Einundfünfzigstes Kapitel
Ilios im Nebel
Die Reisenden blieben nicht lange bei Eneas’ Eltern, aber lang genug, um sich zu stärken und auszuruhen. Dabei achteten sie penibel darauf, dass der Willomitzer so genaue Anweisungen von Ludmilla erhielt, dass kein Schlupfloch für ihn offen blieb. Bei ihrer Abreise überreichte Eneas’ Mutter Ludmilla ein zusammengebundenes Tuch mit duftenden Backwaren und einer Fellflasche mit Band.
»Reiseproviant. Eneas liebt meine Brötchen. Wir brauchen das Essen nicht, aber wir genießen gern. Also essen wir, so wie ihr Menschen.« Sie lächelte Ludmilla offen an, und diese bedankte sich herzlich.
»Pass gut auf meinen Sohn auf«, wandte sich Eneas’ Mutter an Lando. Plötzlich war ihre Stimme sehr ernst. »Er vertraut dir, und er liebt dich. Enttäusche mich nicht. Und passt bitte alle gut auf eure Schatten auf!«
Sie umarmte ihren Sohn, Ludmilla und Lando und dann waren sie schon wieder auf dem Weg.
Ludmilla genoss den Weg durch das Land der gleißenden Farben sehr. Ihre Augen hatten sich an die Helligkeit und die Farben gewöhnt, und auch wenn es nicht viele Wesen zu entdecken gab, so war schon allein das Licht Grund genug, gute Laune und Zuversicht zu haben. Viel zu schnell erreichten sie die Grenze zu Ilios. Das Land der gleißenden Farben war, im Vergleich zum Land der Nuria, sehr klein, so dass seine Durchquerung keine Tagesmärsche in Anspruch nahm.
Ludmilla war ein wenig enttäuscht, als sie sich der Grenze näherten. Zugleich war sie aufgeregt. Sie betrat nun das Herz von Eldrid. Den sphärischen Teil. Das Land von Eldrid, in dem das Licht so hell war, dass fast alles durchsichtig erschien. Uri hatte ihr mehr als einmal deutlich gemacht, dass es eine Ehre sei, Ilios zu betreten, und dass sich alle Wesen von Eldrid nach dem sphärischen Licht sehnten. Ein reineres und kraftvolleres Licht gebe es in Eldrid nicht.
Ludmilla fragte sich, ob sie dies auch als Mensch bemerken würde. Aufmerksam beobachtete sie ihre Gefährten, als sie die Grenze überschritten. Eneas und Lando zögerten regelrecht und setzten ehrfürchtig den Fuß über die unsichtbare Barriere.
Schlagartig änderte sich das Licht. Die Farben verschwanden. Das, was sie in Ilios erwartete, war alles andere als hell und sphärisch. Das Licht war mit Grau angereichert, und über dem Land hing eine dicke Nebelwolke. Lando und Eneas beschleunigten plötzlich das Tempo.
»Was ist hier los?«, fragte sie ihre Begleiter.
Diese hoben nur verzweifelt die Schultern.
»Das Licht. Das sphärische Licht«, japste Lando fassungslos. »Es wird bedroht. Es hat nicht mehr die Kraft, die es einmal hatte.«
Sein Gesicht war blass, während Eneas’ Augen sich mit Tränen füllten.
»Das kann nicht wahr sein, was geht hier vor?«, flüsterte er unentwegt vor sich hin.
Ludmilla blickte an den Himmel, der von einer dicken Wolke verhangen war. Keine Schattenwolke, aber eine Wolke, so wie sie sie aus ihrer Welt kannte. Sie war grau und hatte etwas Tristes an sich, als würde sie Regen und Unwetter vorhersagen. Voller Fragen und Sorgen wandte sie sich an Eneas und Lando, aber die bemerkten sie gar nicht. Sie eilten voraus, den Blick an den Himmel geheftet.
Ludmilla wusste, was sie hofften und suchten. Es war nicht da: das sphärische Licht von Ilios.