Fünfzigstes Kapitel
Im Land der gleißenden Farben
Ludmillas Knie gaben nach und sie sackte in sich zusammen. Lando war an ihrer Seite und fing sie auf, Eneas kam ihm zu Hilfe. Vorsichtig ließ er sie zu Boden sinken. Sie spürte gar nichts mehr. Keine Magie, keine Kraft, keine Fantasie, gar nichts. Nur Leere breitete sich in ihr aus. Selbst die Hand zu heben kam ihr vor wie ein Krafttraining.
Aik , dachte sie matt. War’s das jetzt? Habe ich mich übernommen?
Wie meinst du das , fragte er nach.
Ist meine Magie verschwunden?
Er lachte kurz auf. Nein, du bist nur erschöpft, deine Magie und deine Kräfte sind immer noch vorhanden. Du hast sie nur für etwas eingesetzt, für das sie nicht geschaffen sind. Du wirst dich davon erst erholen müssen.
»Geht es dir gut?« Landos Stimme drang langsam zu ihr durch.
Sie öffnete die Augen und setzte sich benommen auf. Hatte sie das alles nur geträumt? Dann sah sie erleichtert, wie die Nuria vor dem Willomitzer flohen. Der Anblick der schattenlosen Feuerwesen, die kein Feuer mehr in sich trugen, war scheußlich. Diese sonst so stolzen und aggressiven Kreaturen gingen nicht mehr aufrecht, Angst zeichnete ihre Gesichter, und es war deutlich zu erkennen, wie nackt sie sich plötzlich fühlten. Einer von ihnen warf Ludmilla einen entsetzten Blick zu, der so viel aussagte wie: »Das haben wir nicht von dir erwartet, Hexe.« Dann waren sie nur noch schemenhafte Figuren in der Dunkelheit und schließlich verschwunden.
Ludmilla atmete auf. Endlich mussten sie nicht mehr fliehen. Lando und Eneas hatten sich neben sie auf dem Boden niedergelassen. Sie wirkten angespannt und stützen sie, als sie sich mühsam aufrichtete. Sie wollte dem Willomitzer nicht im Liegen begegnen. Wenigstens im Stehen wollte sie ihn zurückrufen, auch wenn sie dann immer noch zu ihm hochschauen musste. Das Wesen gehorchte aufs Wort, als sie es rief.
»Vielen Dank für deine Hilfe«, begann sie umständlich. Wie sprach man mit so einem Wesen? »Du brauchst jetzt keine Schatten mehr zu fressen, folge uns einfach, okay?«
Das Wesen antwortete nicht, schwebte aber ganz nah an sie heran und platzierte sich direkt über sie, wie ein zu großer Ballon, den sie an einer durchsichtigen Kordel bei sich führte.
»Das war ja mal eine Vorstellung«, krähte Nouk los und ließ sich vor Ludmilla auf den Boden gleiten. »Meine Herrin ist wirklich sehr mächtig«, prahlte er und beugte seine drei Köpfe. »Mir kann dieses Geschöpf nichts anhaben«, plapperte er weiter. »Die beiden«, er blies eine Stichflamme in Landos und Eneas’ Richtung, »sollten nun gut aufpassen, dass sie es sich mit dir nicht verscherzen.« Ein Lachen, das an das Meckern einer Ziege erinnerte, ertönte.
Ludmilla grinste kurz, das Lachen war einfach ansteckend, aber ihre Freunde rührten sich immer noch nicht. Wie gebannt starrten sie den Willomitzer an.
»Wir sollten hier verschwinden«, entschied sie. »Er wird euch nichts tun, das habe ich ihm gerade befohlen.« Sie wollte damit Zuversicht ausdrücken, jedoch zitterte dabei ihre Stimme. Dieses Wesen bereitete auch ihr großes Unbehagen, aber es hatte sie gerettet. Der Plan hatte funktioniert. Sollten sie dann nicht alle erleichtert sein?
Lando löste sich als erster aus der Erstarrung und räusperte sich. »Das war sehr beeindruckend …« Seine Stimme klang blechern.
Ludmilla nickte und drehte sich ihm zu. In diesem Moment gaben ihre Beine fast nach und sie stolperte. Der Formwandler griff ihr blitzschnell unter die Arme und hielt sie.
»Wir sollten vielleicht doch erst einmal eine Pause einlegen?«, sagte er sanft.
Eneas schüttelte den Kopf. »Lasst uns hier verschwinden. Die Nuria sind ein hartnäckiges Volk. Sie kommen wieder und sind vielleicht so verrückt und testen seine Kräfte erneut.«
Die beiden Wesen nahmen Ludmilla in ihre Mitte, stützten sie so lange, bis ihre Füße sie wieder von selbst trugen, und entfernten sich langsam von diesem Ort. Der Willomitzer schwebte majestätisch hinter ihnen. Seine Präsenz war schon aufgrund seiner Größe und der flachen Ebene von Weitem gut zu erkennen. Ludmilla spürte, wie sehr er gefürchtet wurde. Es dauerte nicht lang, dann folgte ihnen ein großes Heer von Nuria in sicherer Entfernung. Sie kamen nicht näher heran, und wahrscheinlich wollten sie nur sichergehen, dass Ludmilla und ihre Freunde ihr Land zusammen mit diesem Wesen, das Schatten fraß, verließ. Dennoch traute sie diesem Frieden nicht, so dass Ludmilla ihrem Kobolddrachen befahl, die Feuerwesen auszuspionieren.
»Versuche herauszufinden, was sie vorhaben, ob sie uns nochmal angreifen wollen, und lass dich nicht erwischen.« Sie lächelte den Drachen an.
Dieser nickte, schnitt eine freche Grimasse und flog davon.
Die drei liefen langsam weiter. Ihre Kräfte waren aufgezehrt, jeder Schritt tat weh, und Ludmilla sehnte sich eine Pause herbei, aber diese erlaubten sie sich nicht. Die Gefahr war noch nicht gebannt.
Nouk ließ nicht lange auf sich warten. Nach etwa einer Stunde war er zurück und verkündete zufrieden: »Sie wollen nur, dass wir verschwinden. Einen erneuten Angriff wird es nicht geben, und sie werden auch nicht versuchen, Ludmilla erneut gefangen zu nehmen. Sie haben zwar Feuerspeere vorbereitet, aber die Angst vor dem Schattenfresser ist zu groß. Sie lassen euch ziehen.«
Zufrieden nickte der kleine freche Drache und flatterte dann, ohne eine Antwort abzuwarten, wieder in die Luft.
»Zur Sicherheit überwache ich den Weg von hier oben«, krähte er vergnügt.
Nouk behielt Recht. Die Nura trauten sich nicht zu nahe an sie heran. Der Abstand war so groß, dass das Heer kaum zu erkennen war.
»Bist du sicher, dass er dir gehorcht?«, fragte Eneas nun schon zum zigsten Mal.
Geduldig versuchte sie ihn zu beruhigen. »Sonst hätte er doch schon längst unsere Schatten gefressen, oder?«
Er erschauderte, so dass seine durchsichtige Gestalt die Farben ständig wechselte wie ein verzerrtes Bild auf einem Bildschirm. Schnell fügte sie hinzu: »Ich bin mir sicher, dass er mir gehorcht.«
»Warum haben die Nuria seine Kräfte eigentlich nicht blockiert?«, fragte Lando, der seine Formwandlergestalt behalten hatte.
Ludmilla zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung, aber ich bin froh, dass es funktioniert hat.« Sie versuchte, unbeschwert zu klingen, konnte sich aber nicht verkneifen, dem Wesen skeptische Blicke zuzuwerfen. Es war ihre Kreation, jedoch hatte sie vieles auf die Schnelle nicht bedenken können und hoffte, keine Fehler gemacht zu haben. Der Willomitzer schwebte stumm über ihnen, fast wie ein Gespenst. Er war ihr nicht geheuer, auch wenn sie unendlich dankbar war, dass er sie vor den Nuria gerettet hatte.
So durchquerten sie langsam das abweisende Land und hatten nach vielen Stunden schließlich die Grenze zum Land der gleißenden Farben erreicht. Es war ein ganz besonderes Schauspiel in der Natur Eldrids. Das Land der Nuria endete mit einem schwarzen Vorhang. Dahinter erhob sich das gleißend bunte Licht des Landes der Unsichtbaren. Glintir! Es war tatsächlich eine Grenze. Eine Grenze zwischen Dunkelheit und Licht.
Als sie diese überschritten, hörten sie hinter sich das Gejohle der Nuria. Sie hatten sich am Horizont versammelt, reckten ihre brennenden Speere in die Höhe und ließen gellende Schreie ertönen.
»Das heißt wohl, dass sie froh sind, dass wir weg sind«, lachte Ludmilla erleichtert auf, und mit einem Mal fühlte sie sich wie befreit.
Eneas und Lando antworteten nicht, sondern stürzten sich auf das magische Licht, das gleißend vom Himmel fiel. Sie sogen es in sich auf wie Süchtige und ließen sich auf das bunte Gras fallen, das plötzlich den kargen dunklen Untergrund abgelöst hatte. Ludmilla betrachtete ihre Freunde, und ihr Herz machten einen Hüpfer. Endlich waren sie wieder im hellen Teil von Eldrid angelangt. Ihre Reise durch die Dunkelheit kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Insbesondere auf das Abenteuer mit den Nuria hätte sie gut verzichten können. Ein Stich versetzte es ihr, als sie an Vince denken musste. Nur kurz, sie bereute es nicht, ihn zurückgelassen zu haben, aber er tat ihr doch ein bisschen leid. Sie wusste immer noch nicht, was er im Schilde führte. Was wirklich sein Ziel war und auf wessen Seite er stand. Ihre Gedanken wurden von Nouks Schimpftirade unterbrochen.
»Das Land der Nuria ist mein Zuhause. Ich bin ein Geschöpf der Dunkelheit. Was willst du hier mit mir in diesem ekelhaften Licht?«, donnerte er ununterbrochen, bis sie ihm Gehör schenkte.
»Ich entlasse dich noch nicht aus deinen Diensten«, erwiderte sie bestimmt. »Du kannst nun aufhören, dich zu beschweren, oder soll ich den Willomitzer bitten, ein Auge auf dich zu werfen?«
Das meinte sie natürlich nicht ernst, aber diese Androhung reichte aus, um den Kobolddrachen kurz zum Schweigen zu bringen. Er drehte sich argwöhnisch zu der riesenhaften Gestalt um, die hinter ihnen herschwebte, ohne einen Ton von sich zu geben.
»Er kann mir gar nichts anhaben«, plärrte er. »Ich habe keinen Schatten, den er fressen kann.«
»Die Frage ist nur, ob der Willomitzer vielleicht auch noch andere Sachen kann, von denen wir bisher nichts wissen, und ich könnte dich als Versuchskaninchen deklarieren.«
Eine trotzige Grimasse war die Antwort. Dann kam der Drache ganz nah an sie heran und zischte: »Spricht es auch?«
Sie hob die Schultern. »Probiere es aus.«
Der Nebenkopf spie Feuer, und der Hauptkopf schüttelte sich so heftig, dass der Drache an Höhe verlor und fast auf dem Boden gelandet wäre.
»Dann lass es. Hauptsache ist doch, dass er mir gehorcht, oder?«, lachte sie.
Ludmilla ließ sich neben ihren Freunden in das glitzernde Gras fallen und bestaunte die Schönheit des Landes. Sie befanden sich auf einem Hügel, einer Art Anhöhe, von der aus sie einen guten Ausblick hatten. Wohin ihr Auge reichte, sahen sie Felder, die in allen nur erdenklichen Farben leuchteten. Sanfte Hügel durchzogen das Land, und die Farben waren so leuchtend, dass Ludmilla die Augen zusammenkneifen musste. Alles sah unwirklich aus, selbst der kleinste Grashalm glitzerte und glänzte und wechselte ständig die Farbe.
Ihr Freunde lagen mit dem Rücken auf dem Boden und atmeten die klare frische Luft ein. Eneas’ durchsichtiger Körper glitzerte in den gleichen Farben wie sein Heimatland, und auch Landos Gesichtsfarbe nahm einen frischeren Ton an. So lagen sie eine Weile einfach nur da und genossen die Ruhe. Hier schien alles noch in Ordnung zu sein. Keine Schatten, keine Dunkelheit, kein Zamir und seine Gefolgschaft. Sie waren an einem sicheren Ort. Zumindest fühlte es sich für Ludmilla so an.
Nachdem sie sich lange ausgeruht und schweigend die Schönheit des Landes bewundert hatten, brachen sie auf. Langsam setzten sie sich in Bewegung, Lando behielt seine Formwandlergestalt bei, und Eneas lief vor. Er war aufgeregt und zugleich stolz auf seine wundervolle Heimat. An den Hügeln und Feldern führte ein geschwungener befestigter Feldweg entlang, der ihnen die Reise erleichterte. Die vielen Farben beschwingten sie. Selbst der Kobolddrache schien nach einer Weile gute Laune zu bekommen.
Nach ein paar Stunden näherten sie sich einer Siedlung aus wenigen, aber sehr großen Hütten, die mit Strohdächern bedeckt waren.
»Das ist mein Heimatdorf«, rief Eneas übermütig und lief voraus. »Ich kündige euch an, wartet ihr solange bitte hier?«
Ludmilla lächelte und ließ sich ins hellrosa Gras fallen. Sie verspürte Erleichterung, Freude und gleichzeitig Hunger und Müdigkeit. Sie hatten es geschafft. Zwar war es keine Wiar, die sie Uri brachten, aber einen Willomitzer. Der Willomitzer würde alle Probleme lösen und Eldrid von den Schatten befreien, davon war sie überzeugt. Noch während sie verträumt in den Himmel blickte, fing Nouk hysterisch an zu schreien.
»Ludmilla!« Rauchwölkchen entfuhren seiner Nase auf dem Hauptkopf. »Er will verschwinden.«
Sie fuhr herum. Der Willomitzer schwebte geradewegs auf das Dorf zu. Die ersten Unsichtbaren traten aus ihren Hütten und schrien entsetzt auf.
»Hey«, schrie Ludmilla und rannte los. »Hey! Ich habe dir nicht gestattet, dich von mir zu entfernen«, war das Erste, was ihr einfiel.
Der Willomitzer machte halt und wandte sich um. Er schwebte auf sie zu und kam ihr dabei gefährlich nahe.
»Du hast mir gar nichts befohlen. Wenn ich keinen Befehl von dir habe, kann ich machen, was mir beliebt, und mir war gerade danach, ein paar Schatten zu fressen.« Die Stimme des Kapuzenwesens war tief und donnernd.
Ludmilla schluckte und versuchte, sich zusammenzureißen. Innerlich zitterte sie. »Du frisst jetzt keine Schatten. Du bleibst bei mir und rührst dich nicht von meiner Seite. Ich erlaube dir, Schatten zu fressen. Das entscheidest nicht du.«
Sie kehrte zu Lando zurück, der Willomitzer schwebte über ihr und schwieg. Der Formwandler warf ihr einen wissenden Blick zu.
»Das hilft mir jetzt auch nicht«, zischte sie, während sie sich wieder neben ihn ins Gras setzte. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie kontrollierte erneut, dass die Kreatur ihr gehorchte.
»Mach das nie wieder«, fuhr sie das Wesen an. »Du sollst nur lebendige Schatten fressen oder solche Schatten, die ich für dich aussuche. Das darfst nicht du entscheiden.« Sie versuchte, Klarheit und Strenge in ihre Stimme zu legen, aber diese zitterte zu sehr.
Der Willomitzer antwortete nicht.
»Du hättest ihn doch mehr an dich binden sollen«, zischte Lando. »Jetzt haben wir ein Problem.«
Sie boxte ihm mit der Faust in die Seite und blitze ihn an. »Das weiß ich selbst. Danke.«
Zu ihrer Verwunderung lächelte er. »Er hat uns vor den Nuria gerettet. Wir kriegen das schon hin. Er darf nur keine Schatten von den Wesen des Lichts fressen. Dafür musst du sorgen, okay?«
Sie nickte erschöpft und legte sich wieder ins Gras. »Du bleibst hier und frisst keine Schatten, verstanden«, befahl sie ihrer Schöpfung, und dann schloss sie die Augen.
Ihre Ruhe dauerte nicht lange an, denn Eneas’ Rufe drang zu ihnen herüber. Er wartete schon voller Ungeduld am Rand des Dorfes auf sie.
»Meine Familie möchte euch kennenlernen.« Seine Stimme war übermütig und voller Stolz. Er stand vor einer der Hütten, dessen Tür offen stand, und bat sie herein. Sogar Nouk und der Willomitzer sollten eintreten.
»Die Dorfbewohner haben Angst vor ihm, also ist es besser, wenn er mit uns hier drinnen ist«, erklärte Eneas leise.
Die Hütte war für die Bedürfnisse der riesenhaften Unsichtbaren gebaut, aber es befand sich nicht viel darin. Eine Feuerstelle, ein paar Strohballen auf dem Boden sowie Schlafstätten, die sich ebenfalls auf dem Boden ausgebreitet waren.
»Wir brauchen nicht viel«, erklärte Eneas, der Ludmillas aufmerksamem Blick befolgt war. »Kommt, setzt euch. Meine Mutter hat extra eine Suppe für uns aufgesetzt.«
Eneas’ Eltern waren ein Stück größer als er, genauso durchsichtig, und ihre Köpfe waren noch länger gezogen. Seine Mutter schimmerte in helleren zarten Pastellfarben, während sein Vater die dunkleren Töne wie Grün und Blau zu bevorzugen schien. Herzlich, aber etwas zurückhaltend, begrüßten sie Eneas’ Freunde. Ludmilla nahm sofort den wohltuenden Geruch der Suppe wahr, und ihr Magen begann zu knurren. Sie hielt sich verlegen den Bauch und fing an zu lachen.
»Tut mir leid, ich habe sehr lange nichts mehr gegessen.«
Die Unsichtbaren stimmten in ihr Lachen ein, und Eneas’ Mutter drückte sie sanft auf einen der Strohballen. »Die Suppe ist gleich fertig. Sie wird dir gut tun und dich stärken. Wir wollen alles über eure Reise und Abenteuer hören.«