Dreiundvierzigstes Kapitel
Die Wiar
Ludmilla und ihre Freunde verharrten in ihrer hockenden Position vor der Mauer, als Bewegung in das Dorf kam. Kleine Wesen, nicht größer als Daumen, sammelten sich auf dem Platz in der Mitte der Siedlung. Sie waren alle weiblich, wunderschön, und sahen auf den ersten Blick alle gleich aus. Ludmilla musste sofort an diese kleinen Plastikpuppen denken, mit denen kleine Mädchen so gerne spielten. Die Wiar hatten lange dunkle Haare, die ihnen durchweg bis zu den Waden reichten und die sie offen trugen. Ihre kleinen Gesichter waren ebenmäßig, mit hohen Wangenknochen, großen Augen und spitzen Stupsnäschen. Ihre Haut war so hell wie Porzellan und hatte einen goldenen Schimmer. Sie hatten ein junges Aussehen, wie schöne junge Frauen, die gerade erst erwachsen geworden waren, mit wunderschönen weiblichen Rundungen. Um diese zu betonen, trugen die Wiar hautenge lange Kleider mit einem tiefen Ausschnitt.
Ludmilla wagte einen Seitenblick auf Lando und Eneas. Der Unsichtbare war fasziniert von dem Anblick der Dekolletees, während Lando unbeeindruckt schien. Der Formwandler blickte vielmehr über die Schar der Nymphen hinweg und versuchte, mit keiner von ihnen Blickkontakt aufzunehmen. Ludmilla konnte seine Anspannung regelrecht spüren. Als Lando bemerkte, wie Eneas die kleinen Wesen begierig anstierte, stieß er ihm in die Seite, so dass dieser zusammenzuckte. Der Unsichtbare blickte verlegen zu Ludmilla, die unwillkürlich grinsen musste. Lando war dies nicht entgangen.
»Versucht, ihnen nicht in die Augen zu schauen. Sie ziehen euch sonst sofort in ihren Bann«, zischte er. Ein Grinsen konnte er sich nicht verkneifen. »Auch wenn der Anblick sehr verlockend ist, Eneas, aber es ist keine gute Idee, so offensichtlich dorthin zu starren. Das mögen sie auch nicht. Eigentlich mögen sie gar nichts an uns, und das macht diese Situation so schwierig.«
Die Wiar, es mochten um die dreißig sein, hatten sich inzwischen in einem Kreis um das Feuer aufgestellt und blickten zu ihnen herauf. Eine von ihnen setzte sich auf einen Stuhl, dem an den Seiten große weiße Flügel wuchsen, und ließ sich damit auf die Höhe der Gesichter von den Dreien tragen.
»Und jetzt nochmal, damit es alle hören können: Wer seid ihr und was wollt ihr hier?«
Ihre Stimme war lieblich, hoch und zart. Und obwohl sie nicht laut gesprochen oder geschrien hatte, hallte sie über das Dorf hinweg, so dass alle Wiar und auch die Freunde sie gut hören konnte.
Lando ergriff das Wort. »Wir sind im Auftrag von Uri, dem mächtigen Spiegelwächter, hier. Wir benötigen die Hilfe einer Wiar im Kampf gegen die Dunkelheit.« Er senkte ergeben den Kopf. »Das ist Eneas, ein Unsichtbarer, Ludmilla, ein Menschenmädchen aus dem Hause Scathan, und ich bin ein Formwandler und heiße Lando.« Dann schwieg er und wartete, den Blick weiter gesenkt.
»Warum schaust du mich nicht an?«, säuselte die Wiar. »Bin ich nicht schön genug? Oder zu klein? Stoße ich dich ab?«
Lando schüttelte heftig den Kopf, Eneas tat es ihm nach, aber Ludmilla war erstaunt. Wollten die Hexen begehrt werden?
»Warum sollten sie von euch abgestoßen sein?«, entfuhr es ihr. Sofort senkte sie unterwürfig den Kopf. »Ihr seid alle wunderschön. Ich bin verzaubert. Außerdem seid ihr unbeschreiblich mächtig. Wir sind natürlich fasziniert von euch, wenn ich das so sagen darf.«
Die Wiar wandte langsam ihren kleinen niedlichen Kopf in Ludmillas Richtung. Sie lächelte spitz. »Das stimmt, wir sind wunderschön. Im Gegensatz zu dir, Rotschopf. Schlaksig bist du, und dir fehlen die richtigen Proportionen für eine schöne Frau. Einzig deine Haare sind ganz ansehnlich. Aber sie sind so kurz. Du solltest sie wachsen lassen und etwas mehr essen. Das würde dir sicher nicht schaden.«
Ludmilla schluckte. Mit einer persönlichen Anfeindung hatte sie nicht gerechnet. Noch während sie nach einer passenden Antwort suchte, fand Lando seine Sprache wieder.
»Selbstverständlich seid ihr wunderschön und begehrenswert. Es wäre töricht, euch abstoßend zu finden.« Er wählte seine Worte mit viel Bedacht. »Wir wären euch dankbar, wenn ihr uns anhören würdet. Es ist ungemein wichtig, und wir benötigen dringend eure Hilfe. Sonst würden wir es nicht wagen, euch zu stören.«
Jetzt lächelte die Wiar zuckersüß und blickte Lando in die Augen. »Wir hören.«
Lando erzählte von Zamir und den Schatten, von Godal und davon, wie Zamir ihn hatte lebendig werden lassen. Er erzählte von dem Dorf der Schatten und der Schattenarmee, auch das Erwachen der Berggeister erwähnte er. Die Wiar verzog keine Miene, ebenso wenig wie die anderen Hexen, die zu ihm emporblickten.
»Es ist dringend notwendig herauszufinden, ob es eine Möglichkeit gibt, Godal das Leben wieder zu nehmen. Er ist ein Schatten und durch Magie zum Leben erweckt worden. Vielleicht war es die Macht der Wiar, deren sich Zamir bedient hat.«
Die Wiar schüttelten synchron mit den Köpfen.
»Uns ist kein Schatten gestohlen worden. Wir sind vollzählig seit Jahr und Tag. Unsere Mächte kann Zamir nicht missbraucht haben, um den Schattenkönig zu erschaffen.«
»Es gibt keine andere Erklärung«, platzte es aus Ludmilla heraus. »Uri möchte eine Wiar persönlich dazu befragen. Wäre es möglich, dass eine von euch uns begleitet und selbst mit Uri spricht?«
Ein vernichtendes Gelächter erschallte. »Nein, Liebes. Wenn Uri Fragen an uns hat, dann muss er sich selbst hierher bemühen. Wir werden euch nicht begleiten, keine von uns.«
Ludmilla warf Lando einen hilfesuchenden Blick zu, aber er hob nur verzweifelt die Schultern.
Die Hexe auf dem beflügelten Stuhl warf sich ihr Haar in den Nacken und lachte besonders laut auf. »Ihr habt den langen Weg vergebens auf euch genommen. Es ist nicht unsere Schuld, dass Eldrid dem Untergang geweiht ist, und wir können nicht helfen. Wir sind nur ein kleines Volk mit unbedeutenden Kräften, die wir hauptsächlich zu unserem Vergnügen verwenden.«
»Also ist es euch gleich, was mit Eldrid passiert?«, murmelte Eneas plötzlich so leise, so dass sich die Wiar auf dem fliegenden Stuhl nach vorne beugte.
»Natürlich ist es uns nicht gleich!« Ihre Stimme wurde hoch, und Empörung schwang darin. »Wir können nichts tun. Was wissen wir schon von lebendigen Schatten, Dunkelheit und einer Schattenarmee? Wir haben hier ein angenehmes Leben und werden das nicht ändern.« Ihr Gesichtchen nahm einen strengen Gesichtsausdruck an. »Eldrid ist auch unsere Welt, aber wir sind nicht diejenigen, die sie zerstören. Wir respektieren unsere Schatten, sie können uns nicht genommen werden. Das solltet ihr am besten auch praktizieren. Dann hättet ihr kein Problem mehr.«
Lando ballte die Fäuste, jedoch konnte er sich zurückhalten und sprach nicht, sondern hielt Eneas am Handgelenk fest.
»Wir sollten gehen«, raunte er seinen Begleitern zu. »Ich hab euch doch gesagt, dass wir hier nichts erreichen können.«
»Und wenn wir euch dafür etwas geben?«, fragte Ludmilla plötzlich.
Die Wiar auf dem fliegenden Stuhl war schon fast wieder in ihrem Dorf gelandet. Sie wandte sich um und sauste empor. »Was meinst du damit?«
Ludmilla biss sich auf die Lippen. »Begehrt ihr irgendetwas, das wir euch geben oder beschaffen können? Im Austausch für eure Hilfe? Wäre das eine Möglichkeit, euch zur Hilfe zu …« – sie zögerte einen Moment, bevor sie es aussprach – »… bewegen?«
»Uns zu bewegen?«, empörte sich die Wiar und sauste auf Ludmilla zu. Bedrohlich nahe kam sie ihr mit ihrem fliegenden Stuhl, und Ludmilla machte instinktiv einen Satz rückwärts. In diesem Moment ertönte ein Pfiff aus der untenstehenden Menge. Die Hexe senkte offensichtlich beleidigt ihr Haupt und ließ sich zu Boden sinken. Dabei ließ sie es sich nicht nehmen, Ludmilla feindselige Blicke zuzuwerfen.
»Ich wollte euch nicht beleidigen«, versicherte sie.
Eine andere Wiar stieg nun auf einer Steinplatte empor. Sie flog diese Platte wie ein fliegendes Skateboard hinauf, und der Saum ihres Kleides wehte im Wind.
»Keineswegs. Wie könntest du uns beleidigen wollen. Du kannst es auch gar nicht«, entgegnete sie. Ihre Stimme klang nicht so weich wie die ihrer Vorrednerin. »Was hast du denn zu bieten?«
Ludmilla zögerte einen Moment. Sie konnte die Anspannung ihrer Freunde neben sich spüren und holte tief Luft. »Wir haben hier einen recht unerfahrenen, nicht ganz unansehnlichen Menschenjungen. Wir könnten ihn euch überlassen, wenn ihr versprecht, ihm nichts anzutun.«
Diese Wiar kniff die Augen zusammen, aber es geschah nichts. Stattdessen schien sie zu überlegen. »Ein Menschenjungen? Wie alt?«
»Etwas älter als ich.«
»Ansehnlich sagst du?«
Ludmilla meinte etwas Begehrliches in ihrem entzückenden Gesicht zu erkennen.
»Joa, er sieht nicht schlecht aus«, zwang sie sich zuzugeben.
Eneas japste hinter ihr. »Du kannst ihn nicht anbieten wie ein Stück Vieh. Das hat er nun auch nicht verdient«, flüsterte er in ihr Ohr.
»Warst du es nicht, der ihm die Pest an den Hals gewünscht hat?«, zischte Lando dazwischen.
Die Wiar warf den beiden einen missbilligenden Blick zu, und sie verstummten. Ludmillas Herz trommelte wie wild gegen ihren Brustkorb, als sie sich ihr wieder zuwandte.
»Wir schauen ihn uns an. Wenn er uns gefällt, dann behalten wir ihn ein Weilchen hier, bis ihr ihn abholt. So wie ich das sehe, scheint er euch lästig zu sein.« Sie lachte ein glockenhelles betörendes Lachen. »Das heißt aber nicht, dass wir etwas brauchen. Es scheint mir amüsant, und meine Schwestern und ich mögen ein wenig Abwechslung durch einen Menschen. Dafür scheint ihr umso dringender etwas von uns zu brauchen.« Sie winkte Ludmilla mit ihrer Hand heran. »Komm näher, Menschenmädchen. Ich möchte dich betrachten.«
Lando schrie »Nein, nicht«, aber Ludmilla hatte sich schon aufgerichtet, so dass die Wiar ganz nah an ihr Gesicht fliegen konnte.
»Oh, jetzt sehe ich es«, raunte sie ihr zu. »Du hast die Gabe.« Sie lächelte, so dass blitzweiße kleine Zähne zum Vorschein kamen. »Das ist einzigartig, großartig.«
Ludmilla starrte ihr in ihre bernsteinfarbenen Augen. »Was meinst du damit?«, fragte sie leise. Sie fühlte sich plötzlich wohl in der Gegenwart dieser Hexe, es kam ihr vor, als wären sie sehr vertraut miteinander.
»Du kannst Dinge zum Leben erwecken, wie wir«, lachte die Wiar. »Und du weißt es noch nicht einmal.«
Ludmilla sah sich nervös zu ihren Freunden um. Eneas zog an ihrem Hosenbein, aber sie konnte ihren Blick nicht von der Wiar lösen. »Na, ja, ich weiß es schon. Ich weiß nur nicht, wie ich diese Macht einsetzen kann.« Sie brachte nicht mehr als ein Flüstern hervor und hatte Angst, die vertraute Stimmung zu zerstören. Irritiert stellte sie fest, dass sie ihren Blick nicht von den Augen der Wiar lösen konnte.
Die Hexe nickte kurz. »Deine Magie unterscheidet sich von der unsrigen. Du denkst, dass du etwas siehst, was gar nicht da ist, und damit erweckst du es zum Leben.« Sie tippte sich an die Stirn. »Es ist deine Fantasie, deine Sicht, Dinge zu sehen und zu beobachten. Damit kannst du Wesen schaffen, entweder ganz neuartige Wesen oder solche, die es schon gibt, so wie den Kobolddrachen. Du hast ihn geweckt, weil du dachtest, du hättest etwas gesehen, das so aussah wie er.«
Ludmilla nickte. »Das stimmt! Woher weißt du das?«
Die Wiar lächelte. Es war ein mildes Lächeln. »Ich sehe deine Magie. Sie schwebt um dich herum wie eine Aura. Nicht viele Wesen in Eldrid können sie sehen, aber wir Wiar natürlich schon. Außerdem sehe ich den Kobolddrachen, und das ist die einzige Methode, dieses Wesen zu erwecken.« Nach einer kurzen Pause fuhr sie fort. »Du kannst ein neues Wesen erschaffen, das euch helfen könnte. Ich fände den Namen Willomitzer passend.«
»Was ist ein Willomitzer?«
»Den Willomitzer gibt es noch nicht. Du musst dieses Wesen erst noch in deinem Geist formen, und dann könntest du es Willomitzer nennen oder auch anders. Das wäre ein Wesen, das Schatten frisst. Vielleicht löst der Willomitzer eure Probleme, und ihr könnt Eldrid so retten.«
Sie zwinkerte ihr zu, wandte sich dann ab und sank auf ihrem fliegenden Stein hinab ins Dorf.
Ludmilla blinzelte mehrmals. Die Worte der Wiar hallten in ihrem Kopf wider, sie fühlte sich benommen, als hätte sie unter einem fremden Einfluss gestanden.
Währenddessen erklang ein Lied, das von den Wiar im Chor gesungen wurde: »Jetzt müsst ihr gehen. Wir dulden eure Anwesenheit nicht länger und sehen darin auch keinen Zweck. Solltet ihr nicht freiwillig gehen, dann werdet ihr nie wieder gehen können.«
Diese Aussage riss Lando und Eneas auf die Füße. Sie verbeugten sich hastig und drehten dem Dorf den Rücken zu. Eneas ergriff Ludmillas Hand und zog sie mit sich. Sie hörte die Stimme der Wiar in ihrem Ohr, die flüsterte: »Wir holen uns diesen Jüngling, das war unsere Abmachung. Ich gab dir etwas, das euch helfen kann, und deshalb lasst den Menschenjungen bei uns. Wir werden uns mit ihm vergnügen, und für euch ist er keine Last bei der Reise zurück zu Uris Höhle. Verliert keine Zeit. Hier ist es nicht sicher für euch.«
»Die Nuria erwarten euch«, sang nun der Chor der Wiar. »Gebt schön acht. Die Nuria, sie erwarten euch.«
Kaum hatten sie den Steinhügel umrundet und das Dorf war außer Sichtweite, flüsterte Lando: »Rennt, rennt so schnell ihr könnt«, und verwandelte sich in einen Jaguar.
Als Ludmilla zögerte, zischte ihr Eneas zu: »Wir besprechen alles später. Du hast sie ja gehört. Die Nuria. Sie sind uns auf den Fersen. Wir müssen hier weg.«