Siebenunddreissigstes Kapitel
Die Verfolgungsjagd
Das Land der Nuria zeigte sich von seiner düstersten Seite. Ludmilla und ihre Freunde kamen aufgrund der Begleitung von Vince Taranee nur sehr langsam voran. Sie drangen zudem in ein Gebiet vor, das zwar nicht von Steinhügeln durchzogen war, aber dessen Untergrund sehr uneben war. Immer wieder stolperten sie über Lavabrocken, die wie Stolperfallen aus dem Boden herausragten. Die Sicht war schlecht, da der Himmel dunkel und nur sehr spärlich von dem Rot durchzogen war, das über dem Schattendorf vorherrschte. Hier war das Land der Nuria vor allem eines: dunkel.
Ludmilla ertappte sich dabei, dass sie Eneas ein drittes Mal fragen wollte, ob er sich sicher sei, dass es der richtige Weg sei. Sie biss sich auf die Lippe. Ihre Füße taten weh, sie stolperte unentwegt, und Vince schien selbst bei dem moderaten Tempo, das sie, ohne ihre Kräfte zu nutzen, vorgaben, kaum mithalten zu können. Zwar hatte er seine nervigen Fragen wie »Wo gehen wir hin?« und »Wann erzählst du mir den Rest deiner Geschichte?« eingestellt, aber sein Gemecker hallte immer wieder über die Ebene, die sie durchquerten.
Nouk flog über ihnen und stieß ab und zu eine Flamme in die Luft. Lando hatte sich an die Spitze ihres kleinen Trupps gesetzt und hatte seit dem Aufbruch kaum ein Wort mit Ludmilla und Eneas gewechselt. Er schien angespannt und beobachtete angestrengt die Umgebung. Ein paar Mal hatte er sich in einen Adler verwandelt und flog neben Nouk über die Ebene, aber der Drache hatte ihn mit Feuerstößen verscheucht. Deshalb zog er es vor, als Jaguar vorneweg zu laufen sowie im Kreis um sie herum zu patrouillieren.
Plötzlich stieß Nouk einen Schrei aus und flog zu Ludmilla hinab. »Nuria«, rief er. »Sie steuern genau auf uns zu.«
Panisch blickten sie sich um. Weit und breit gab es keine Möglichkeit, sich zu verstecken.
»Wir nehmen ihn in die Mitte«, schlug Ludmilla vor und blickte Eneas bittend an. »Dann sind wir schneller und sie holen uns nicht ein.«
Der Unsichtbare brummte etwas Unverständliches und packte sich Vince. Dieser schrie empört auf, aber da hatte sich das riesenhafte Wesen ihn schon wie einen Sack über die Schulter gelegt und fing an loszutraben.
»Auf geht’s«, rief Ludmilla übermütig und war froh, ihre Kräfte wieder benutzen zu dürfen. Schnell lief sie neben dem Jaguar her und erinnerte sich an ihren ersten Lauf mit Lando durch den Wald von Fenris. Es kam ihr vor, als wäre es eine Ewigkeit her.
Die Nuria erschienen am Horizont und hatten eine enorme Geschwindigkeit.
»Nouk«, schrie Ludmilla. »Halte sie auf!«
Der Kobolddrache kicherte nur, als wäre er eine hysterische Ziege. »Wie soll ich sie aufhalten? Sie lieben das Feuer. Das ist meine einzige Waffe.«
»Dann lass dir was einfallen, locke sie auf eine andere Fährte. Tu irgendetwas, damit sie uns nicht weiter folgen. Wir treffen dich am Dorf der Wiar wieder.«
»Wiar!«, brüllte Vince von Eneas’ Schulter. »Was sind die Wiar?«
Keiner beachtete ihn.
Nouk stieß eine Stichflamme aus und verschwand in Richtung der Nuria. Sie entfernten sich schnell von den Verfolgern, die bald nur noch stecknadelgroße Punkte am Horizont waren. Dennoch blieben sie argwöhnisch.
»Wo ist der Drache?«, fragte Eneas nach einer Weile.
Ludmilla suchte den Himmel ab, konnte aber nichts erkennen. Auch die Nuria schienen verschwunden.
Dann blieb Lando plötzlich stehen, und an Stelle der Raubkatze erschien seine Formwandlergestalt.
»Wir sind fast da«, sagte er.
Eneas ließ Vince von seiner Schulter gleiten. Dieser rieb sich den Bauch und die Arme und starrte den Unsichtbaren fasziniert an.
»Ich dachte, ich würde jeden Moment runterfallen«, murmelte er. »Danke«, ergänzte er verlegen.
Eneas lächelte. »Nichts für ungut. Du bist ein Taranee. Ich kann die Taranees nicht leiden, aber du hast Ludmilla geholfen, also bist du ja vielleicht doch kein so übler Kerl.«
»Das werden wir noch herausfinden«, schoss Lando dazwischen. »Wir sollten uns einen Rastplatz suchen. Wir müssen uns überlegen, wie wir den Wiar begegnen und was wir ihnen sagen.« Er deutete in eine Richtung, in der es heller wirkte. »Ihr Dorf liegt hinter diesem Hügel.«
Schnell fanden sie eine geeignete Stelle, an der sie sich ausruhen konnten.
Lando winkte Eneas heran. »Wir sollten hier rasten. Und du«, er deutete mit ausgestrecktem drohenden Finger auf Vince, »hältst Abstand. Wir müssen uns beraten und können deine Ohren nicht gebrauchen.« Ernst blickte er Ludmilla an. »Dein Kobolddrache muss unbedingt Wache halten.«
»Der ist noch nicht zurück«, erwiderte sie entschuldigend und blickte an den dunklen Himmel. Es war nichts von Nouk zu sehen.
»Dann sollten wir uns nicht so lange hier aufhalten«, knurrte der Formwandler ungeduldig. »Wir können nicht riskieren, dass die Nuria uns erneut angreifen und dich verschleppen.«
»Das halten meine Nerven nicht aus«, stimmte Eneas mit hoher Stimme zu.
Sie musste lachen. »Es ist ja zum Glück gut ausgegangen, dank dem Irrling.«
Ihre Gefährten blickten sie neugierig an.
»Ich habe noch nie einen Irrling getroffen«, gab Lando schließlich zu. »Sie gehören zu den Wesen in Eldrid, die mehr Legende als Wirklichkeit sind.«
»Sie könnten Eldrid vielleicht retten«, flüsterte Eneas voller Ehrfurcht.
»Auf jeden Fall können sie viel Licht produzieren«, ergänzte Ludmilla.
Nachdenkliches Schweigen folgte. Sie nutzte die Stille, um nach Nouk zu rufen. Immer wieder rief sie seinen Namen in den Himmel. Mehr flüsternd als schreiend, aus Angst, ihr Gebrüll könnte die Nuria anziehen. Dann blickte sie in die Richtung, in der das Dorf der Wiar lag.
»Wie gehen wir vor?«, fragte Ludmilla ungeduldig. »Soll ich Nouk hinschicken, wenn er wieder da ist? Vielleicht kann er eine fangen und zu uns bringen?«
»Dein Drache ist noch nicht zurück«, erwiderte Lando gereizt. »Ganz abgesehen davon, dass das nicht so leicht ist, wie du dir das vorstellst. Sie werden uns nur begleiten, wenn wir sie von unserer Mission überzeugen können. Ansonsten haben wir keine Chance. Wir können sie nicht entführen und gegen ihren Willen zu Uri zerren, das funktioniert nicht. Außerdem ist der Weg viel zu lang. Wir müssen uns gute Argumente einfallen lassen.«
»Die haben wir doch«, unterbrach ihn Ludmilla. »Welches Argument ist ausschlaggebender als das, dass Eldrid dem Untergang geweiht ist, wenn wir nichts dagegen unternehmen?«
Der Formwandler lachte. »Das interessiert die Wiar nicht. Sie sind unsterblich und nicht vom Licht abhängig und das, obwohl sie einen Schatten haben. Deshalb können sie auch hier leben. Es wird vermutet, dass ihnen das Feuer die Kraft gibt, die sie zum Überleben und zur Ausübung ihrer Macht benötigen.«
In diesem Moment landete der Kobolddrache neben Ludmillas Füßen. Er atmete schwer. Aus seinem grimassenschneidenden Maul hing die Zunge heraus. »Ich brauche eine Pause«, japste er. »Habt ihr eigentlich eine Ahnung, wie schnell diese Pferde sind? Außerdem sind sie jetzt bewaffnet. Die Nuria sind stinksauer auf dich, Ludmilla. Sie wollen dich unbedingt wieder einfangen. Ich weiß nicht, wie viel Zeit ihr habt.«
»Konntest du sie ablenken?«
»Selbstverständlich«, empörte er sich. »Sie denken, dass ihr in die entgegengesetzte Richtung geflohen seid. Es wird sicherlich eine Weile dauern, bis sie die Täuschung merken. Zeit genug, um ein kurzes Nickerchen zu machen.«
Er legte den Hauptkopf in seine Pfoten und schloss die Augen.
»Du kannst jetzt nicht schlafen«, herrschte sie das Wesen an. »Wenn sie hinter uns her sind, dann musst du uns bewachen. Wir wollen jetzt mit den Wiar sprechen. Sobald auch nur ein Nuria in unsere Nähe kommt, schlägst du Alarm, verstanden?«
Der Drache hob müde die Köpfe und nickte ergeben. Dieses Mal diskutierte er nicht, sondern erhob sich erneut in die Lüfte.
Dann wandte sie sich Vince zu. »Wir müssen hier einige Dinge besprechen, und meine Freunde vertrauen dir nicht. Ich weiß, dass ich dir ein paar Antworten schulde, aber das muss warten, da, wie du wahrscheinlich schon mitbekommen hast, die Nuria immer noch hinter uns her sind. Wie wäre es, wenn du dich etwas ausruhst? Ich könnte mir vorstellen, dass du dringend ein wenig Schlaf nötig hast.«
»Und du etwa nicht?«, brummte er unwillig. »Du bist nicht Superwoman, sondern auch nur ein Mensch.«
Sie musste unwillkürlich lachen. »Ich werde mich auch ausruhen. Keine Sorge.«
Er sah sie skeptisch an, machte sich dann auf dem Boden lang und schloss die Augen. Ihr reichte das als Antwort, und sie wandte sich an ihre Freunde, die sich bereits hingelegt hatten und sich auszuruhen schienen.
»Wir können später sprechen«, murmelte Eneas im Halbschlaf. »Nur ein paar Minuten, versprochen. Auch wir Wesen des Lichts brachen etwas Ruhe, zumal uns das Licht fehlt.«
Sie lächelte, legte sich zögerlich neben den Unsichtbaren auf den warmen Stein und war innerhalb von Sekunden eingeschlafen.
Lärm und Rufe weckten Ludmilla aus einem tiefen Schlaf. Jemand rüttelte sie an der Schulter, und sie konnte Nouks Schreie ausmachen.
»Sie kommen«, brüllte er vom Himmel. »Sie haben euch gewittert, ihr Schlafmützen. Eine Wache allein ist nicht genug, wie konntet ihr nur alle auf einmal einschlafen?«
Eneas packte sie und zog sie hoch. Auch jemand anderes hatte sie am Arm gefasst. Verwundert blickte sie Vince in sein rußverschmiertes Gesicht. In seinen Augen spiegelte sich das Feuer wider, das den Nuria vorauseilte. Sie sah sich nach Lando um, aber der war schon auf den Beinen und verwandelte sich in einen Adler.
»Ich versuche sie abzulenken«, rief er noch, bevor er die Vogelgestalt vollendet hatte.
»NEIN!«, schrien Eneas und Ludmilla im Chor. »Nicht schon wieder. Du bleibst bei uns.«
Ihre Worte hatten keine Wirkung, denn Lando hatte sich die Lüfte erhoben. Pfeile mit Feuerfedern surrten durch die Luft, und die Schreie der Nuria waren nun nicht mehr zu überhören.
»Nouk«, schrie sie. »Halte sie auf, so gut du kannst. Welche Richtung ist sicher?«
»Sie kreisen euch ein«, brüllte der kleine Drache. »Es gibt keinen Ausweg, außer in das Dorf der Wiar.«
Eneas packte ihre Hand, sie streckte die andere Hand nach Vince aus, der sie geistesgegenwärtig ergriff, und so schleifte der Unsichtbare die beiden hinter sich her. Ludmilla konnte schnell mithalten, aber Vince taumelte hinter ihnen wie eine Puppe an einem Seil. Zum Dorf war es nicht mehr weit. Die Nuria kamen immer näher.
Sie umrundeten einen Hügel, und da sah Ludmilla, wie sich ein kleines Tal vor ihr auftat, das leuchtete. Das musste das Dorf der Wiar sein.
»Lando«, schrie sie. Das Gejohle der Nuria war so laut, dass sie ihren eigenen Ruf kaum hörte. Währenddessen schritt Eneas auf das Dorf zu. Er hatte es als Erster fast erreicht, da wurde er, wie von einer Druckwelle erfasst, nach hinten geschleudert. Auch Ludmilla und Vince riss es von den Füßen. Sie landeten hart auf dem Rücken, während Eneas sich zur Seite fallen ließ, um nicht auf ihnen zu landen.
»Ein Schutzzauber«, stöhnte er. »Ich hätte es mir denken können. Und natürlich lassen sie uns nicht rein.« Weiter kam er nicht, denn ihre Verfolger hatten sie eingeholt.
Die Nuria trieben ihre Pferde an und umzingelten sie. Ludmilla erkannte Inaki unter ihnen. Und Hari.
»Da bist du ja wieder«, schnarrte das Oberhaupt der Nuria. »Hexe!«
Sie rappelte sich mühsam auf. Zu gerne hätte sie einen Blick in den Himmel gewagt, um nach Nouk oder Lando Ausschau zu halten, aber sie traute sich nicht. Stattdessen hob sie das Kinn. »Ihr wollt doch nur mich. Lasst meine Freunde gehen.«
Hari ließ sein höhnisches Lachen ertönen. »Nein, meine Liebe. Wir nehmen gerne das gesamte Paket. Schade, dass dein dritter Begleiter die Flucht ergriffen hat. Das wäre sicherlich ein besonderer Leckerbissen für die Schatten gewesen.«
»Die Schatten«, keuchte Ludmilla.
»Natürlich, kleine Hexe. Wir werden euch opfern, so wie wir es versprochen haben. Die Schatten freuen sich schon auf euch. Sie können es sogar kaum erwarten. In diesem Teil der Welt verirren sich nur wenige Wesen, und sie scheinen schon ganz ausgehungert zu sein.«
»Sie ernähren sich nicht von Schatten«, schrie Ludmilla den Häuptling an. »Sie sind Schatten. Sie fressen sich nicht gegenseitig.«
Hari reagierte nicht darauf. »Ergreift sie«, befahl er.
Inaki griff sich Ludmilla. Er hatte wieder Handschuhe an und stülpte ihr einen Sack über, der zum Glück oben offen war, so dass ihr Kopf rausschaute. Ein Nuria ohne Handschuhe griff sich Vince, der vor Schmerz aufschrie und sich freiwillig den Sack überwarf. Eneas, der sich nicht unsichtbar machen konnte, weil seine Mächte blockiert waren, fesselten sie die Hände mit einem Seil aus Leder und banden ihn an eines ihrer Pferde.
»Du bist schnell und groß genug und kannst laufen«, höhnte Hari. Ein Hass sprach aus seiner Stimme, wie Ludmilla ihn noch nie zuvor zwischen Wesen von Eldrid gehört hatte.
Fast ohnmächtig vor Wut und Angst hing sie wie ein nasser Sack über Inakis Pferd. Er hatte sie vor der Glut des Pferdes weitestgehend geschützt, dennoch wurde es sehr heiß. Der Sack schmorte vor sich hin, aber sie verbrannte sich nicht. Noch nicht. Wie hatte das passieren können? Schon wieder? Wieder waren sie auf dem Weg zum Schattendorf. Es war ein Teufelskreis. Würde ihnen auch dieses Mal die Flucht gelingen? Aik brauchte sie nicht zu fragen. Sie wusste, dass er keine Antwort auf ihre Fragen hatte.
Fieberhaft versuchte sie, einen Ausweg zu finden. Die Frage war, was beeindruckte die lebendigen Schatten? Kein Feuer, kein Licht, das ließ sie nur wachsen. Noch mehr Dunkelheit? Sie hatten nichts in der Hand, das sie gegen die Schatten verwenden konnten. Es war hoffnungslos. Verzweifelt ließ sie den Kopf hängen, so dass er gegen den Bauch des Pferdes stieß.
»Pass auf«, zischte ihr Inaki zu.
»Was soll’s«, murrte sie. »Jetzt ist eh alles zu spät. Nur noch ein Wunder kann uns retten.«
»Oder ich«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Du hättest auf mich hören sollen.«
»Warum? Die Explosion des Irrlings war die perfekte Möglichkeit für mich zu fliehen. Die musste ich wahrnehmen. Warum hast du mich überhaupt wieder eingefangen? Wir waren außer Reichweite für euch. Warum seid ihr hinter uns her?«
»Hari! Er hat den Schatten Opfer versprochen. Hier ist es schwer, Wesen zu finden, die geopfert werden können. Und solange ihr euch in unserem Land bewegt, seid ihr immer in unserer Reichweite.«
Sie schnaufte.
»Ich hatte versucht, ihn umzustimmen, glaub mir!«
Sie schwieg.
»Außerdem haben wir durch die Explosion des Irrlings einige Brüder verloren. Das hat ihn sehr verärgert. Er will dich nicht nur opfern, sondern dadurch auch seine Rachegelüste befriedigen.«
Das reichte ihr an Erklärungen aus. Ratlos starrte sie auf den schwarzen Boden. Sie würden Stunden unterwegs sein. Stunden, die sie wieder von den Wiar trennen würden. Tränen der Wut stiegen in ihr auf. Warum musste alles so schiefgehen in diesem Land von Eldrid? Sie hob den Kopf und sah Eneas am Ende des Trupps hinter dem Pferd her traben. Er sah unglücklich aus und erschöpft. Wo war Lando? Hatte er sich retten können? Und Nouk? Wo zum Teufel steckte dieser Kobolddrache? Über all diesen Fragen schlief sie irgendwann aufgrund des gleichmäßigen Ganges des Pferdes ein.