Einundvierzigstes Kapitel
Margot und Edmund
Vor dem Scathan-Haus parkte eine schwarze Limousine, und davor stand ein schwarz gekleideter Mann mit Schirmkappe auf dem Kopf. Als Edmund mit Margot das Haus verließ, ging er auf sie zu, nahm ihnen das Gepäck ab und öffnete die Türen zum Einsteigen.
»Wohin darf ich Sie fahren, Herr Taranee?«, fragte er.
Edmund nannte die Adresse des Dena-Hauses. Margot zuckte zusammen.
»Es ist helllichter Tag«, protestierte sie. »Sie werden auf uns warten. Das ist doch genau das, was sie wollen. Sie werden mich mitnehmen und mit mir Experimente durchführen.«
Der alte Taranee schüttelte den Kopf und schwieg. Als sie vor Margots Haus parkten, deutete er aus dem Fenster.
»Schau, Margot. Es ist niemand da. Wir können den Spiegel besuchen. Ich gebe kurz ein paar Anweisungen und werde dafür sorgen, dass wir bei unserem Besuch in Eldrid ungestört sind.«
»Ungestört in Eldrid?«
Er lachte kurz und höhnisch auf. »Nein, Dummerchen. Hier, in dieser Welt. Nicht, dass deine Paranoia doch keine ist und sie auftauchen, während wir in Eldrid sind. Ich könnte mir vorstellen, dass unsere Spiegelbilder sich nicht zu benehmen wissen.«
Er grinste unverfroren und stieg aus. Sie hörte ihn ein paar kurze Sätze mit seinem Fahrer sprechen, bevor er gegen die Scheibe klopfte. »Na komm schon, Margot. Es wird Zeit.«
Zögerlich ließ sie sich von ihm zum Hauseingang begleiten. Nervös blickte sie sich um, aber es war niemand da. Noch während sie überlegte, ob Franz die Suche nach ihr aufgegeben hatte, betraten sie gemeinsam das Haus. Edmund ließ ihr den Vortritt, wobei sie sich sicher war, dass es nicht aus Höflichkeit war.
Alles sah genauso aus wie sie es verlassen hatte. Es roch auch gleich. Als wäre sie nie weg gewesen. Es widerstrebte ihr zutiefst, ihr ehemaliges Gefängnis erneut zu betreten. Sie hätte so gerne mit diesem Haus abgeschlossen, aber der Spiegel, Eldrid und sogar Arden riefen nach ihr.
»Wo steht der Spiegel?«, fragte Edmund ungeduldig.
Stumm führte sie ihn geradewegs zum Spiegelzimmer.
Für einen Moment hatte sie den Eindruck, als bliebe Edmund ehrfürchtig vor dem Spiegel stehen, dann wandte er sich zu ihr um.
»Los, Margot. Wir haben nicht ewig Zeit. Lass ihn leuchten. Ich möchte ihn benutzen.«
Sie schluckte und hoffte, dass der Spiegel ihr nicht gehorchen würde, aber er antwortete mit einem goldenen, freundlichen Glühen. Wortlos trat der Alte auf das Portal zu und war im nächsten Moment verschwunden. Für einen Augenblick ergriff sie die Panik, als sein Spiegelbild neben ihr auftauchte.
»Worauf wartest du noch, du alte Schreckschraube. Husch, husch, hinterher.«
Edmunds Spiegelbild gab ihr einen unsanften Stoß und lachte höhnisch auf, als sie in den Spiegel hineinstolperte.
Margot landete dieses Mal schon etwas gekonnter in Ardens Höhle. Das Bild, das sich ihr bot, verwirrte sie.
Edmund Taranee stand in der Mitte der Höhle und hatte ihr den Rücken zugewandt. Arden sprang aufgebracht um ihn herum und schrie unentwegt: »Was willst du hier? Wer hat dich geschickt? Willst du mich etwa ausspionieren? So stellt ihr euch das vor? Das ist ja erbärmlich.«
Dann erblickte er Margot und hielt inne. Langsam und geduckt kam er auf sie zu. »Wie kannst du es wagen, dieses Exemplar durch meinen Spiegel reisen zu lassen?«, zischte er sie an.
Als sie nicht sofort antwortete, wandte er sich wieder an Edmund. Arden baute sich vor ihm auf und schien ihn, trotz seiner kleinen zierlichen Statur, zu überragen.
»Was willst du hier, schattenloser alter Mann?«, dröhnte der Spiegelwächter.
Margot setzte ein Lächeln auf und stellte sich neben Edmund.
»Er hilft mir«, sprach sie langsam und leise. »Wie du weißt, musste ich mein Haus und den Spiegel verlassen. Ich habe keine Bleibe, und Edmund hat mir freundlicherweise angeboten, dass ich vorerst bei ihm wohne. Er wollte dafür durch meinen Spiegel nach Eldrid reisen. Das habe ich ihm natürlich erlaubt.«
»Das ist nicht sein Spiegel, Margot«, zeterte der Spiegelwächter. »Das ist der Dena-Spiegel.« Funken stoben nach allen Seiten, während er zu Edmund herumwirbelte. »Warum reist du nicht durch deinen eigenen Spiegel? Zamir ist frei, und sein Spiegel funktioniert wieder.«
Edmund stierte überrascht von Margot zu Arden. »Du warst also hier, bevor du dich an Mina gewandt hast?«
Sie zog ihren Kopf ein und nickte unmerklich.
»Das hast du Arndt nicht gesagt, oder?«, stellte der alte Taranee weiter fest.
»Bist du taub?«, schrie Arden aufgebracht. »Ich habe dich etwas gefragt. Warum nutzt du nicht deinen eigenen Spiegel? Ich kann auf deine Anwesenheit verzichten.«
Erneut entlud sich ein goldener Funkenregen aus seinen Händen.
»Was ist in dich gefahren, Arden?« Edmund schien sichtlich verwundert. »Ich hätte mir denken können, dass du über meinen Besuch nicht erfreut bist, nur dass du dich derart aufregst?!« Er schüttelte missbilligend den Kopf. Arden hob an, etwas zu antworten, aber Edmund fuhr fort. »Und was bedeutet das, Zamir ist frei? War er eingesperrt?«
Der Spiegelwächter blickte Margot und Edmund im Wechsel an. »Ich habe keine Zeit für eine Geschichtsstunde. Lass dich von deinem Spiegelwächter aufklären. Oder traust du dich nicht, deinen Spiegel zu verwenden? Er könnte dich verbannen, genauso wie ich es gleich tun werde.« Er wandte sich an Margot. »Ihr verschwendet meine Zeit, oder hast du mir etwas zu erzählen?«
Ihr Kopf sank noch tiefer, und sie schüttelte ihn unmerklich.
»Was möchtest du denn wissen?«, mischte sich Edmund ein.
Arden blickte ihn spöttisch an. »Ich glaube kaum, dass du mir dabei weiterhelfen kannst.« Doch dann hielt er kurz inne. Ein breites böses Lächeln breitete sich über seinem Gesicht aus. »Warum nicht? Spielen wir das Spiel, Edmund. Dafür warst du ja schon immer zu haben, nicht wahr? Also: Was weißt du über die Scathan, die hier in Eldrid ihr Unwesen treibt?«
»Ludmilla?«, fragte der alte Taranee.
Arden nickte.
»Du willst etwas über Ludmilla wissen? Dann will ich etwas über den Aufenthaltsort meines Enkels wissen.«
Der Spiegelwächter blickte ihn stirnrunzelnd an. »Meinst du wirklich, dass du in der Position bist, Forderungen zu stellen, Schattenloser?«
Edmund schluckte.
»Ich kann dich mit einem Fingerzeig in das Dorf der Schattenlosen verfrachten. Dort wird dir dein überhebliches Auftreten nichts bringen.«
»Ich will nur wissen, wo mein Enkel ist«, stotterte der alte Taranee plötzlich. Margot sah ihn verwundert an. Hatte er tatsächlich Angst? Angst vor Arden? Genugtuung durchströmte sie.
»Mich interessiert dein Enkelsohn nicht. Ich kenne ihn nicht und weiß nicht, wo er sich aufhält. Also, was weißt du über Ludmilla?«
»Sie ist immer noch hier in Eldrid. Zu Hause ist sie zumindest nicht.«
Arden nickte. »Das hätte ich mir denken können.« Er funkelte die beiden an und hatte dabei einen irren Blick in den Augen. »Und jetzt verschwindet von hier und wagt es ja nicht noch einmal, einen Fuß in meine Höhle zu setzten. Es sei denn«, er hielt kurz inne, »ihr habt brauchbare Informationen für mich. Und Margot«, er zeigte mit dem Finger auf sie, »für unsere Absprache musst du etwas mehr liefern als einen verzweifelten alten Mann.« Ihm entfuhr ein höhnisches Lachen. »Und ich dachte schon, ihr wolltet mich ausspionieren. Dabei seid ihr mal wieder nur mit euch selbst beschäftigt. Ihr sorgt euch kein bisschen um Eldrid. Die Welt, die mit eurer verbunden ist und deren Portale ihr besitzt, interessiert euch gar nicht.«
Er breitete die Arme aus und schwebte über dem Boden der Höhle. Dabei fing sein gesamter Körper an zu glühen, und ein goldener Funkenregen fiel herab. »Ihr habt es nicht anders verdient. So sei es. So wird es geschehen.«
»Nein, wird es nicht«, hallte in diesem Moment Kelbys Stimme durch die Höhle. Margot zuckte zusammen, als sie den Spiegelwächter ihrer Freundin Hedda erkannte, wie er zu ihnen trat.
»Kelby«, lächelte sie. Weiter kam sie jedoch nicht, denn Arden fuhr dazwischen.
»Das hast du nicht zu entscheiden, mein lieber Bruder. Wir unterhalten uns, und diese alten gebrechlichen Menschen reisen dahin zurück, wo sie hergekommen sind.«
Noch bevor sie reagieren konnten, beförderte der Spiegelwächter die beiden mit einer Fingerbewegung durch den Spiegel. Edmund schrie auf vor Zorn, aber er konnte sich nicht wehren.