meinem Haus holen und bitte dich, mich hinzufahren.« Sie ballte die Fäuste in ihrem Schoß und stand auf.
»Das geht nicht, Margot. Das weißt du. Ich kann das nicht zulassen, dass sie dich …« Er stockte. »Ähm, du weißt schon.«
Sie schüttelte den Kopf. »Fahr mich bitte hin, oder ich rufe mir ein Taxi.«
Arndt schnaubte. »Komm doch bitte zur Vernunft. Das ist sehr gefährlich. Ich dachte, dass du genau diese Situation vermeiden möchtest und deshalb aus dem Haus geflohen bist.«
Statt einer Antwort schlurfte sie auf die Haustür zu. Ohne den Blick von ihm abzuwenden, öffnete sie sie. »Fährst du mich, oder muss ich mir einen Weg suchen, um zu meinem Haus zu gelangen?« Ihr Ton hatte etwas Bissiges an sich.
»Also gut«, stöhnte er. »In dieser Hinsicht hast du dich nicht geändert, dickköpfig wie eh und je.« Dann rief er in den Hausflur hinein, in der Hoffnung, dass Pixi ihn hören würde: »Ich fahre mit Margot kurz zu ihrem Haus. Wir sind gleich zurück.«
Wenig später parkte er das Auto vor dem Dena-Haus. Es schien verlassen. Kein Licht brannte. Misstrauisch suchte er die Umgebung ab, aber es gab keinen Hinweis darauf, dass jemand das Haus beobachtete.
Margot atmete erleichtert auf. »Es ist niemand da. Sieh!«, sie deutete auf das Haus, das komplett in die Dunkelheit der Nacht getaucht war. »Kein Licht, es ist alles ganz still.«
»Das kann auch täuschen. Vielleicht warten sie auf dich und haben sich versteckt? Gib mir den Schlüssel, ich sehe nach, und du rührst dich nicht vom Fleck.«
Arndt stieg aus.
»Nein«, fauchte sie und stieg ebenfalls aus. Als er zusammenfuhr, lächelte sie, und ihre Stimme wurde sanft. »Entschuldige bitte, Arndt. Ich bin so viel Gesellschaft nicht gewohnt. Ich möchte mitkommen. Mit dir fühle ich mich sicher.«
Er schaute sie erstaunt an, während sie die Haustür aufschloss und ihn eintreten ließ.
»Du wartest hier an der Tür«, befahl der alte Solas schroff und schritt durch den Flur. Sie hörte ihn Türen öffnen und Treppen hinauf und hinab steigen. Schließlich stand er wieder vor ihr.
»Es scheint niemand da zu sein«, schnaufte er. Sein Atem ging schnell.
Sie lächelte gezwungen. »Wunderbar. Vielen Dank. Dann gib mir fünf Minuten, und ich werde meine Sachen zusammensuchen.«
Er nickte und blieb neben der Haustür stehen.
Sie zögerte. »Du kannst im Auto warten. Ich benötige keine Hilfe. Wirklich.«
Arndt kniff die Augen zusammen. »Ich warte hier auf dich«, beharrte er.
»Also gut, ich bin gleich zurück«, erklärte sie und lief den Hausflur entlang.
Er blickte ihr nachdenklich hinterher. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Vielleicht war es die jahrzehntelange Isolation, die sie so sonderbar gemacht hatte. Sein Bauch sagte ihm aber, dass da noch etwas anderes war. Ihm waren ihre Blicke, mit denen sie die Szene im Krankenhaus verfolgt hatte, nicht entgangen. Woran genau er sich störte, konnte er nicht bestimmen.
Währenddessen eilte Margot auf den Spiegel zu. Sie hatte Arndts Misstrauen längst bemerkt. Jetzt musste es schnell und vor allem leise gehen.
»Arden«, murmelte sie unentwegt. »Arden, ich habe Informationen für dich. Bitte lass mich nach Eldrid reisen.«
Der Spiegel antwortete mit einem Leuchten, und Sekunden später landete sie in Ardens Höhle.
Der Spiegelwächter stand ihr gegenüber und lächelte überlegen, als sie sich mühsam vom Boden aufrappelte und aufrichtete. Sie hätte gern eine Hand ausgestreckt, um sich an ihm festzuhalten, aber noch bevor sie den Arm bewegte, trat er schon einen Schritt zurück.
»Was hast du herausgefunden?«, herrschte er sie an.
»Guten Abend, Arden«, erwiderte sie ruhig und streckte den Rücken durch. Sie sah in seine blassblauen eiskalten Augen. Als er nicht auf ihren Gruß reagierte, räusperte sie sich kurz und begann umständlich zu erzählen, was sie erlebt hatte. Erst nach und nach kam sie in einen Redefluss und erzählte ihm alles was sie gehört, gesehen und beobachtet hatte. Auch Minas Verbalattacke im Krankenhaus ließ sie nicht aus. Er hasste Mina genauso wie sie. Arden hatte Mina vor über fünfzig Jahre verachtet, als sie ihren Schatten verlor, aber auch schon davor war er von den Scathan-Schwestern nicht angetan gewesen. Dieses Mal reagierte er nicht auf diese kleine Episode, und sie musste sich beeilen. Wie gern hätte sie sich mehr über Mina aufgeregt.
»Das sind doch gute Informationen. Nützliche Informationen für dich, oder nicht?«, ereiferte sie sich, als sie mit ihrem Bericht am Ende war.
Seine Augen blitzten. »Das ist alles?«
Sie nickte irritiert.
»Das reicht mir nicht. Ich muss wissen, ob das Spiegelbild fortgeschafft wird oder nicht. Außerdem muss ich wissen, wann Ludmilla zurückkommt.«
»Woher soll ich das denn wissen?«, jammerte sie.
»Du wirst sie wohl weiter für mich ausspionieren müssen.«
»Was?«, keuchte sie. »Ich dachte, ich könnte jetzt hierbleiben.«
Die Zeit rannte ihr davon.
»Bitte, Arden. Du darfst mich nicht nochmal zurückschicken. Wenn du das tust, fliege ich auf. Sie werden wissen, dass ich mit dir Kontakt hatte.«
»Dann sorge dafür, dass sie es nicht erfahren«, knurrte er und ehe sie sich’s versah, beförderte er sie im hohen Bogen durch den Spiegel.
Arndt trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Er hörte, wie sich Margot im ersten Stock rastlos bewegte, und dann ertönte ein polterndes Geräusch.
»Margot?«, rief er. »Ist alles in Ordnung?«
Er erhielt keine Antwort.
»Margot?«, hörte sie Arndts Stimme rufen.
Sie war schmerzhaft auf den Knien gelandet und kam kaum auf die Beine. Beide Sprünge durch den Spiegel waren missglückt, und nun zahlte ihr alter Körper den Preis. Sie biss die Zähne zusammen und kroch auf den Türrahmen zu, um sich hochzuziehen.
»Es ist alles in Ordnung, Arndt«, rief sie mit zittriger Stimme, während sie das Licht löschte. »Ich komme gleich runter.«
Margot hörte seine Schritte die Treppen heraufeilen. Sie zog die Tür des Spiegelzimmers entschlossen hinter sich zu und hoffte, sie würde nicht wieder aufspringen, dann hinkte sie ihm entgegen.
»Was war das für ein Geräusch?«, fragte Arndt und fing sie im Flur ab. Prüfend sah er an ihr hinunter.
»Ich war ungeschickt und habe etwas umgestoßen«, erklärte sie schlagfertig.
Er blickte sie irritiert an. »Wolltest du nicht ein paar Sachen holen?«
»Ja, aber die sind in einem anderen Zimmer«, entgegnete sie außer Atem, »ich habe mich geirrt«, und ging an ihm vorbei.
Skeptisch folgte er ihr. Spätestens jetzt war er überzeugt: Irgendetwas stimmte nicht mit ihr. Minas Worte kamen ihm wieder in den Sinn und die Erinnerung an eine junge Margot in Eldrid. Voller Neid und Intrigen. Was auch immer sie im Schilde führte, er würde es herausfinden.
Arndt blieb in Margots Nähe, während sie ein paar Kleidungsstücke und Habseligkeiten in eine Tasche packte, und kurze Zeit später fuhren sie zurück zu Minas Haus.