Achtunddreissigstes Kapitel
Die Nuria und die lebendigen Schatten
Von einem krampfhaften Schmerz im Magen wurde Ludmilla wach. Sie hing immer noch über Inakis Pferd.
»Inaki«, keuchte sie. »Bitte halt an.« Sie würgte.
Er drehte sich halb zu ihr um und zügelte das Pferd. Doch es war zu spät. Ihr Magen spielte Karussell. Sie stemmte ihre Hände gegen den Pferdebauch und übergab sich. Angewidert beobachteten sie die Nuria, wie sie alles aus sich herausspuckte, was sie in den letzten Tagen zu sich genommen hatte. Viel war das zwar nicht, aber es schmeckte widerlich. Das Gute daran war: Der ganze Trupp war gezwungen anzuhalten. Die Nuria versammelten sich um Inakis Pferd und betrachteten Ludmilla mit großem Interesse.
»Was tut sie da, Inaki?«, fragte einer.
»Sie kann doch gar keine Macht haben«, bedachte ein anderer.
»Was ist das für eine Flüssigkeit?«
»Ist sie giftig?«
»Ist das ihre Macht?«
»Hast du sie verbrannt, Inaki?«
All diese Fragen und noch viele mehr sammelten sich an und schwirrten über ihr wie eine Ansammlung von Schmeißfliegen.
»Lass mich runter«, keuchte sie. »Bitte!«
Inaki glitt vom Pferd und zog sie unsanft zu Boden. Um ein Haar wäre sie in ihr Erbrochenes gefallen. Sie wischte sich den Mund mit ihrem Ärmel ab und schaute sich um. »Wasser«, krächzte sie heiser. »Habt ihr Wasser? Bitte, nur einen Schluck!«
Die Nuria sahen sich verständnislos an.
»Irgendwas, womit ich meinen Mund ausspülen kann«, bettelte sie, während sie mehrfach auf den Boden spuckte. Der Geschmack war kaum zum Aushalten.
Inaki reichte ihr einen Lederbeutel mit einem Verschluss, der aussah wie ein Flachmann. Sie zog hastig an dem Korken und schüttete sich die Flüssigkeit in den Rachen. Kurz darauf fing sie an zu spucken und zu fluchen. Es brannte wie Feuer in ihrer Kehle und schmeckte nach starkem Alkohol.
Die Nuria brüllten auf vor Lachen, stiegen wieder auf ihre Pferde und setzten ihren Weg fort. Inaki erlaubte ihr, hinter ihm auf dem Pferd zu sitzen wie bei einem ihrer vorherigen Ritte. Das war wesentlich angenehmer, und inzwischen hatte sie keine Berührungsängste mehr. Sie zitterte am ganzen Körper, der von der Kotzerei und dem Alkohol durchgeschüttelt worden war. Ihr war schummrig vor Augen, aber sie wagte nicht, sie zu schließen.
In diesem Moment tauchte das Schattendorf vor ihnen auf. Sofort war sie hellwach und starrte auf die immer näher kommenden Zelte.
Inaki spürte ihre Anspannung. »Vertrau mir«, raunte er ihr zu. »Mein Plan funktioniert immer noch. Du musst nur mitspielen.«
Ludmilla nickte unmerklich, auch wenn sie nicht wusste, was sie davon halten sollte, aber sie hatte keine Wahl und nichts zu verlieren.
»Hilfst du nur mir oder auch meinen Freunden?«, fragte sie so leise wie möglich. »Der Unsichtbare ist mein Freund. Ich kann ihn nicht zurücklassen.«
Panik ergriff sie. Eneas durfte seinen Schatten nicht verlieren. Nicht wegen ihr. Das durfte einfach nicht passieren.
Inaki antwortete nicht, sondern sprang vom Pferd und zog sie hinunter.
»Wir sind da«, sprach er laut, und eine unerwartete Kälte lag in seiner Stimme. Er stieß sie unsanft in die Richtung von Hari. Dieser nahm ein Seil und band es um Ludmillas Hände.
»Das ist zwar nicht notwendig«, witzelte er. »Es sieht nur besser aus, und du machst dich gut als Opfer.«
»Ich bin kein Opfer«, schrie sie aufgebracht. »Meinen Schatten könnt ihr nicht opfern.«
»Ach nein«, erwiderte der Häuptling interessiert. »Und warum das nicht?«
Sie presste die Lippen zusammen und schwieg.
Er kam bedrohlich nahe an sie heran, so dass der von Feuer knisternde Zopf zwischen ihnen auf dem Boden hin und her baumelte wie eine Peitsche. Sie konnte das Feuer spüren und wäre gerne zurückgewichen, aber hinter ihr stand Inakis Pferd, das ebenfalls glühte. Sie schluckte hart.
»Das habe ich nur so dahin gesagt«, flüsterte sie und senkte ihren Blick.
»Das stimmt nicht«, donnerte Hari. »Du lügst. Ich sehe, dass dein Schatten mächtig ist. Habt ihr eine Verbindung? Ist es das?«
Sie starrte ihn entsetzt an. »Nein, das ist es nicht«, stammelte sie. »Wie kannst du sowas denken?«
Innerlich tobte ein Kampf in ihr. Sie machte sich Vorwürfe, dass ihr diese wichtige Information über ihren Schatten herausgerutscht war, weil sie sich und ihren Schatten nicht gefährden wollte. Die lebendigen Schatten hätten sicherlich großes Interesse an Aik und noch größeres, wenn sie erfuhren, dass er sich nicht von ihr trennen ließ. Am liebsten hätte sie allen entgegengeschrien, dass Aik ihr nicht genommen werden konnte, da sie mit ihm sprach und die Alte Kunst beherrschte. Sie war stolz darauf.
Hari trat zu Inaki und sie tuschelten miteinander, während sie Ludmilla prüfende Blicke zuwarfen. Inaki zuckte mehrfach mit den Schultern und hob die Hand. Sofort versammelten sich die Nuria im Kreis. Wortlos trugen sie einen schweren hohen Pfahl herbei und stellten ihn in ihrer Mitte auf. Er glühte am unteren Ende und verschmolz regelrecht mit dem Boden. Ludmilla musste sofort an die Spiele denken, die sie als Kind gespielt hatte. Indianer tanzten um einen Marterpfahl und zündeten ihn an. Natürlich hatten sie als Kinder die Stange nie angezündet, aber sie hatten so getan, als ob, und ihre Freunde hatten das nicht lustig gefunden. Heute hätte sie darüber lachen können, jedoch nicht in der Situation, in der sie sich gerade befand. Hatten die Nuria etwa dasselbe vor?
Sie zerrten Ludmilla, Vince und Eneas an den Pfahl und banden sie Rücken an Rücken daran fest.
»Inaki«, befahl Hari. »Überprüfe die Knoten. Sie sollen sich ja nicht befreien können.« Sein Lachen war abscheulich.
Inaki nickte und zog fest an dem Seil, so dass die drei Gefangenen aufstöhnten. Er kontrollierte jeden einzelnen Knoten und kam dabei gefährlich nahe an sie heran. Unbemerkt ließ er einen Funken auf das Seil fallen und zwinkerte Ludmilla unbemerkt zu. »Einfach über das Feuer springen«, raunte er ihr mit unbeweglichen Lippen zu. »Wenn ihr schnell genug seid, verbrennt es euch nicht. Wartet auf mein Zeichen. Vorher nicht, verstanden?«
Er wartete die Antwort nicht ab, sondern zog einen Feuerkreis um den Pfahl und die Gefangenen. Sofort fing das Feuer an zu lodern und zu zischen. Die Nuria fingen an zu schreien und zu tanzen. Jetzt sahen sie tatsächlich wie Kinder aus, die Indianer spielten. Nur, dass das Feuer echt war und die Bedrohung auch.
Vince schrie aus Leibes Kräften: »Ich unterstehe dem Schutz des mächtigen Spiegelwächters Zamir. Ihr müsst mich gehen lassen, sonst wird euch sein Zorn treffen!«
Die Nuria schienen ihn nicht zu hören, denn sie reagierten nicht auf seine Rufe. Stattdessen versammelten sie sich im Kreis um das Feuer, hielten sich an den Händen und ließen es auflodern. Dann riefen sie im Chor: »Oh, ihr mächtigen Schatten, seht, was wir euch dargebracht haben. Nehmt diese Opfer als Zeichen unseres Demuts und Respekts.«
»Zamir«, schrie er. »Kennt ihr Zamir? Er ist der mächtigste Spiegelwächter und bringt die Dunkelheit über Eldrid. Wollt ihr euch mit ihm anlegen?«
Ludmilla und Eneas zogen und zerrten währenddessen an ihren Fesseln, den Blick auf das Schattendorf gerichtet.
Vince brüllte weiter: »Zamir ist der Schöpfer der lebendigen Schatten. Ihm habt ihr das Schattendorf zu verdanken.«
Ludmilla stöhnte auf. »Bist du verrückt geworden?«, zischte sie ihn an. »Reicht es nicht, dass du nur deine eigene Haut retten möchtest?«
Vince warf ihr einen irritierten Blick zu.
»Sie hassen das Schattendorf«, erklärte sie, während sie unentwegt an dem Seil zog, das sie aneinanderfesselte. »Sie hassen die lebendigen Schatten.«
In diesem Moment hielt sie inne, denn der Gesang war verstummt. Die Nuria starrten Vince an.
»Wer ist verantwortlich für die lebendigen Schatten?«, donnerte Hari los.
»Zamir«, stotterte Vince. »Der mächtige Spiegelwächter. Der Schöpfer der Dunkelheit über Fenris.«
Das Knistern des Feuers übertönte seine Worte fast.
Hari trat ganz nah an den Feuerkreis heran. Er bebte vor Wut.
»Die Nuria haben eine Nachricht an diesen feinen Spiegelwächter Zamir. Er soll dieses Dorf hier verschwinden lassen. Wir sind bereit, das Licht mit ihm zu bekämpfen, aber ohne diese Kreaturen, die dort leben.«
Mit einem Finger deutete er auf das Dorf.
In diesem Moment drang ein unbestimmter Laut aus dem Schattendorf zu ihnen. Ein Kreischen, ein Stöhnen und ein Ächzen. Es war nicht auszumachen, woher genau es kam. Als diese Töne erklangen, sprangen die Nuria auf ihre Pferde und galoppierten davon. Inaki, der als Letztes die Feuerstelle verließ, wandte sich auf seinem Pferd nochmal um und formte mit den Lippen die Worte: »Jetzt noch nicht«.
Ludmilla starrte ihm ungläubig nach. Noch nicht? Wann dann? Instinktiv blickte sie in den Himmel und suchte ihn nach Nouk ab. Vielleicht war auch Lando in der Nähe und konnte nun helfen? Das Geräusch ertönte erneut, als würde ein verrostetes Tor geöffnet, und die Zelte, die in der ersten Reihe des Dorfes standen, lösten sich in Luft auf. Der Nebel, der über der Ebene lag, lichtete sich, und zwei Schatten erschienen. Verhüllt mit Umhängen und die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, glitten sie auf den Feuerkreis zu.
»Nouk«, fing Ludmilla an zu schreien. »Nouk, tu doch was. Befreie uns!«
Der Kobolddrache ließ sich nicht blicken. Sie zerrte wie wild an dem Seil, das sie zusammenhielt. Es löste sich nur langsam. Der Funke, den Inaki hatte fallen lassen, fraß sich nur sehr langsam durch den Strick.
»Eneas, kannst du über den Feuerkreis springen und uns mitziehen?«, frage sie aufgeregt, aber Eneas starrte wie paralysiert auf die zwei Schatten, die auf sie zukamen. »Eneas«, schrie sie und boxte ihn in die Seite.
»Wir müssen zusammen springen«, schrie Vince. »Entweder wir verbrennen oder diese Schatten bekommen uns zu fassen.«
»Eneas, bist du bereit?«
Er reagierte immer noch nicht.
»Lando, Nouk«, brüllte sie, so laut sie konnte. »Wir brauchen eure Hilfe!«
Endlich löste sich etwas aus der Dunkelheit über ihnen. Es war Nouk, der feuerspeiend auf die Schatten hinunterstieß. Er legte einen Feuerkreis um die Schatten, was diese kurz ablenkte. Für Ludmilla war das genug Zeit. Sie riss und zerrte an dem Seil, ebenso wie Vince, und konnte es schließlich lösen. Instinktiv packte sie Eneas und Vince an den Händen, schrie: »Nicht loslassen!« und mobilisierte all ihre Kräfte.
Sie wollte aus diesem Feuerkreis raus, hoch hinaus in den Himmel, und genau das würde sie jetzt tun. Sie dachte so angestrengt an ihre Mächte und daran, was sie gerade wollte, dass etwas in ihr explodierte, und – sie konnte es selbst kaum fassen – sie schossen in die Luft. Ludmilla dachte daran, dass sie fliegen wollte, und tatsächlich, sie flog. Streng genommen schoss sie nur kerzengerade in die Luft nach oben und riss den Unsichtbaren und den Taranee-Erben mit sich. Woher sie die Kraft dafür nahm, wusste sie selbst nicht. Sie hingen wie Säcke an ihr, und Vince schrie wie am Spieß. Ludmilla ließ nicht los. Sie hatte beide Hände fest umschlossen und konzentrierte sich auf ihre neue Fähigkeit. Sie konnte an nichts anderes denken als daran, dass sie wegwollte.
Irgendwann besann sie sich darauf, dass es sinnvoll wäre, die Richtung zu ändern, damit sie nicht wieder an derselben Stelle auf den Boden aufkommen würden. Als sie weit genug vom Schattendorf entfernt waren, ließ sie sich behutsam auf den Boden gleiten.
Eneas rappelte sich mühsam auf und starrte sie mit einem seltsamen Ausdruck in den Augen an. »Wie hast du das gemacht?«
»Ja, wie hast du das gemacht«, fragte Vince und stieß ihr in die Seite. »Ich fasse es nicht. Das ist Magie.« Er war völlig außer sich.
Sie zuckte mit den Schultern. Was sollte sie sagen? Sie hatte selbst keine Ahnung. Suchend blickte sie sich nach Lando und Nouk um. Sie brauchte nicht lang zu warten, da landete der Adler vor ihren Füßen und verwandelte sich in den Formwandler. Vince entfuhr ein »Wow«, da er sich daran immer noch nicht gewöhnen konnte. Lando starrte Ludmilla stumm und ernst an.
»Du hast es gesehen?«, fragte sie unsicher. Sie fühlte sich bei diesen vielen Blicken unwohl.
»Ich war die ganze Zeit dabei. Mit sicherem Abstand«, erklärte Lando knapp. »Wäre ich näher gekommen, hätte ich meine Gestalt verloren. Aber ja, ich habe es gesehen. Was hast du da gemacht und vor allem wie, Ludmilla?«
In diesem Moment landete Nouk vor ihren Füßen. Er drehte sich elegant einmal im Kreis und verneigte sich. »Jetzt weiß ich, wie mächtig du wirklich bist. Das war fantastisch«, posaunte er und klatschte mit seinen Pfoten.
Als er die eisige Stimmung bemerkte, wandte er sich an die Begleiter seiner Erweckerin. »Was habt ihr denn? Sie ist mächtig, supermächtig. Ihr könnt stolz sein, sie begleiten zu dürfen«, rief er voller Übermut.
Vince streckte plötzlich seinen Finger aus und zeigte auf das Schattendorf.
»Es brennt«, stammelte er. »Es brennt.«
Die drei Freunde wandten ihren Kopf und sahen, dass die vorderste Reihe der Zelte Feuer gefangen hatte. In der Nähe des Dorfes meinte Ludmilla, einen einzelnen Nuria erkennen zu können, der am Rand des Dorfes entlangritt und eine Feuerspur hinter sich herzog. Inaki?
»Wir müssen hier weg«, flüsterte Lando entsetzt. »Sie werden sich verteilen, und wir wollen ihnen auch außerhalb des Dorfes nicht begegnen.«
Eneas nickte ebenfalls, konnte aber seinen Blick nicht von dem Feuer lösen, das langsam die Zelte auffraß. Ein Hieb in seine Seite brachte ihn zur Besinnung.
»Schnapp dir diesen lästigen Taranee, und wir verschwinden. Wir müssen immer noch den Wiar einen Besuch abstatten.« Mit diesen Worten verwandelte sich Lando wieder in einen Jaguar und preschte voran.
Ludmilla starrte noch einen Moment auf das brennende Dorf. Lang genug, um zu sehen, wie ein Schatten, größer als alle anderen, aus den Reihen der Zelte heraustrat und mit einer Armbewegung das Feuer löschte. Seine feurigglühenden Augen starrten in ihre Richtung, und obwohl die Entfernung sehr groß war, meinte sie, dass sich ihre Blicke für einen Moment trafen. Ein Schlag durchfuhr sie, der ihr Herz gefrieren ließ. Wie als hätte sie jemand geohrfeigt. Dann wandte sie sich um und fing an zu rennen.