Siebenundvierzigstes Kapitel
Ardens Schatten
Uri rief hinter Kelby her, versuchte, ihn in Gedanken zu erreichen, aber Kelby reagierte nicht.
»Wir können ihn so nicht gehen lassen«, wandte er sich an Ada.
»Was schlägst du vor?« Sie sah ihn dabei nicht an und strich sich über das Kleid.
Uri schluckte. »Ich glaube, es wird Zeit, Ada.«
Sie blickte ihn unverwandt an. »Jetzt?«
»Ja, jetzt!«
Sie nickte.
»Hilf Kelby, Arden dran zu hindern, die Spiegel zu zerstören. Hilf ihm. Er schafft das alleine nicht, und ich bin zu schwach. Da hat er leider recht.«
Ada stand breitbeinig in Uris Höhle und sah im fest in die Augen. »Das sehe ich auch so. Es wird Zeit. Ich helfe Kelby, und Arden wird kein Problem mehr darstellen. Bist du dir sicher, dass Kelby auf unserer Seite steht?«
»Nein, da bin ich mir nicht sicher, aber er will Arden unschädlich machen, und das ist auch in unserem Sinne. Also verfolgen wir diesbezüglich dasselbe Ziel. Alles Weitere werden wir sehen.«
Ada nickte entschlossen.
»Bitte komm dann sofort wieder zu mir zurück. Ich brauche dich hier. Noch bin ich nicht kräftig genug, um mich selbst zu verteidigen. Du hattest recht, als du sagtest, dass du mich beschützen müsstest. Ich gebe es zu: Ich benötige deinen Schutz und deine Hilfe, und ich bitte dich hiermit darum.«
Ada lächelte ihn an. »Wenn ich dadurch all das Böse, die vielen Schattendiebstähle und das Leid, das ich verbreitet habe, wieder gutmachen kann?«
Er erwiderte ihr Lächeln. »Vielleicht nicht alles, aber einen Großteil bestimmt, liebe Ada. Und nun geh bitte. Ich vertraue dir.«
Sie umarmte ihn stumm und eilte Kelby hinterher.
Ada konnte Kelby nicht einholen, aber sie kannte sein Ziel. Als sie Ardens Höhle erreichte, hörte sie die beiden streiten. Ihre hellen schrillen Stimmen hallten zu ihr hinaus, aber sie verstand nicht, was sie sagten. Sie schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Sie konzentrierte sich auf ihren Schatten und dann sprach sie ihn an.
Wir müssen jetzt etwas tun, worauf ich nicht stolz sein werde.
Ich kann es mir schon denken , erwiderte die tiefe Stimme ihres Schattens in ihrem Kopf. Gleichzeitig erhob er sich hinter ihr wie eine riesige Rauchwolke. So schritt sie langsam, fast majestätisch, in Ardens Höhle.
Arden hatte dem Eingang den Rücken zugekehrt. Er schrie Kelby an, während er einen Feuerball nach ihm warf: »Du willst mich einfach nicht verstehen, wie kannst du es nur wagen, dich gegen mich zu stellen.«
Kelby erstarrte, als Ada die Höhle betrat. Sein Bruder bemerkte seine Reaktion und wandte sich langsam zu ihr um. Sie glitt auf ihn zu, ihren Schatten hinter sich aufgerichtet, und fuhr ihn an: »Wagst du es wirklich, die Spiegel anzurühren?«
Arden wich zurück. Rückwärts näherte er sich seinem Spiegel, wobei er Kelby mit einer einzigen Fingerbewegung beiseite schleuderte. »Du wirst mir nicht im Weg stehen, Bruder«, murmelte er, während Kelby ungebremst gegen die Höhlenwand knallte und wie ein Sack zu Boden fiel.
»Und du auch nicht, Ada Scathan!«, kreischte Arden. »Willst du mir etwa drohen? Ich kann es direkt jetzt und heute beginnen. Ich fange mit meinem Spiegel an.«
»Keinen Schritt weiter«, donnerte sie.
Arden hörte nicht auf sie. Er hatte den Spiegel fast erreicht, und dieser fing an zu leuchten.
»Es ist mir egal, welche Menschen sich jetzt noch hier aufhalten, dann werden sie wohl hierbleiben müssen. Was sind schon zwei Menschen? Die werden das Gleichgewicht nicht erschüttern.«
»Solltest du deinen Plan durchführen, wird er das Gleichgewicht erschüttern«, flüsterte Ada und hob eine Hand. Mit einer kurzen Bewegung schleuderte sie den kleinen Spiegelwächter an die Wand neben den Spiegel. Arden blieb dort fassungslos hängen. Er konnte sich nicht rühren.
»Was hast du vor?«, keuchte er, und goldene Flüssigkeit floss aus seinem Mund. »Willst du mich etwa umbringen?«
Sie lächelte und schüttelte den Kopf. »Das brauche ich gar nicht. Ich muss dich nur unschädlich machen.«
»Unschädlich?«, schrie er hysterisch. »Was heißt denn unschädlich? Was hast du vor? Du vergisst wohl, dass ich ein Spiegelwächter bin.«
Ada bewegte sich auf ihn zu und blieb kurz vor ihm stehen. »Kommst du nun zur Vernunft, oder willst du testen, wieweit ich gehe?«
»Welche Vernunft? Es ist das einzig Vernünftige, das Pentagramm der Spiegel zu deaktivieren.«
»Du wirst die Spiegel dabei zerstören, aber kennst du die Folgen?«
»Das Risiko muss ich in Kauf nehmen.«
Ada presste die Lippen zusammen. »Die anderen Spiegelwächter wollen dieses Risiko nicht tragen. Es tut mir sehr leid, Arden. Ich weiß, dass das kein Wesen in Eldrid verdient hat, aber ich muss es tun.«
»Was tun?«, japste er. Er hatte sich an den Hals gegriffen, als würde er gewürgt.
Ada hob nun beide Hände über ihren Kopf und murmelte einige Worte in der alten Sprache von Eldrid.
»Nein«, formten Ardens Lippen. »Nein, das kannst du nicht tun.«
Mit weit aufgerissenen Augen sah er zu, wie sich sein Schatten von ihm löste.
Ada schloss nun die Augen und sprach weiter. Ardens Schatten wandte sich von ihm ab und stellte sich neben Adas Schatten.
»Ada, nein«, flüsterte Arden fassungslos. »Du vergisst: Ich bin ein Spiegelwächter. Du schwächst unsere Gemeinschaft, wenn du mir meinen Schatten nimmst. Bodan hat ihn bereits verloren. Dann wären nur noch Uri und Kelby übrig.«
Sein Blick wanderte zu seinem Bruder, der auf dem Boden kauerte und die Szene fassungslos verfolgte.
»Tu doch was, Kelby«, krächzte Arden. »Lass sie nicht mit meinem Schatten die Höhle verlassen. Das kannst du nicht zulassen.«
Kelby rührte sich nicht, seine Augen waren geweitet, und Angst spiegelte sich darin wider.
Ada blickte ihr Opfer ernst an. »Es tut mir leid, Arden. Bitte verbanne dich in das Dorf der schattenlosen Wesen, so wie es in Eldrid verlangt wird. Du hast nun keinen Schatten mehr.«
Sie machte ein paar Schritte zurück, und auch die beiden Schatten entfernten sich. Kelby fing an, sich auf dem Boden zu krümmen, als erleide er die Schmerzen und nicht Arden, während sich sein Bruder an die Brust fasste und wieder würgte.
Voller Mitleid blickte Ada die beiden Spiegelwächter an.
»Ich wollte nicht, dass es so weit kommt, aber es musste sein, Arden. Du hast die Existenz von Eldrid gefährdet. Das konnten wir nicht zulassen.«
»Wer ist wir?«, presste Arden hasserfüllt heraus. »Du und Uri? Seid ihr nun das neue Paar am Himmel von Eldrid? Der kümmerliche machtvolle Rest, der noch übrig geblieben ist?«
Ada wandte sich zum Ausgang der Höhle, gefolgt von den beiden Schatten.
»Das wirst du noch bereuen, Ada Scathan. Bitterlich bereuen. Ihr habt keine Chance gegen Zamir. Ihr werdet Eldrid nicht retten«, schrie Arden hinter ihnen her, so laut er es vermochte.