Die Verwandtschaft der Toten

Die simple, wenn auch verwirrende Wahrheit war, dass die Frau, die in der Kiste verwesen sollte, sehr lebendig war; jemand anderes lag darin, auch wenn das noch niemand wusste.

Für den Angestellten, der die Akten im Keller nach Auroras persönlichen Daten durchforstete – wobei er immerzu Flüche ausstieß über den Geldmangel seiner Dienststelle, der die Anschaffung von Computern und Deckenventilatoren verhinderte –, gab es keinen Grund, weiter zu suchen als nach dem ersten Ordner, der zu dem vorliegenden Fall passte, nämlich: CABAHUG, AURORA V., der Einfachheit halber gelistet zwischen CABAGNOT, CHARLSON D. und CABAHUG, EUGENIA M.

Da waren Haushaltshilfen, Köche, Fahrer, Tänzer, Klempner, Konstrukteure, Schweißer, kräftige Seeleute und andere Vertreter aller möglichen Dienstleistungen und Gewerbe, die ihre Küchen, Ställe, Klassenzimmer, Fruchtstände, Videoke*-Bars, Schuh- und Gummifabriken verlassen hatten auf der Suche nach besseren Jobs – auf tobender See oder brennendem Sand, von Singapur bis Stockholm, London bis Lagos, Riad bis Reykjavik, in zwielichtigen Kaschemmen und auf Bohrinseln, in Pflegeheimen und Konservenfabriken, Welle um Welle über all die Meere und Ozeane hinweg, die ihre Inseln umschlossen.

Nach Einschätzung der eigenen Regierung gab es über acht Millionen dieser Oversea Workers überall auf dem Planeten gegen Ende des Jahrhunderts – ein langes Jahrhundert, in dem vermutlich ein paar wenigen Filipinos aufregende Dinge widerfahren waren, während es für die meisten anderen eher irgendein trostloser, nicht enden wollender Donnerstag gewesen war. Eine nervöse Folge von Kriegen und Revolutionen hatte ihnen kaum etwas gebracht, das wirklich neu und großartig war, die Armen und Verzweifelten schlossen sich den Mutigen und Gelangweilten in der Schlange der Abreisenden an, umklammerten ihre gefälschten Designertaschen und ihre frisch gedruckten Pässe.

Für viele von ihnen war dieser Sprung nach Hongkong und Singapur (und von dort nach Dubai, Frankfurt und noch weiter) der allererste Flug in ihrem Leben. Sie würden Land verkauft, sich tief verschuldet oder schwere Verhandlungen mit Gott und einem Arbeitgeber geführt haben für diesen schicksalhaften Sprung in ein neues Leben. Vor der Abreise würden ihre Augen funkeln vor purem Ehrgeiz, der sie zu außergewöhnlichen Gelöbnissen und Versprechungen verleitete: sich niemals zu ändern, niemals zu vergessen, und niemals ohne Erfolg in der Tasche zurückzukehren. Sie würden klatschen und nervös kichern, sobald das Flugzeug abhob, und noch eine Stunde später würden sie, wie benommen, unfähig sein, die ganze Weite des Horizonts zu erfassen. Ihre Ziele würden zu tröstlichen Mantras auf ihren Zungen werden, schwer und beladen mit dem Mysterium des bisher unbekannten: O-sa-ka, LON-don, ROT-ter-dam, DOha, Ni-CO-sia, Bei-RUT.

Ungefähr eine Million blieb in der Asien-Pazifik-Region; die zwei Amerikas und der Nahe Osten zählten offiziellen Zahlen zufolge jeweils über zwei Millionen, und eine weitere Million war über Europa verstreut. Nur ein Bruchteil dieser Namen war in diesem feuchten und fensterlosen Keller verzeichnet; der Zentralrechner, der sie alle erfassen könnte, müsste erst noch installiert werden. Tatsächlich waren es mit Sicherheit ein paar Millionen Filipinos mehr, die auf keiner Liste, nur in den vagen Erinnerungen der Zurückgebliebenen auftauchten – die Verschwundenen und die freiwillig Ausgewanderten, die Leichtfüßigen und die Gerissenen, die Auferstandenen und die Wiedergeborenen.

Es gab vielleicht fünf oder sechs weitere Cabahugs in dieser untersten Schublade, die bis zu CALIMLIM, NORELYN O. reichte – die Castros alleine teilten den nächsten Schrank unter sich auf –, aber der Angestellte hatte gefunden, was er suchte, zog den Ordner heraus, um abzuschreiben, was er brauchte. Das war der unangenehmste Part der ganzen Arbeit, denn es gab keine Schreibunterlage in Reichweite, und so musste er entweder auf Zehenspitzen stehend die Oberseite des Schranks nutzen oder sich auf den Boden kauern und kniend schreiben. Der Angestellte entschied sich für ersteres, er wollte seine Hose nicht zerknautschen, und kämpfte wie ein schlechter Tänzer mit einem vollkommen unbeweglichen Partner. Zum Glück gab es nicht viel aufzuschreiben: eine Adresse (Gardenia Street 17, Bagumbayani Village) in einer Stadt namens Paez, von der er noch nie gehört hatte; ein Geburtsdatum (6. Juni 1975); der Familienstand (ledig); der Name des Arbeitgebers (Khaled al-Mansur); eine Adresse an der Küste in Jeddah; und ihre Personalagentur (Heroic Manpower Consultants), mit Sitz in Guadeloupe Viejo, Makati. Wenn sie verheiratet gewesen wäre, wäre ihr Ehemann als nächster Verwandter aufgeführt; in diesem Fall stand dort nichts, da sie angegeben hatte, ledig zu sein.

Der Angestellte machte einen Vermerk, ein Telegramm an den Polizeichef der Heimatstadt der Verstorbenen zu schicken; die würden sich um den Rest kümmern. Früher hatte die Dienststelle selbst jemanden losgeschickt, um die Verwandten aufzusuchen, an ihre Tür zu klopfen und die bittere Nachricht zu überbringen. Das hatte bald zur Folge, dass die Hälfte der höheren Angestellten das ganze Jahr über herumreisten und sich dabei darin übten, möglichst traurig auszusehen und ihre sanfteste Tonlage aufzulegen, um dann ausnahmslos mit säckeweise Otap, Barquillos, Durian*, oder was auch immer die örtliche Spezialität war, zurückzukehren. Selbstredend entwickelte sich daraus eine natürliche Hierarchie: Cebu, Davao, Palawan und Baguio fielen an Abteilungschefs und ihre Assistenten, deren Günstlinge auch ihren Teil abbekamen. Merkwürdigerweise entwickelte sich das Verfahren mit der Zeit so, dass die Akten immer weniger und dünner wurden, und die Namen der nächsten Verwandten sich entweder selbst löschten oder offenbar niemals aufgeschrieben worden waren, sodass aufwändige Dienstreisen draußen in der Provinz notwendig wurden. Das ging relativ ungestört so weiter, bis, alarmiert durch den Schwund des Budgets und der Mitarbeiterzahl, der Dienststellenleiter eine Vereinbarung mit dem Direktor der Landespolizei schloss, mit der letzterem die unerfreuliche Verantwortung übertragen wurde, die Verwandtschaft der Toten ausfindig zu machen. Um diesen Handel zu versüßen, ermöglichte eine Zusatzvereinbarung den beiden Chefs, die Umsetzung dieser Maßnahmen einmal im Jahr gemeinsam zu überprüfen, an einem Ort ihrer Wahl – das erste Treffen sollte im Rahmen des nächsten ILO*-Meetings in Genf stattfinden, sodass beide noch gewichtigere Gründe hatten, daran teilzunehmen, als die Mitglieder der fünfunddreißigköpfigen philippinischen Delegation. Der Angestellte, der die Dokumente durchforstete, war nicht begeistert von dieser Vereinbarung, schließlich war sie genau zu dem Zeitpunkt in Kraft getreten, als er selbst gerade dran gewesen wäre, einer Stadt namens Camalaniugan einen Besuch abzustatten, irgendwo im Norden. Wo immer sie war und was immer sie zu bieten hatte, er würde es nie erfahren, war er doch durch ein Telegramm ersetzt worden, das er auch noch selbst aufsetzen musste. Das Cabahug-Telegramm erreichte – nachdem es zuerst vom direkten Vorgesetzten des Angestellten genehmigt, gegengezeichnet und dann von einem Boten ins Telegrafenamt gebracht werden musste – Paez um zwei Uhr nachmittags an jenem Montag. Eine Stunde später kam es per Fahrrad im Polizeihauptquartier in Paez auf der Rückseite des Rathauses an, wo der diensthabende Polizist sein Schachspiel mit dem Hilfswärter des Stadtgefängnisses unterbrach, um es ins Eingangsbuch einzutragen. Der Chef der Polizei, an den das Telegramm adressiert war, hielt sich gerade in Del Monte auf und nahm seine Aufgabe als einer von sieben Taufpaten der jüngsten Tochter des Vizegouverneurs wahr. Und so würde dieses Stück Papier zwischen den kaffeebefleckten und zerknitterten Seiten des Eingangsbuches die Nacht verbracht haben, wäre es nicht SPO2* Walter G. Zamora gewesen, der die Nachtschicht übernahm und wäre es nicht Walter Zamoras Gewohnheit gewesen, beim Reinkommen das Eingangsbuch durchzublättern, noch bevor er seine Stechkarte gestempelt hatte, natürlich nur, wenn er etwas zu früh dran war.

Und Walter war ziemlich häufig früh dran, nicht nur, weil es zuhause wenig zu tun gab – in dem Zimmer, das er von Aling Naty gemietet hatte, über der Videothek, neben der Billardhalle –, sondern auch, weil er so noch etwas Zeit hatte, im Büro des Chiefs einen Blick in die Zeitungen des vergangenen Tages zu werfen, die aus Del Monte geliefert wurden. Als Polizist unteren Ranges hatte er dort eigentlich nichts zu suchen, es sei denn, der Chief rief ihn persönlich zu sich, was ab und zu passierte; aber die Sekretärin des Chiefs mochte ihn, und sie duldete sein Kommen und Gehen in der stillen Erwartung, dass er sie dafür eines Tages ganz besonders belohnen würde. Tatsächlich konnte Walter schwerlich, Ms. Principe ausgenommen, als Frauenschwarm gelten. Er war gerade mal etwas über einen Meter fünfzig groß und breit gebaut wie ein Boxer; seine Haut hatte Flecken, war an einigen Stellen dunkler, wie etwa am Nacken hinter und unter den Ohren und auf den Handrücken. Wenn Ms. Principe ihm die Schuhe ausgezogen hätte, wären ihr die Fersen aufgefallen, hart und rissig wie Pergamentpapier, eines chronischen Ausschlags wegen. Sein größter Pluspunkt waren seine Augen, rund und eher braun als schwarz, die ihm einen Anschein von Sanftheit, vielleicht sogar Zärtlichkeit verliehen. Er konnte sogar glaubhaft versichern, dass alle Zähne echt waren, auch wenn das Rauchen sie gelb gefärbt hatte, ebenso wie die Haut zwischen Mittel- und Zeigefinger. Er hatte sich angewöhnt, sein Haar kurz zu schneiden, und dafür benutzte er ein altertümliches Gerät, das eine Klinge zwischen zwei Plastikzangen einspannte, und das Ergebnis fiel von Monat zu Monat anders aus, ohne dass irgendjemand davon Notiz genommen hätte. Bevor er zur Polizei gekommen war, hatte sich sein Haar in schwungvollen und feuchten Wellen bis knapp oberhalb der Schultern gewunden; aber das war ein anderes Leben gewesen und er – wie Walter sagen würde – ein anderer Mensch.

Er hielt eine Katze namens Kiamoy, die auf einem Auge blind war und manchmal tagelang weg blieb. Sie war Teil des gemieteten Zimmers und hatte von Anfang an klar gemacht, ihn dort zu überleben. Ein paar Mal hatte Walter versucht, Kiamoy vom Küchentisch wegzuscheuchen und sie dabei bis zum Sofa gejagt mit einem Besen, den er sonst kaum angerührt hätte. Kiamoy schlüpfte dann hinter einen Schrank, außerhalb der Reichweite des Besens. Aber kaum, dass Walter seine juckenden Füße auf dem Sofa platziert hatte, war Kiamoy wieder in der Küche, schob den Deckel beiseite und machte sich an die übrig gebliebenen Sardinen. Wenig später hatte der Mann aufgegeben, und nun war er es, der die Reste von dem, was die Katze übrig gelassen hatte, mit den Fingern aufleckte. Ihr Glück herausfordernd erschien Kiamoy am Tisch, wann immer sich Walter zum Essen hinsetzte, bis die zwei wie selbstverständlich Fisch oder Reste vom Rührei vom selben Teller aßen.

Abgesehen von Kiamoy lebte Walter alleine, und er hatte kaum jemanden, den er seine Familie nennen konnte bis auf seine Mutter und Schwester in Marikina und einen Onkel in San Mateo. Natürlich gab es da noch Bessie und Paolo, wo und mit wem auch immer sie gerade lebten; das letzte Mal hatte er gehört, dass sie wieder einmal umgezogen waren, von Manchester nach Chelmsford, und von da in die Nähe eines Krankenhauses in Great Yarmouth, irgendwo an der Ostküste Englands. Der Gedanke an seine Frau und seinen Sohn erschütterte noch immer sein Herz wie ein fernes Gewitter, aber was in den ersten Jahren der Einsamkeit eine bohrende Qual gewesen war, hatte sich inzwischen in dumpfen Schmerz verwandelt, der sich aber nur in unerwartet kühlen Morgenstunden meldete oder wenn er spüren wollte, ob es überhaupt noch weh tat. Den letzten Brief von Paolo hatte er vor drei Jahre erhalten, kurz bevor Walter nach Paez gezogen war; er hatte nach Chelmsford zurückgeschrieben, erzählt, dass er eine neue Stelle hatte, ohne zu viele Details zu nennen, in der heimlichen Hoffnung, dass zumindest Paolo antworten würde. Aber keine neugierigen oder wenigstens oberflächlichen Nachfragen folgten, und so begann er mit dem Schmerz zu leben, bevor dieser ihn komplett auffressen oder in einem unachtsamen Moment im Dienst töten konnte. Dann und wann, in einer Mischung aus Ängsten und Fantasien, die seinen Schlaf überfielen, traf er seine Frau und seinen Sohn wieder, genauso, wie er sie das letzte Mal gesehen hatte, an jenem Abend Mitte Oktober am Flughafen: Bessie in ihrem taubenblauen Kleid, die schwarze Tasche aus Kunstleder mit den Papieren fest umschlungen, Paolo verloren und noch kleiner mit seinen neun Jahren in seinen Baggy-Jeans. In seinen Träumen standen sie noch genauso da hinter der Glastür, so regungslos und stumm wie aschfahle Tote. Manchmal redete er mit ihnen, erzählte ihnen Geschichten über ihr altes Viertel, wie Captain Sandovals Haus in einer Schlammlawine einstürzte und wie Ka Tanyongs Hündin drei ihrer eigenen Welpen tot biss, und wenn er nach dem Aufwachen darüber nachdachte, welche Bilder er aus seinem Traum retten konnte, wurde ihm klar, wie trostlos seine Geschichten waren und dass er niemandem verübeln konnte, sich von ihm fernzuhalten. Das, gestand er sich ein, war sein Problem. Schon lange hatte er niemanden mehr zum Lachen gebracht, abgesehen von seinen Dummheiten, und davon hatte er einige auf Lager. Er schaffte es sogar, sich selbst zu verachten, zum Beispiel, wenn er dem Drang nachgab, herauszufinden, wo auf Erden Great Yarmouth genau lag; er verschwendete einen seiner freien Tage damit, zur städtischen Bibliothek in Del Monte zu fahren, wo er in einem muffigen Atlas aus den 1930ern jene Stadt fand, die im Südosten Englands in die Nordsee versank, so wie Paez in den Pazifischen Ozean abrutschte. Das war alles, was er an diesem Tag lernen würde über Great Yarmouth und über sich selbst: Er und sie, beide standen an der Wasserkante, starrten hinaus in die Unendlichkeit; sie hatten das Meer zwischen sich, aber beide blickten sie ostwärts.

Warum bist du nicht bei uns, Papa, platzte es eines Morgens aus Paolo durch das violette Glas heraus, während der vierte Taifun dieses Jahres Paez bis ins Mark durchschüttelte, und er im Schock über diese plötzliche Frage aufwachte. Es war fast besser, wenn sie nicht sprachen, weil sie das eigentlich nie getan hatten, aber dennoch waren sie damals alle zusammen und saßen um denselben Tisch, befolgten das mühsame Ritual, das mit dem Abendessen einherging. Was also gab es zu jammern? Bessie und Paolo waren wahrscheinlich nie glücklicher gewesen im Leben als jetzt, wo sie Great Yarmouths Strände abgingen nach einem bisschen Strandgut mit einem Mann, den Paolo nun Dad nannte (das war ihm, Walter, sofort aufgefallen, in Paolos letztem Brief – wie aus »Mama« »Mum« geworden war, und er zuerst gedacht hatte, Paolo hätte sich verschrieben).

Walters eigene Eltern hatten ihn in Marikina großgezogen, irgendwo in der löchrigen Ebene zwischen dem kaffeebraunen Fluss, der die Schuhmacher-Stadt vom Hauptteil der Metropole trennte, und den Bergen, die den östlichen Horizont prägten. Vor vielen Jahren hatte Walter sich gefragt, was hinter diesen blaugrünen Bergen lag; jetzt wusste er es. Vor vielen Jahren hatte sich Walter niemals vorstellen können, als Polizist zu arbeiten am krustigen Rand der Luzon-Landmasse; nun tat er es. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte er seine Verbannung als ein versehentliches Geschenk des Himmels angesehen, so wie sich der typische Stadtjunge palmengesäumte Strände erträumt und Tische, die unter der Last von silbernen Platten voller Thunfisch und Körben süßer Mangos ächzen.

Aber Walter war dafür zu schlau, und er war schlauer als viele Leute, mit Sicherheit schlauer als die Leute, mit denen er arbeitete, seinen Chef eingeschlossen. Er hatte einen Bachelor in Pädagogik in der Tasche von einer Universität in Downtown Manila, aber das war es nicht, was ihn von den Anderen unterschied. Vielmehr war es seine Überzeugung, dass die Welt außerhalb von Paez wichtig war, und auch wenn er selbst nicht weiter gekommen war als bis Baguio hoch im Norden – mit Bessie, natürlich, auf ihrer Hochzeitsreise – und nach Davao unten im Süden, infolge einer Polizeioperation, die er jetzt am liebsten vergessen hätte, wenn die Leute das zuließen, oder wenn sie nicht in unangenehmer Hartnäckigkeit immer wieder in den Nachrichten auftauchte.

Er war ein eifriger Konsument von Nachrichten – was immer er aus den Zeitungen und dem Radio aufschnappen konnte –, und er wusste ungefähr, wo unter der Sonne Städte wie Melbourne oder Atlanta lagen. Paez hatte haufenweise Leute an Orte wie Jersey City in den Staaten oder Christchurch in Neuseeland abwandern sehen, aber entweder nahmen die sich selbst zu ernst oder waren zu sehr damit beschäftigt, ehrenwerte Bürger ihrer neuen Heimat zu werden, schleppten aber Paez und seine Mentalität mit sich rum wie ein altes Holzbett, wohin auch immer sie gingen. Walter, für seinen Teil, hatte alles getan, um sich mit seiner Versetzung abzufinden. Er wusste genau, warum er hierher versetzt worden war, was von ihm erwartet wurde und wie er Ärger aus dem Weg gehen konnte. Im ersten Jahr in Paez hatte er gelernt, was wichtig war – wer die Ansagen machte, wer mit wem schlief, wo Leute ihre Waffen versteckten und von wem sie die bekamen. Aber selbst nach drei Jahren in Paez blieb er ein höflich tolerierter, wenig bekannter Fremder, der kaum Freunde hatte und überhaupt unauffällig blieb. Und all das war ihm, der glaubte, dreißig zu werden sei ein herausfordernder und aufregender Lebenshöhepunkt, nur recht.

Als Polizist in Paez hatte er kaum mehr zu befürchten als zwei betrunkene Streithähne auf einer Hochzeit voneinander zu trennen oder einen Dieb von Heiligenbildern zu verhaften, der ihm geradezu in die Arme gelaufen war. Oftmals wurde er als Schreibkraft eingesetzt, da er eine eidesstattliche Erklärung frei aus dem Kopf tippen konnte, ohne auf die bruchstückhafte Vorlage zurückzugreifen, die sie in der Wache aufbewahrten und – fand der Sohn des Chiefs heraus – er eine Rede in beeindruckend klarem Englisch raushauen konnte, gepfeffert mit Worten und Begriffen wie »Intensitätsanstieg« und »in Rückschau«. Walter mochte Kreuzworträtsel und hatte Ms. Principe bezirzt, sie aus den Zeitungen auszuschneiden und für ihn Woche für Woche zu sammeln. Die Einsamkeit hatte zuerst an ihm genagt, aber er hatte sich mit der Zeit daran gewöhnt, in der Abgeschiedenheit zu leben, niemanden zu stören und sich nur um sich selbst zu kümmern. Je unkomplizierter alles ablief, desto besser. Manchmal kam es ihm so vor, dass das Leben etwas ereignisreicher und sinnhafter sein könnte und dass es selbst in Paez mehr zu ergründen gab als die schlüpfrigen Zusammenhänge zwischen »unten« und »gegenüber«, oder wer oder was »Batmans Butler« sein konnte; aber mit einer Zigarette in der Hand und Kiamoy auf seinem Schoß, einem Topf Reis auf dem Herd, während er die Füße aneinander rieb, war es einfach leicht, sein Schicksal als eine milde Form der Buße vergangener Verfehlungen, tatsächliche und geträumte, zu akzeptieren. Er war gerade achtunddreißig geworden – ein Alter, nicht Fisch und nicht Fleisch, aber für die meisten ein Zeitpunkt, an dem die Zukunft mit einer gewissen Klarheit erkennbar sein sollte, eine Einladung, sich zu sputen und letzte große Chancen zu ergreifen. Walter fühlte davon wenig, er war eher damit beschäftigt, ein paar alte Wehwehchen zu behandeln und Körper und Geist soweit wie möglich zusammenzuhalten, um den Tag, die Woche und das lange Wochenende zu überstehen.

An dem Tag, als das Telegramm kam, war Walter weit nach zwei Uhr nachmittags aufgestanden, aufgescheucht von der Hitze, die von dem verzinkten Blechdach herunter strahlte, und von dem gedämpften Kugelhagel eines Schwarzenegger-Films im unteren Stockwerk. Kiamoy war nirgendwo zu sehen. Das Schwanzstück einer frittierten Forelle, eine Schale Reis und ein paar Tomatenscheiben, die sein Frühstück hätten sein sollen, wozu er jedoch nicht in der Lage gewesen war, standen noch immer auf dem Tisch, offensichtlich unberührt, auch wenn die Tomate angelaufen und eingetrocknet war. Walter lehnte sich aus dem Küchenfenster und spuckte einen Klumpen grünlichen Schleims aus, der in seiner Luftröhre gekitzelt hatte, seit er morgens kurz aufgestanden war, um sich zu erleichtern. Es gab einen Trick, ihn seinem Hals zu entlocken, ein Röcheln tief im Brustkorb, und er machte das immer, wenn er aufwachte, oder er riskierte, dass es später am Tag aus seinem Mund ausbrach wie ein missglückter und ungewollter Satz mitten in einer Unterhaltung. Sobald es draußen und in der blauschwarzen Rinne unter dem Fenster gelandet war, ging es ihm gut. Er bespritzte sein Gesicht mit einem Glas Wasser über dem Waschbecken, pulte mit den Fingerspitzen den Dreck aus den Nasenlöchern, spülte seinen Mund noch einmal aus und zündete dann seine erste Philip Morris des Tages an.

Walter sah auf einen ungeöffneten Umschlag, den er in das hölzerne Gitter geklemmt hatte, das die obere Platte einer niedrigen Kommode umrahmte, die vielleicht mal als Altar gedient hatte, jetzt aber Plastikteller und durcheinander geworfenes Besteck anstelle von Heiligtümern beherbergte. Er hatte einen Airmail-Stempel, und war am vorherigen Tag aus Manila eingetroffen, aber es gab keinen Flug von Manila nach Paez, auch nicht im Umkreis von hundert Kilometern, nicht mal einen Flughafen. Walter war sicher, dass seine Schwester Gayla ihm geschrieben hatte – und einfach einen Umschlag aus einem Stapel genommen hatte, den sie sonst vielleicht brauchte, um Bessie in England zu schreiben –, um ihm die bekannten langweiligen und gewohnten Dinge zu erzählen, die sie ungefähr alle sechs Monate wiederholte: Mama macht dies und jenes, aber es geht ihr gut; wir haben ein neues Kindermädchen; wir müssen das Dach ausbessern lassen; ich war die Patin bei der Konfirmation von Ediths drittem Jungen; wann besuchst du uns mal. Er antwortete selten, und niemals sofort; manchmal rief er an, wenn ihn eine plötzliche Furcht davor erfasste, in tiefste Vergessenheit zu geraten. Einmal war er sogar ohne Ankündigung zuhause aufgetaucht, nur um festzustellen, dass sie sein Zimmer unverändert gelassen hatten seit der Zeit, als Bessie weggegangen war, sodass ihr Foto mit dem Pferdeschwanz – mit Paolo, der mit seinen geschwollenen Augen und ohne Haare aussah wie eine kleine Ratte in den Armen seiner jungen Mutter – noch über seinem Bett hing. Er ließ den Brief, wo er war, über seinen Inhalt und was er darüber denken würde, war er sich sicher, und das hieß: vielleicht morgen, heute sicher nicht.

Das nach Menthol schmeckende Nikotin traf einen bekannten Punkt in seinem Gehirn, und setzte eine Serie von Impulsen in Gang, die er durch halbgeschlossene Augen befolgte: Mach eine Tasse Kaffee, schalte das Radio an, schluck ein paar Bissen Fisch mit Reis herunter, trink ein halbes Glas Wasser, nehme ein frisches T-Shirt aus dem Schrank, zieh Hosen an, riech an den Socken, check die Pistole, zünde noch eine Kippe an, zieh das Käppi auf, schalte das Radio aus, und steig auf die Suzuki. Das Motorrad war eine fünfzehn Jahre alte 75-Kubik-Maschine, die einmal als bessere Hälfte eines Beiwagen-Modells diente und die er für wenig Geld vom Vorbesitzer kaufen konnte, der einen Maschinistenjob in Dubai angenommen hatte. Die Stellen am Rahmen, an denen das Seitenteil angeschweißt gewesen war, bevor sie brutal getrennt wurden, hatten zu rosten begonnen. Aber ansonsten kam die Suzuki mit ihrer Wiedergeburt erstaunlich gut zurecht, und Walter hielt die wichtigen Teile mit viel Sorgfalt besser in Schuss als seinen eigenen Körper, er überprüfte den Ölfilter nach Verschmutzungen, schmierte Vaseline auf die Batterieanschlüsse, zog lockere Speichen an den Rädern fest. Die Maschine hätte einen neuen apfelgrünen Anstrich gut vertragen können, aber Walter mochte den abgenutzten und vertrauten Anblick. Zu Beginn seiner Karriere hatte er den üblichen Edelstahl-Polizisten-Jeep mit einem halben Dutzend dunkelgelber Scheinwerfer vor dem Kühlergrill, aber auch das war lange Vergangenheit.

Heute, an diesem Montagnachmittag, konnte er sich zumindest darauf freuen, bei Ms. Principe reinzuschneien und die Kreuzworträtsel der letzten Woche einzusammeln, ohne vom Chief für eine weitere Predigt über den Einfluss von Amateurbasketball auf die Bedrohungen durch Cannabiskonsum einbestellt zu werden. Walter parkte sein Bike neben der Wache und überlegte, mit welchen Nettigkeiten er Ms. Principe begrüßen könnte. Angespannt von der zehnminütigen Fahrt zur Arbeit fühlte er sich ungewöhnlich leicht, als ob dies ein Tag werden würde, der ihm ausreichend Zeit ließ, um nichts und alles gleichzeitig zu machen – all die Rätsel lösen, vielleicht, oder sogar eine unliebsame Arbeit: Er hatte es auf sich genommen, die Akten der vergangenen zehn Jahre zu durchforsten und die Fälle von Raub, Vergewaltigung, Körperverletzung, Mord und kleinen Diebstählen aufzulisten, wie sie eine mittelgroße Gemeinde wie Paez heimsuchten. Irgendwo in einer Ecke von Walters Gehirn tauchte ein Hoffnungsschimmer auf, dass all das sich eines Tages als nützlich erweisen könnte, und sei es für eine Masterarbeit über kriminelle Tendenzen im ländlichen Raum der Philippinen.

»Sarge.« Walter tippte mit den Fingern an sein Baseball-Käppi wie zum Gruß, als er den Diensthabenden am Eingang sah. Ihre Dienstgrade hatten sich alle geändert, seit die Polizei, zumindest theoretisch, entmilitarisiert worden war, aber dennoch nannte jeder den SPO3* Valdemar Duterte »Sarge«. Der alte Mann beugte sich über seinen Teil des Bretts und grübelte angesichts der Aussicht, in drei Zügen schachmatt zu sein, während der Wärter an einem Wassereis mit Melonengeschmack lutschte.

»Stör ihn nicht, er ist beschäftigt. Aber in einer Minute ist er so weit«, sagte der Gefängniswärter mit einem Augenzwinkern und einem herablassenden Grinsen.

»Noch ist nichts verloren«, brummelte Sarge und schielte auf seinen glücklosen König, während seine Finger über dem Läufer schwebten, dessen Rückzug dem Ganzen ein Ende setzen würde.

Der Wärter rieb seinen Nacken. »Ich glaube wirklich, wir sollten mit Uhr spielen. Beim nächsten Mal kein Spiel ohne Uhr.«

»Was nimmst du deine oder meine Zeit so wichtig? Du würdest hier den ganzen Tag rumsitzen und deine Eier kraulen, wenn es mich nicht gäbe.«

Walter blätterte durch das Protokoll und entdeckte die Ecke eines Telegramms, noch immer in seinem Plastikumschlag. Er zog es raus und las die Adresse im Fenster. Es war für den Chief, deshalb lag es noch ungeöffnet da.

»Habt ihr das Ms. Principe gezeigt?«

»Ich glaube schon«, sagte Sarge, »aber ich wette, die ist weg. Du weißt, wie das ist, wenn der Boss draußen in Del Monte ist. Es ist gleich vier, ganz nebenbei.«

»Ganz sicher«, sagte der Wärter mit einem übertriebenen Gähnen.

»Lasst mich schauen«, sagte Walter, der hoffte, seine Rätsel in einem Umschlag auf ihrem Schreibtisch zu finden. »Ich bring das zu ihr.«

»Schau nicht rein«, warnte Sarge ihn. »Und wenn doch, sag uns, was drinsteht.« Sarge wandte sich seinem Gegenüber am Schachbrett zu. »Das letzte Mal, als ein Telegramm für den Chief reinkam, war es sein Sohn – aufgegabelt bei einer Drogenrazzia in Mandaluyong.«

»Ich wusste nicht, dass er einen Sohn in Mandaluyong hat«, sagte der Wärter.

»Genauso wenig wie seine Frau«, sagte Walter, während er den Plastikumschlag genauer inspizierte. Es gab da ein winziges Detail, das ihn beschäftigte. Durch das gelbe Plastik, hauchdünn und durchsichtig, konnte er die Buchstaben einiger Wörter erkennen: »… SIEREN VON CABAH… GUMBAYANI VILL… RACHTLAGE…« Kurz vor der Tür des Chiefs stoppte er, schob das Telegramm im Umschlag hin und her, sodass weitere Buchstaben erkennbar waren. Er wusste kaum, was er tat, als er den Umschlag aufriss und den ganzen Text las: »BITTE NÄCHSTEN VERWANDTEN LOKALISIEREN VON CABAHUG AURORA V STOPP LETZTE BEKANNTE ADRESSE GARDENIA 17 BAGUMBAYANI VILLAGE STOPP VERSTORBEN DURCH ERTRINKEN FORENSIK JEDDAH STOPP LEICHE EINGETROFFEN AUS JEDDAH FREITAG INT FLUGHAFEN MANILA FRACHTLAGER SCHNELL FREIZUGEBEN AN ANGEHÖRIGE MIT IDENTITÄTSNACHWEIS STOPP DIREKTE NACHFRAGEN MANILA 9223113 BEILEIDSBEZEUGUNG UND DANKE STOPP«. Es war unterzeichnet mit GH ABAD FÜR DEN GENERALDIREKTOR OWWO.

Walter rätselte noch über die Nachricht, als er zurückging. »Das kann nicht sein«, murmelte er. »Irgendwer hat einen Fehler gemacht.«

»Was?« Sarge hatte den Läufer in der Hand und war dabei, ihn abzustellen. Doch dann sah er, was Walter in der Hand hielt.

»Was zur Hölle machst du da?«

Walter ignorierte den Vorwurf in Sarges Stimme und überreichte ihm das Telegramm. »Das kann nicht sein. Da steht, Rory ist tot.«

»Rory wer?«, fragte der Wärter.

»Aurora Cabahug«, sagte Sarge, während er las. »Wer ist sie überhaupt? Und woher weißt du, dass nicht stimmen kann, was hier steht?«

Walter hielt eine Philip Morris in der Hand, und suchte mit der anderen nach seinem Feuerzeug. »Ich kenne sie. Sie singt im Flame Tree.« Er fand das Feuerzeug zwischen seinen Schlüsseln und zündete hastig die Kippe an. »Sie kann nicht tot in Manila liegen, weil ich sie letzte Nacht gesehen habe.«

»Nur ›gesehen‹?« Der Wärter grinste.

»Klar. Ich mag Musik.« Walter nahm einen tiefen Zug, sodass der Rauch bis in seine Eingeweide strömte, dort etwas herumwirbelte, bevor er wieder nach oben waberte und in seinem Kopf einen leichten Schwindel auslöste. Auf jeden Fall hatte er Rory gesehen. Sie hatte eine gute Nacht gehabt, sich zwischen den Auftritten an den Tischen vergnügt, hier eine Rum Cola und da einen Four Seasons getrunken. Er hatte ihr drei Tage zuvor selbst einen Drink spendiert, als Mutprobe sozusagen, und er konnte sich nur noch daran erinnern, dass er mit so einem Zahnstocher-Sonnenschirm serviert wurde, an dessen Ende eine Kirsche aufgespießt war. Als sie die Kirsche in seinen statt ihren Mund steckte, bekam er diese Geste mit dem ungewohnten Geschmack nur schwer in Einklang, und sein Unbehagen musste offenkundig gewesen sein, denn schallendes Gelächter breitete sich am Tisch aus. Dann erhob sie sich für ihren nächsten Auftritt und ließ den Drink für den Rest des Abends unberührt. Er hatte beinahe vergessen, dass noch vier andere Leute mit am Tisch saßen, so einsam und verlassen fühlte er sich plötzlich. Er war danach noch ein paar Mal da gewesen, immer mit ein paar Bekannten, die er noch am ehesten als Freunde ansehen konnte – aber er war zu schüchtern und verlegen, Rory zu fragen, ob sie sich zu ihm setzen würde, und er begnügte sich damit, sie zu beobachten, wie sie die höchsten Töne einiger Whitney Houston-Songs erreichte, eine Hand hinter ihrem Ohr, bevor sie wieder Cocktailkirschen in die Münder anderer Männer schob. Er fand ihren echten Namen heraus, schließlich war er Polizist, der wusste, wen er zu fragen hatte, und wie – niemals direkt. Ja, er hatte sie in bester Stimmung gesehen – und das war’s.

»Also wer ist die tote Frau? Und was ist das mit Jeddah?« Sarge eierte herum und tat so, als ob er das Spiel vergessen hätte, von dem eine Fünf-Peso-Wette und seine Lizenz zum Angeben abhing. Er war froh über diese Unterbrechung und hoffte, sein Gegenspieler würde die Bedeutungslosigkeit eines Schachspiels vor dem Hintergrund eines, wie es aussah, tragisch verlorenen Lebens erkennen. Er reichte das Telegramm dem Wärter, der es in die Hand nahm und seine Brille aufsetzte.

Walter zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht finde ich es heraus.« Auf einmal konnte seine Schicht, die noch nicht mal begonnen hatte, gar nicht schnell genug vorbei sein; um Mitternacht wäre er fertig und das Flame Tree schloss um eins. Vielleicht konnte er Rory noch erwischen, bevor sie nach Hause ging – wo immer das war –, er hätte fragen sollen, aber das hätte zu forsch gewirkt; jetzt hatte er einen guten Grund – oder eigentlich einen sehr schlechten – zu fragen, ob sie in der Gardenia Street wohnte. »Eine Verwechslung«, erklärte der Wärter und gab Walter das Telegramm zurück. »Das passiert ständig. Vor ungefähr fünf Jahren hatten wir einen Insassen – Sarge, erinnerst du dich an den, uh, den Reismühlen-Mörder –, bei dem sich schließlich rausstellte, dass er nur ein Namensvetter des Täters war. Ein ziemlich unüblicher Name außerdem, was ihm nicht gerade half, da sich niemand vorstellen konnte, dass es noch einen anderen Mann mit so einem Namen geben könnte. Es dauerte drei Jahre, bis sie das rausgefunden hatten. Doch am Ende konnten wir ihn nicht gehen lassen, weil er einen anderen Gefangenen im Streit erstochen hatte – diesmal natürlich unter seinem eigenen Namen…«

»Verrat ihn nicht«, fuhr Sarge dazwischen. »Ich erinnere mich an die Geschichte, aber nicht an den Mann. Erzähl weiter – was passierte dann?«

»Nichts…«

»Nein, nein, jetzt erinnere ich mich – hat er nicht den Präsidenten um Begnadigung gebeten, und dann haben sie ihn nach Iwahig gebracht, wo er versucht hat, durch die Mangroven zu fliehen, nur um sich ein Bein von einem Krokodil abbeissen zu lassen? War das der Kerl?«

»Nein, hör zu, du kriegst alles durcheinander! Sie haben den echten Killer erwischt – den echten Deogracias Palongpalong –, und den haben sie verlegt, nicht nach Iwahig, sondern nach Muntinlupa. Schon irgendjemand von Krokodilen in Muntinlupa gehört? Das war ein Lebenslänglicher in Ibaloi, von dem ich dir erzählt habe, der seinen Fuß an ein Krokodil verloren hat, aber das ist eine andere Geschichte – eh, eh, eh –, ich werde kein Stück weiter erzählen, bevor du nicht deinen Zug machst…«

»Welchen Zug?«

»Deinen Zug, das Spiel, gottverdammt! Ich habe hier lange genug gesessen und gewartet. Du findest immer einen Vorwand, dass du nicht verlierst und Geld abdrücken musst.«

Walter ließ die beiden Streithähne allein und ging zur Toilette. Der Raum war in einem merkwürdig hellen Babyblau gestrichen, und die späte Nachmittagssonne fiel durch die schmutzigen Fenster und verlieh ihm einen noch weicheren Anstrich, der jedoch den beißenden Geruch von Ammoniak aus den Pissoirs nicht linderte.

Walter blies hektisch Rauchwolken aus, um den Gestank zu überdecken, biss auf seine Zigarette und starrte an die Wand. Als er den Reißverschluss öffnete, überlegte er, was er mit dem Telegramm in seiner Tasche anstellen sollte, das er nicht mal hätte aufmachen dürfen. Der Chief war nicht das Problem: Dem Diensthabenden, der auf der Stelle entscheiden musste, würde der Chief verzeihen oder sogar für gut heißen, dass er in das Telegramm reingeschaut hatte. Denn falls es ein Notfall gewesen wäre, hätte er den Chief mitten aus seiner Rede in Del Monte herausrufen lassen müssen. Aber was sollte er Rory erzählen, und wie konnte er es anstellen, ohne gleich Panik auszulösen? Wie der Wärter und er selbst vermuteten, war wahrscheinlich alles ein fürchterlicher Fehler mit einer überraschend einfachen Erklärung. Wie sollte er einem Mädchen, das er kaum kannte – von dem er sich aber mehr erhoffte als nur ein fruchtiges Prickeln auf seiner Zunge –, erklären, dass sie, laut diesem Stück Papier, als Leiche in einem Kühlhaus lag, weit entfernt hinter den Bergen und dem Marikina Tal?