Der Anblick von Trauer

Walter schnupperte an seinen Achseln, kurz bevor er rausging und das Vorhängeschloss zuschnappen ließ. Kiamoy schlich sich zwischen seinen Füßen durch die Tür, aber Walter schenkte ihr keine weitere Beachtung. Sie würde ihren Weg zurück finden durch einen der Lüftungsschächte oder eines der Löcher zwischen Hauswand und Dach. Es gab einen Fischkopf, in Essig gedünstet, der auf einem Plastikteller in der Spüle auf sie wartete. Walter ging davon aus, an diesem Abend gegen Acht zurück in Paez zu sein; der Vize-Bürgermeister hatte versprochen, ihn von seiner regulären Schicht für diesen Tag zu entbinden, und wenn alles nach Plan lief, wäre er sogar früher als sonst zuhause, ein paar Minuten vor seinem Kätzchen.

Das Schnuppern war ein Reflex; es war Wochen her, dass er so früh aufgestanden war, um zu baden – zwei Eimer kaltes Wasser, mit einer Plastikkelle über den Kopf gegossen, und ein bisschen Seife – und dann die Wohnung für einen Auftrag zu verlassen. Er war so frisch und rosig, wie er es nur sein konnte. Das Vorhängeschloss war neu und ein nerviger Teil der täglichen Routine; eine Ray Ban-Sonnenbrille – eines der letzten Andenken an sein Leben vor Paez – war ein paar Wochen zuvor verschwunden.

Walter war sich sicher, dass er die Brille auf dem Küchentisch liegen gelassen hatte, bevor er zur Arbeit losstürzte, obwohl es genauso gut sein konnte, dass sie aus seiner Brusttasche gefallen oder sogar von seinem Tisch auf der Polizeiwache gemopst worden war. Ihm war auch ein Aiwa-Kassettenspieler abhanden gekommen, den er auf der letzten Weihnachtsfeier dabei hatte: Walter selbst hatte das Gerät rumgereicht, es spielte »Joy of the World« für eine Minute und schon in der nächsten war es verschwunden, einfach so.

Das waren nur zwei von vielen hundert ungelösten Fällen und ungeklärten Geheimnissen in einer Stadt, die nicht groß genug schien, um so viele Gauner zu beherbergen. Sie bereicherten die inoffiziellen Aufzeichnungen über ineffiziente Polizeiarbeit, die Walter zum Zeitvertreib festhielt: Also zwei von zweihundertsechsundsiebzig angezeigten Fällen von Diebstahl und Raub über die letzten drei Jahre, von denen dreiundachtzig ungelöst blieben, abgesehen von den neununddreißig mutmaßlichen Morden, zweihunderteinundvierzig Überfällen, einhundertfünfundzwanzig »Verbrechen gegen die Sittsamkeit«, und wer weiß was noch alles zwischen diesen kargen Hügeln nicht gesehen oder gemeldet wurde. Der Verlust eines Kassettenspielers und einer Sonnenbrille sollten sich nicht allzu gravierend auf diese allgemeine Bilanz auswirken, aber sie wurmten Walter sehr, nicht nur weil sie ihm abhanden gekommen waren, verdammt nochmal, sondern weil er die Täter nicht dingfest machen konnte, was ja eigentlich seine Aufgabe war. Als er sich die Fälle in Erinnerung rief, an denen er mit der Harabas Task Force in der Innenstadt gearbeitet hatte – den Peninsular-Bankraub zum Beispiel und die Entführung und Ermordung der Geliebten des Arbeitsrechtlers –, fühlte er eine Mischung aus Begeisterung und ja, er musste es zugeben, Stolz, bis er eine kalte, schwere Hand auf seiner Stirn spürte, die alles weitere Erinnern unterbrach, vielleicht zu seinem eigenen Schutz.

Doch an diesem Dienstagmorgen war es ihm unmöglich, nicht an Manila zu denken und seine Gedanken waren seinen Füßen weit voraus, als er den Van, den er vom Büro des Vize-Bürgermeisters ausgeliehen bekam, vor Rorys Haus in Bagumbayani Village stoppte. Er war ein paar Mal in dem Viertel gewesen, um Pakete für den Chief abzuliefern, und einmal, um die letzte Wohnanschrift eines Mannes zu checken, der von der Polizei in Del Monte gesucht wurde wegen Betrugs und Veruntreuung. Nach allem, was er inzwischen wusste, verstand er, warum Rory hier wohnte.

Bagumbayani erstreckte sich über ein Tal, das sich zur Seeseite hin öffnete, und kroch die umliegenden Hügel hoch, drei Kilometer entfernt vom Flame Tree auf der anderen Seite der Stadt. Es war in »Phasen« gebaut worden, und die neue Phase III drohte bis ans Ufer zu wachsen, Plastikzäune begrenzten die Grundstücke, die der Bauherr dem sumpfigen Boden entreißen wollte. Jede Phase war nach einem Thema benannt: Nationalhelden in Phase I, Heilige in Phase II und Blumen in Phase III.

Der Name des Viertels selbst war eine Erfindung des Bauherrn, die sich auf Bagumbayan bezog, den geweihten Ort, an dem Jose Rizal* hingerichtet worden war, und auf die Bagong Bayani, die im Ausland arbeitenden, gesalbten Helden der neuen Zeit. In den Zeitungen der philippinischen Exilgemeinden wurden Häuser und Grundstücke in Bagumbayani beworben mit Sätzen wie »Dein Traum wird wahr – endlich ein Haus für Dich und Deine Liebsten! Wohneinheiten in Reihen- und freistehenden Häusern in 3 modernen Ausführungen, von 60 bis zu 120 qm Wohnfläche! Niedrige Ratenzahlungen und einfache Tilgung über MacPine Finanzdienstleistungen und Logistik! Jetzt reservieren – begrenzte Anzahl an Wohneinheiten noch frei!«

Bagumbayani war 1976, etwas bescheidener, als Candiville entstanden, so benannt nach der ersten Ehefrau des Bürgermeisters Candida, deren Familie den Großteil des Landes besaß und deren höchstmoderne Idee es war, eine Ansammlung brachliegender Grasflächen und stinkender Luft in das angesagte Stadtviertel des neuen Bürgertums von Paez zu verwandeln – der Pukkamuschel-Lieferanten, der Offiziere der Handelsmarine und der Polizei, der Benzin- und Erdölhändler.

Phase I, das ursprüngliche Candiville, umfasste den Kern der Immobilien links und rechts der Nationalstraße. Die Phase I-Häuser waren auch die kleinsten und billigsten im Viertel, entworfen und gebaut für den leichten und schnellen Verkauf. Das Marketing beschrieb sie als Bauten im Stil »amerikanischer Vorstädte«, was bedeutete, dass sie flache Bungalows oder Doppelhaushälften waren, ausgestattet mit zwei Schlafzimmern, Wellblechdächern, Betonböden, Glasfenstern, einer Toilette und Dusche und einem zusätzlichen Wasseranschluss auf der Rückseite für die Wäsche oder, was jeder Filipino, nicht unbedingt ein amerikanischer Vorstädter benötigte: die »dreckige Küche«, wo Fisch und Geflügel zerteilt und gesäubert wurden; ein wartender Hund nahm sich dann meist der Innereien an (und wenn sich die kleinste Chance bot, auch des ganzen Huhns). Ein schmaler Streifen Erde vorne und ein weiterer hinten dienten als Garten, die Vorgärten bewohnter Grundstücke explodierten bald in üppiger Bepflanzung mit zahllosen Blüten von Kosmeen, Malteserkreuzblumen, Bougainvilleas, Jasmin, Gänseblümchen und vereinzelt von Rosen.

Zur Grundausstattung gehörte ein weißer Außenanstrich, alle anderen Farben kosteten extra; und so war es augenfällig, dass nur diejenigen, die über wenig Mittel und Phantasie verfügten, am einfachen Weiß festhielten, während alle anderen Eigentümer ihre Wände in irgendeiner Farbe streichen ließen, sodass im Ergebnis die meisten Häuser ihr Dasein in einer Schattierung von Spinatgrün oder Korallenrosa fristeten. Weder Zäune noch Tore waren im Paket inbegriffen, und das bot weitere Möglichkeiten, sich von der Masse abzuheben – insbesondere, sie von sich und seinem Eigentum fernzuhalten. Die Maurer und Schweißer machten gute Geschäfte und entwarfen Mauern, die den Nachbarn jede Aussicht verbauten, und Zäune und Tore, die Kreuzfahrern alle Ehre gemacht hätten, mit Zacken, Arabesken und Halterungen für Laternen und Fackeln. Waren die Häuser einmal abbezahlt, konnten sie in jeglicher Form, die man sich wünschen konnte, umgestaltet werden. Ein Bootsmann im Ruhestand, der den Großteil seiner letzten Dienstjahre auf einem griechischen Frachter verbracht hatte, ließ seine Fenster zu Bullaugen umformen. Er stellte einen Mast in den Garten und hisste verschiedene Flaggen, je nach Wetterlage, und seine Haustür war geschmückt mit einem speziell angefertigten hölzernen Steuerrad, das so konstruiert war, dass sich die Tür entriegelte, wenn man daran drehte.

Diese und andere einfallsreiche Dekorationen gaben den Entwicklern von Bagumbayani die Idee für Phase II, die sich stufig an die kahlen Hänge anschmiegte. Hier entstanden die Häuser in ähnlichen baulichen Größenordnungen, jedoch diesmal vermarktet als »mediterraner« Stil, was sich in postkartentauglichen Motiven widerspiegelte, etwa in gewölbten Torbögen und quadratisch gemusterten Fassaden, verziert mit einer Reihe roter, runder Kacheln wie lackierte Fingernägel. Der sichtbarste Unterschied zwischen dem amerikanischen und dem mediterranen Stil war, dass das, was vorher optional war, jetzt Standard wurde, zum Beispiel die grünen und rosaroten Hauswände, sehr zum Ärger der Phase I-Hauseigentümer. Phase II, und ungefähr fünfzig Häuser später, Phase III zogen eine neue Generation von weitläufig mobilen Paezeños an, die Arbeit auf den Baustellen und Ölfeldern des Mittleren Ostens fanden, in den Hotels, Bars und Küchen Europas, und bald auch all die anderen, die in die Welt hinauszogen: Haushaltshilfen in Hongkong, Tänzerinnen in Yokohama, Zimmermädchen in Brunei, Krankenschwestern in Saipan. Im Jahr 1995, die Hundertjahrfeier der philippinischen Revolution kam näher, fand die neue Frau des Bürgermeisters endlich einen noblen Grund, sich des Vermächtnisses ihrer Vorgängerin zu entledigen und mit ihren bescheidenen Mitteln die heilige Geschichte in Erinnerung zu rufen; zwei Kälber und ein halbes Dutzend Schweine wurden geopfert und kollektiv verspeist, um den Untergang Candivilles und die Geburt Bagumbayanis zu feiern, verbunden mit der Einweihung von Phase III.

Die Nummer 17 der Gardenia Street stand am Ende einer Reihe blauer und grüner Häuser; es hatte noch seinen ursprünglichen Kalkanstrich, der abblätterte und vor dem wild wuchernden Gras und den Pfeffersträuchern verloren aussah. Ein Papierdrache, ursprünglich rot, hatte sich in einer Antenne auf dem Dach verfangen und hing dort wie die zerfledderte Fahne eines Landes, das vergessen hatte, wie lange es sich schon im Krieg befand. Wie alle anderen Häuser besaß Nummer 17 vorne einen kleinen Garten, den die meisten Leute mit Blumenstauden bepflanzten, aber hier hielten lediglich ein hochwuchernder Oleander und ein gelber Plastikkinderstuhl Hof.

Walter stieg aus dem Wagen und drückte die Klingel am Torpfosten. Es surrte eher als dass es läutete, und Walter fragte sich, ob er noch mal drücken sollte, um sicherzugehen, dass Rory Notiz von ihm nahm. Er hatte sein Kommen für 9 Uhr 30 angekündigt, für den Fall, dass unerwartete Probleme beim Fuhrpark auftraten; jetzt war es 9 Uhr 45. Ein Schatten bewegte sich hinter dem beschlagenen Fenster, und Walter konnte Stimmen hören. Er widerstand dem plötzlichen Drang, sich wieder zu beschnuppern. Er tastete seine Brusttasche nach der Sonnenbrille ab, und sogleich fiel ihm ein, dass er sie verloren hatte; der Schatten bewegte sich in Richtung Tür. Etwas nervös und um etwas in der Hand zu halten, zog Walter eine Zigarette aus der Packung und wollte sie gerade anzünden, als Rory aus der Tür trat, gefolgt von einem Jungen von vielleicht zwei Jahren, der von einem älteren Mädchen an der Hand gehalten wurde. Walter hatte den Kleinen nicht erwartet und war überrascht angesichts der Möglichkeit – oder Wahrscheinlichkeit –, dass er Rorys Sohn war. Rory kniete sich hin und flüsterte dem Kind etwas ins Ohr, das zunächst quengelte, dann Rory einen Kuss gab und sich schließlich in die Arme seiner Aufpasserin flüchtete. Im hellen Tageslicht, in einer schlichten, weißen Bluse und blauen Jeans, einer Jeansjacke darüber, sah Rory viel jünger aus als im Club. Sie versteckte die nächtliche Tortur hinter der dunkelsten Sonnenbrille, die sie besaß, was Walter noch nervöser machte. Er nahm die Zigarette aus dem Mund und öffnete ihr die Beifahrertür. Rory schmiss ihre Handtasche auf den Sitz und kletterte in den Wagen.

»Das war das Beste, das ich kriegen konnte«, sagte Walter und fuhr auf die Nationalstraße. Der blaugraue Toyota Tamaraw FX besaß keine Klimaanlage, und Walter hatte alle Fenster runtergekurbelt. Es gab nur die Wahl, im Innenraum gegrillt zu werden oder jede Menge Staub und ab und zu einen Mückenschwarm zu inhalieren. »Der Vize wollte uns den Lite-Ace geben, aber Stadtrat Aguirre hat dazwischen gefunkt. Egal, ich hatte dem Vize schon gesagt, dass es problematisch wäre, den – äh – Sarg in den Lite-Ace reinzubekommen, selbst mit runtergeklappten Sitzen.«

»Alles gut. Wir fahren ja nicht zum Picknick.« Sie sah aus dem Fenster. Sie waren dabei, dem Meer den Rücken zuzukehren. Die einlaufende Fähre aus Islang Bato war bloß ein Pünktchen am Horizont.

»Der Vize wollte eigentlich mitkommen und dich sehen, aber er hatte ein Meeting um zehn mit Besuchern aus Del Monte.« Walter erinnerte sich an was, und fischte, eine Hand am Steuer, einen Tausend-Peso-Schein aus seiner rechten Brusttasche, und reichte ihn, zwischen zwei Finger geklemmt, an Rory weiter. »Er bat mich, dir das zu geben, einfach für den Trip, für Benzin und Essen. Er sagte, er würde dir mehr geben, sobald wir zurück sind. Ich erwischte ihn beim Joggen am Strand und das war alles, was er bei sich hatte. Aber wenigstens hatte er sein Telefon dabei und gab in Manila Bescheid, dass wir kommen, und – und er gab uns, gab dir – diesen Schein.«

Rory starrte auf den blauen Geldschein, machte aber keine Anstalten, ihn zu nehmen. Walters Blicke glitten von der Straße zu ihr und wieder zurück zu einem Bagger, den er überholen musste. »Behalt du es«, murmelte sie. »Wenn wir mehr brauchen, kann ich noch was beisteuern.«

»Nein, nein, das ist mehr als genug, mehr als genug.« Walter stopfte den Schein zurück in die Tasche und überholte den Bagger. Manila war gut fünf bis sechs Stunden entfernt, je nachdem, wie gut die Straßen den letzten Taifun überstanden hatten und wie dicht der Verkehr um Manila war. Dieser Bagger, dachte Walter, war auf dem Weg zu einer Baustelle irgendwo vor ihnen. In einem Wahljahr gab es überall neue Baustellen, das sollte die Bürger daran erinnern, wer sich für ihr Wohlergehen einsetzte und Geld aus den Taschen der Banken zog, wo es sonst keinen Nutzen hatte; ein Spinnennetz aus Baugruben umgab die Stadt und obwohl noch Stunden Fahrt vor ihm lagen, fürchtete Walter sich davor, durch viele Landstriche, gesegnet mit Reisfeldern und Kokosnusspalmen, durchzurasen, nur um dann von einem Stadtviertel zum nächsten zu kriechen, von einer qualmenden Straße zur nächsten, wie ein Fußsoldat. Der Staub legte sich, als sie auf eine Asphaltstraße fuhren, die durch mehrere Städte führte, bevor sie auf eine absolut willkürlich erscheinende Abfolge von Beton-, Kiesund Asphaltpisten stießen. Als er vor einigen Jahren zum dritten Mal diese Strecke gefahren war, hatte Walter endlich begriffen, dass das Ganze damit zu tun hatte, wie die einzelnen Destrikte gewählt hatten und wo der jeweilige Abgeordnete herkam. Kilometerlange vorbildliche Straßen, seitlich geschmückt mit Katzenaugen, führten so durch ein Nest aus Hütten und Maniokpflanzen wie Pulanglupa, während jahrhundertealte Städte mit vielen hundert Familien im Matsch versanken. In einigen dieser Orte gab es noch Rebellen, und Walter war sich mehr oder weniger sicher, dass er, etwas außerhalb von Paez, einmal eine Gruppe von sieben oder acht bewaffneten Männern gesehen hatte, die durch einen Palmenhain schlichen, obwohl es schwierig war, aus der Ferne zu beurteilen – selbst aus der Nähe war es schwierig –, ob es sich um Kämpfer der New People’s Army* oder um Milizionäre der Regierung handelte; sie kauften und klauten Waffen voneinander, und trugen dieselben langweiligen T-Shirts und Jeans, dieselben schmalen braunen Gesichter, dieselben Nachnamen.

»Wann warst du das letzte Mal in Manila?«

Die Frage überraschte Walter, er hatte erwartet, dass Rory von sich aus nichts sagen würde, wenn er nicht den Anfang machte. Walter schaltete einen Gang runter und steuerte den Tamaraw über eine steinige Piste, bevor er antwortete: »Vor sechs Monaten.« Seine Mutter war krank gewesen, und er hatte Dokumente zu unterschreiben, so unwichtig die auch waren.

»Du bist nicht von hier oder?«

»Nein.«

»Klingt auch so. Ich hör das.«

»Das glaub ich. Was ist mir dir?«

»Von wo sollte ich sein außer Paez…«

»Ich meine, wann warst du das letzte Mal in Manila?«

Rory nahm die Brille ab und rieb sich die Augen: »Als ich auf der High School war. Wir machten einen Ausflug zur Mall. Unsere Lehrer gingen shoppen. Ich kaufte mir ein Eis, Erdbeer – mein erstes Erdbeereis. Das einzige, was ich wirklich wollte, war ein Walkman. Aber ich hatte nicht das Geld dafür.« Wie lange das her war! Fünf Jahre. Ihre große Schwester Soli war noch da, und Rory hatte ihr von der Supermall eine schmetterlingsförmige Haarspange mitgebracht. Die Erinnerung ließ ihre Augen feucht werden, sie setzte ihre Brille wieder auf.

Der Walkman erinnerte Walter daran, dass das Auto ein Radio hatte, er wusste nicht, ob es auch funktionierte. Er drehte am Lautstärkeregler, das Radio krächzte laut auf, Rory zuckte zusammen; Walter schaltete das Radio wieder aus. »Alles gut«, sagte Rory, schaltete das Radio wieder ein und wählte einen Sender, der nichts spielte außer Pop- und Rockmelodien, ohne aufwühlende oder harte Stücke, sanft wie eine Handcreme. Trotzdem sorgte der schlechte Empfang für einen kratzigen, rauen Ton, und schon bald rutschte Rory unruhig auf dem dünn gepolsterten Sitz hin und her und versuchte sich auf die Landschaft zu konzentrieren.

»Kann ich dich was fragen«, sagte Walter schließlich. Für Fragen war die Nacht zuvor keine Zeit gewesen. Rory war, nachdem sie das Telegramm gelesen hatte, wortlos zusammengebrochen, und Tennyson Yip hatte sie direkt nach Hause gefahren, nachdem sie sich kurz mit Walter über die am nächsten Morgen anstehende Fahrt abgestimmt hatte.

»Ja«, sagte Rory, »sicher.« Sie mochte seine Zurückhaltung, diese Distanz, die er zwischen ihnen wahrte; Sie konnte aber nicht sagen, ob es einfach Respekt vor ihrer Trauer oder angeborene Schüchternheit war. Rory glaubte, sich zu sehr an laute Männer gewöhnt zu haben, um langes Schweigen ertragen zu können.

»Der Name…«

»Mein Name. Meine Schwester hat ihn benutzt. Es war ihre zweite Auslandsreise – das erste Mal, vor vier Jahren, war sie nach Hongkong gereist. Es gab ein Problem – sie musste ausreisen –, und sie haben ihren Reisepass markiert, sodass sie ihn nicht mehr nutzen konnte. Und deshalb brauchte sie, als sie nach Saudi-Arabien ging, eine neue Identität. Also hat sie meinen Namen benutzt. Das ist bei Schwestern nicht besonders schwierig, wenn man die Papiere hat und das Geld für die Gebühren.«

Und so hatten sie es gemacht: Rory sah sie beide vor sich, Schulter an Schulter, mit derselben Frisur, sie probten, wie gleich sie aussehen konnten, aus verschiedenen Blickwinkeln und mit bestimmten Gesichtsausdrücken. Soli war fünf Jahre älter, und der Altersunterschied zeigte sich auch in der Üppigkeit von Solis Körper gegenüber Rorys drahtiger Jugend; Soli hatte sechs Monate zuvor Nathan zur Welt gebracht, aber sie hatte ihr Normalgewicht zurückgewonnen und war umso ehrgeiziger, so schnell wie möglich wieder abzureisen. Aber das Wichtigste war das Foto – von den Schultern aufwärts. Es war Rorys Pass mit ihrem Foto, logisch, ein absolut legales Dokument, das Solis Vermittler gegen hohe Kosten (wie er versicherte) beschafft hatte, ohne dass Rory deshalb den langen und ermüdenden Weg nach Manila auf sich hatte nehmen müssen. Rorys Herz flatterte, als sie den dunkelbraunen Pass aus Solis Handtasche kommen und auf den Küchentisch fallen sah, die Seiten so frisch und steif, dass Soli sie fast auseinander brechen musste, und sie starrten gemeinsam auf Rorys Foto, Rory strich mit den Fingern über das Plastik, bevor Soli den Pass wieder an sich nahm und mit einem Kugelschreiber Rorys Unterschrift imitierte, was sie vorher tagelang geübt hatte. Sie hätte »Aurora V. Cabahug« in jeglicher Form schreiben können; sie hätte auch ihr eigenes Bild einsetzen lassen können, keiner hätte das gemerkt. Aber Soli genoss anscheinend den Kick, in Rorys Person hineinzuschlüpfen – oder, zumindest, ihr eigenes Gesicht und ihren eigenen Namen abzulegen. Auch Rory fand es spannend, jemand anderes zu sein. Soli steckte den Pass schließlich zurück in ihre Tasche, und das war das letzte Mal, dass sie ihn sehen würde – es sei denn, irgendjemand in Jeddah würde ihn finden und in einen Umschlag stecken.

»Haben sie gesagt, warum sie ertrunken ist?« Rory war jetzt an der Reihe, Fragen zu stellen. »Habt ihr was Neues rausgefunden heute Morgen?«

»Nein, leider nicht. Der Vize konnte nichts weiter in Erfahrung bringen, keine Ahnung, mit wem er telefoniert hat. Sie wissen da nur, dass wir die Leiche abholen.«

»Sie war eine gute Schwimmerin, weißt du«, sagte Rory und blickte wieder zur Seite. Das Meer war jetzt weit hinter ihnen, und links und rechts lagen sattgrüne Reisfelder. Die Luft war kühler, der Boden nass.

Walter dachte an all die Wasserleichen, die er aus nächster Nähe hatte inspizieren müssen – nicht sehr viele, ein halbes Dutzend vielleicht, aber genug, um zu wissen, jedenfalls nach den Zeugenaussagen, dass die meisten dieser Leute gute Schwimmer waren. Oft lag es an was anderem – eine starke Strömung, ein Moment der Unachtsamkeit. Seine erste Leiche hatte er mit zehn gesehen; es war ein geflüchteter Sträfling, aus einem überfluteten Steinbruch in Marikina gezogen. Er hatte sich über die ausgesprochen feingliedrigen Tattoos gewundert – endlose Reihen von Schlangen und Drachen, die sich in das dunkle Violett der aufgedunsenen Haut einfügten. Der Mann war anscheinend schon vor Jahren aus dem Gefängnis in Nueva Ecija geflohen. Walter und seine Leute kannten ihn nur als talentierten Schnitzer von Holzspielzeugen, Steinschleudern und Kreiseln. Niemand war hinter ihm her gewesen, als er in die Grube fiel; vielleicht hatte er einfach etwas Abkühlung vor der drückenden Hitze gesucht.

»Ertrinken ist eine Todesursache – aber kein Grund, zu sterben«, meinte Walter.

»Nein, ist es nicht«, stimmte Rory zu. »Hilfst du mir?«, fragte sie unvermittelt.

»Helfen bei was?«

»Herauszufinden, warum sie gestorben ist. Ich meine, wurde sie gestoßen, ist sie gestürzt, gesprungen, sowas. Du bist Polizist, oder nicht?« Walter konnte die Frustration in ihrer Stimme hören.

»Ja – ich bin nur ein einfacher Polizist, weißt du –, aber natürlich helfe ich dir so gut ich kann – wie jetzt gerade…«

»Nein, nein, das meine ich nicht, ich brauche keinen Fahrer – versteh mich nicht falsch, ich weiß das zu schätzen, wirklich, aber – ich brauche jemanden, der mir die Wahrheit sagt.« Ihre Hände suchten nach etwas, woran sie sich festhalten konnten, Walter hatte Sorge, dass sie auf die Sonnenblende einschlagen würde, aber sie hielt kurz inne, ballte die Hände zu Fäusten, öffnete sie wieder und legte sie langsam zurück in den Schoß wie heimkehrende Vögel.

Walter fragte sich, welche Wahrheiten sie zu erfahren hoffte, so weit vom Tatort entfernt; es müsste einen Antrag und die Anordnung einer Autopsie geben, und jemanden, der sie durchführte, und zwar korrekt. Das wäre noch der einfachere Teil. Manchmal waren Anhaltspunkte nicht an der Leiche, sondern in Dokumenten und Worten zu finden, welche aufgezeichneten Gedanken und Gefühle auch immer die jeweilige Person hinterlassen hatte. Das waren die technischen Probleme, und egal wie herausfordernd die auch sein konnten, es gab immer noch schwierigere Fragen, Komplikationen, die oft mit dem simplen und naiven Bestehen auf der Wahrheit begannen.

»Sie hätten es zumindest mir zuerst mitteilen können«, sagte Rory, ihr Schock und Schmerz zeigten sich jetzt in grübelnder Logik. »Wie können die so – so fahrlässig sein? Sie hätten mir aus Jeddah gleich ein Telegramm schicken müssen, oder nicht? Sie hätten auch jemanden nach Paez schicken können, um mir zu sagen, was passiert ist, langsam und ernst, aber freundlich, von Angesicht zu Angesicht, oder nicht? Dann wäre ich jetzt besser darauf vorbereitet.«

Walter wusste darauf eine Antwort, schließlich stand er seit vielen Jahren auf der anderen Seite, aber die würde ihr jetzt nicht helfen, also sagte er nichts. Einmal wäre er fast über die Leichen zweier alter Männer gestolpert, die auf Zeitungspapier auf dem Boden des städtischen Leichenschauhauses lagen und auf ein ärmliches Begräbnis warteten; die Haut sah aus wie Holz, dunkel und trocken, als ob sie dort schon sehr lange Zeit gelegen hätten und jegliche Ausdünstungen aus ihnen entwichen wären, während der Gerichtsmediziner frischere, aber prominentere Leichen auf seinen gekachelten Tisch hievte. Hatte irgendjemand ihren Familien gesagt, wo sie jetzt waren? Wusste irgendwer, wo diese Familien lebten? Interessierte sich irgendjemand dafür? Was hielt den Aufseher im Leichenschauhaus davon ab, sie an einem verschlafenen Donnerstag auf einen Müllwagen und in gnädiges Vergessen zu werfen? War es möglich, dass Söhne und Töchter letzten Endes doch gefunden und informiert wurden, oder dass die immer noch unterwegs waren auf einem Kanu oder Wasserbüffel und nach ihnen suchten?

Stattdessen fragte Walter: »Was hat sie in Jeddah gemacht?«

»Sie hat sich um das Kind einer Prinzessin gekümmert«, sagte Rory. »Sie konnte schon immer gut mit Kindern, sogar mit mir, auch wenn ich das nicht immer zu schätzen wusste.« Rory zog ein kleines Tuch aus der Tasche und tupfte ihre Augen trocken. »In Hongkong hatte sie als Dienstmädchen für eine Familie gearbeitet. Das war alles, was sie tat – sich um andere Leute kümmern –, obwohl sie sehr klug war, sicher klüger als ich, nur ging sie nicht lange zur Schule, ich schon. Sie hatte im Ausland gearbeitet, damit ich mein College beenden konnte – habe ich aber nie… Und ich habe ihr das nicht, nie gesagt, auch wenn ich es vorhatte… Jetzt wird sie es nie erfahren.« Rory erinnerte sich an die Bilder, die Soli ihr geschickt hatte – Soli in der grellen, pinken Jacke, auf der eine winkende Micky Maus prangte, die Hände in den Taschen, die Haare flatterten in ihrem Gesicht vom Wind, der über den Star Ferry-Fährhafen fegte; an jeder Seite das braune Gesicht einer Filipina – drei Mädchen an einem der seltenen Tage zusammen und draußen, an einem Ort, dessen Sommerwetter und Straßengerüche sich nach Zuhause anfühlten, und doch in vielem sehr anders war, so, als ob sie zwei Dekaden in die Zukunft gereist wären, wie in einer Zeitmaschine.

»Was ist in Hongkong passiert?«

»Was meinst du…«

»Du hast gesagt, dass sie nach Hause geschickt wurde…«

»Hab ich das? Ja, ja, das wurde sie – aber sie hat darüber nie wirklich gesprochen, außer dass es da ein Missverständnis mit ihrem Arbeitgeber gegeben hätte…«

»Was für ein Missverständnis?« Walter wich einem Dreiradtaxi aus, das ihrem Van gefährlich nahe kam; Dreiradtaxis waren der Fluch der Landstraßen, sie beachteten nichts und niemanden, wie die Wasserbüffel, die sie ersetzt hatten, tuckerten fröhlich vor sich hin, während LKWs und ihre Fahrer in ihrem Kielwasser rauchten vor Wut.

»Ich weiß nicht, oder erinnere mich nicht, ich hab nicht weiter nachgefragt, ich war einfach froh, sie wieder bei mir zu haben…«

Rory klang gestresst und durcheinander, aber Walter musste jetzt dranbleiben. »Ich will es nur verstehen«, sagte er. »Deine Schwester hat Paez verlassen, um in Hongkong als Dienstmädchen zu arbeiten. Dann kam sie zurück, nach wie langer Zeit?«

»Fast drei Jahre…«

»Drei Jahre, und dann ist sie in Paez geblieben?«

»Ja, für eineinhalb Jahre – da hat sie Nathan bekommen…«

»Nathan?«

»Ihr Sohn, mein Neffe – der kleine Junge von heute morgen. Er wird zwei – nächsten Monat, am 9. Oktober.« Rory hatte wieder Tränen in den Augen. »Er weiß es nicht, er kann das noch nicht verstehen. Meine Schwester Soli ist nach Jeddah kurz nach seinem ersten Geburtstag. Sie hat Nathan nicht wieder gesehen.« Sie drehte sich zur Seite, um in ihr Taschentuch zu schnäuzen. »Manchmal nennt mich Nathan Mama – ich zeige ihm dann Fotos von seiner Mutter und sage ›Hier, das ist deine Mama‹, aber es nützt nicht viel, er hat Soli nie wirklich gekannt. Seine Mutter ist für ihn eigentlich schon vor einem Jahr gestorben – abgesehen von dem Spielzeug und der Schokolade und den Briefen, die er nicht lesen konnte, auch wenn ich versucht habe, ihm zu erklären, was in den Briefen gestanden hat, so gut ich konnte…«

Walter sagte nichts, beeindruckt von der Wahrhaftigkeit ihrer Trauer. Es war immer einfacher, mit Verlogenheit und Angeberei klarzukommen, wenn du sie einmal erkannt hast – tatsächlich kam er besser mit dem Tod selbst als mit seinen chaotischen Konsequenzen zurecht. Er konnte und wollte keine besonderen Gefühle für die Verstorbene entwickeln – ein Name auf dem Telegramm einer Behörde, und es war nicht mal ihr richtiger Name. Wie konnte jemand sein Baby zurücklassen und auf die andere Seite der Erde abhauen? Um für das Essen zu sorgen, sicher, aber war das nicht…«

»Wo ist er…«, platzte es aus Walter heraus.

»Wer?«

»Solis Mann.«

»Sie haben nicht geheiratet.«

»Dann eben der Vater des Jungen.«

»Ich weiß nicht…«

»Wie kannst du das nicht wissen?« Walter konnte seinen Ärger schwer unterdrücken.

»Ich weiß es nicht! Sie wollte es mir nicht sagen, okay, ich hab sie deswegen gefragt, aber sie wollte es mir nicht sagen. Sie sagte, es wäre nicht wichtig – und nach einiger Zeit war es das auch nicht mehr, auch nicht für mich. Wer auch immer er war, ich habe ihn nie gesehen. Warum fragst du sowas?«

»Du hast mich gebeten, was über Soli rauszufinden.«

»Über ihren Tod, ja, nicht über ihr Leben.«

»Also wo sonst sollte ich…«, fing Walter an, aber Rory drehte sich weg, rutschte weiter weg von ihm; er hatte ihre Reaktion aus dem Augenwinkel beobachtet und entschied, nicht weiter nachzubohren. Beruhige dich, hüte deine Zunge, das hier ist nicht dein Fall, es ist überhaupt kein Fall, es ist die tote Schwester von einer Frau, der du hilfst, sie nach Hause zu bringen, nur der Fahrer eines Leichenwagens, nichts weiter. Nichts weiter.

Es war Mittag, als sie Laguna erreichten, angekündigt von einem Betonbogen über dem Highway, der auf beiden Seiten dasselbe Bild bot, endlose, flache Streifen von Reisfeldern, umgeben von Kokospalmen. Walter war weit genug im Land herumgekommen, um zu wissen, dass es nicht überall so aussah – und dass es Filipinos gab, die von Bergen und vom Meer träumten, von Orten wie Paez auf der abgewandten Seite einer großen Insel, und mit diesen Träumen alt wurden –, aber er wusste auch, dass man stundenlang herumfahren und nichts als das Meer auf der einen und Kokospalmen auf der anderen Seite sehen konnte, so weit war das Land, und gleichzeitig so nah. Walter wusste noch mehr: Dass tief in diesen Wäldern von Kokosnusspalmen und Bambus, zwischen den Duhat- und den Tamarindenbäumen, einige Leute Waffen trugen, die weitaus größer waren als seine 38er-Dienstwaffe. Es waren Handlanger und Anhänger eines verbissenen Glaubens an – was war es nochmal? – Gerechtigkeit, oder die Zukunft oder irgend so eine Abstraktion, die niemals eine weitere Leiche mit offenem Mund und von Fliegen befallen, irgendwo in einem Graben, rechtfertigte. Er hatte schon einige davon gesehen die Straße entlang, als er dort die ersten paar Mal unterwegs war, allerdings beim letzten Mal – er saß als einfacher Zivilist in einem Bus – glaubte er, sie äußerst lebendig gesehen zu haben, als dunkle Schatten im Bambusgestrüpp. Sogar jetzt, er fuhr gerade vorsichtig durch eine enge Kurve, hupend und mit aufheulendem Motor, war er sich nicht sicher, ob ihn am anderen Ende ein Armeetransporter oder provisorischer Checkpoint erwartete – eine Schranke, eine Stahltonne –, die das zeitweilige Durcheinander von Distrikten markierten. Das war es, worum es in diesem Land wirklich ging: Distrikte, Grenzen, Absperrungen, die dich daran erinnerten, wo du hingehörtest und wo du standest. Diese Dinge zu vergessen, war der Anfang vom Ende, und Walter hatte nicht vor, noch einmal diesen Weg zu gehen, Besonnenheit war nun seine Parole, Besonnenheit und Umsicht, das Vermeiden von unnötigen Konflikten – von denen es, Gott wusste das am besten, mehr als genug gab in Walters Welt.

Deshalb konnte und wollte Walter, als er den Van auf eine Raststätte lenkte, die, wie er wusste, gut war für ein spätes Mittagessen, nichts unternehmen, als Rory keinerlei Anstalten machte auszusteigen, ohne jedwedes Interesse an Essen oder einem Gang auf die Toilette. Walter entschuldigte sich, verzichtete auf das Mahl und beeilte sich auf die Toilette zu gehen und etwas Wasser in den Kühler des Vans zu gießen. Rory tat so, als ob sie döste, während sie ihn dabei beobachtete, wie er die Hand hochhob und am Daumen lutschte, als ob er ihn sich an der Kühlerkappe verbrannt hätte, wahrscheinlich hatte er das, und er konnte nicht ahnen, wollte vielleicht auch nicht darauf achten, dass sie ihn beobachtete. Sie unterdrückte ein Grinsen, sah ihn plötzlich als einen Jungen auf Botengang vor sich, für den sie die Sache nicht einfacher machte; aber wie könnte und warum sollte sie auch, in ihrer Lage brauchte sie jemanden, der ihren Schmerz fühlte und teilte, oder zumindest ihre Ernsthaftigkeit zu honorieren verstand. Sie waren auf einer gemeinsamen Reise aus dem traurigsten und ernstesten aller Gründe, und das Beste, was sie tun konnten, war, das so schnell wie möglich hinter sich zu bringen – auch wenn sie in Wahrheit gerade furchtbar großen Hunger bekam und sich sehr zusammenreißen musste. So hätte auch Soli gedacht und sich verhalten, ohne Zweifel. Trotzdem war sie froh, dass sie noch ein bisschen Brot, in Kaffee getunkt, gegessen hatte, bevor sie losgefahren waren; die Erinnerung daran ließ das Wasser in ihrem Mund zusammenlaufen. Als Walter sich wieder auf seinen Sitz quetschte und das Auto zurück auf die Straße und in den Verkehr lenkte, hätte sie ihn fast angebrüllt, dass er anhalten solle, um ihm ihren Hunger und ihr Bedürfnis nach einer normalen Unterhaltung zu gestehen. Stattdessen setzte sie ihre Sonnenbrille auf, so konnte sie für sich sein und Walter seinen eigenen Gedanken nachhängen. Sie sagte auch nichts, als Walter mit einer fast extravaganten Geste eine Tüte Chips mit den Zähnen aufriss, die er an der Raststätte gekauft hatte, sich eine Handvoll davon beim Fahren in den Mund stopfte und keinerlei Anstalten machte, ihr welche anzubieten.

Walter starrte auf die Asphaltstraße, die sich Kilometer um Kilometer durch Kokosnussland bohrte. Hier und da bot ein entgegenkommender Jeepney, bis an die Decke beladen mit struppigen Kindern, prallen Stauden grüner Bananen oder Hühnern in Drahtkäfigen etwas Ablenkung und erinnerte Walter daran, auf die Straße zu achten. Rory hatte sich in ihrer Ecke eingemummelt, sie wollte ihre Nerven nicht noch weiter strapazieren, und ihre Hände umklammerten das Taschentuch zwischen ihren Knien. Ihre Augen waren geschlossen, und ihr Atmen war so gleichmäßig wie das Klopfen des Motors auf einer Straße in einer Gegend, die so unveränderlich schien wie die Sterne am Nachthimmel.

Als der Wagen gerade eine Stahlbrücke, die in eine andere Stadt führte, überquert hatte, fand sich Walter auf einmal in einer Prozession von Jeepneys und Dreiradtaxis wieder, die sich hinter einem dreckigen, grauen Kombi formierte, dessen hinteres Dach und die Sitze abmontiert waren, um Platz zu machen für eine Pritsche aus Plastik, auf der ein weißer Kindersarg, bemalt mit silbernen Muscheln, ruhte. Walter schob sich Meter um Meter an diesem Trauerzug vorbei, und versuchte dabei sein Bestes, um nicht respektlos gegenüber dem toten Kind zu erscheinen, zog aber dennoch böse Blicke der Familie im vordersten Auto, direkt hinter dem Sarg, auf sich. Ein kleiner Junge, vielleicht der Bruder des toten Kindes, winkte ihm zu und Walter lächelte zurück; der Junge war bald außer Sichtweite. Rory schlief, ihre Züge hatten sich entspannt in dieser ersten Stunde der Ruhe.

Der Anblick von Trauer ließ Walter zurückdenken an die Zeit, als sein Vater gestorben war, sechs Jahre zuvor. Er war oben in Baguio, trank ein Bier auf der Terrasse des Mountain Park Hotel und betrachtete das Durcheinander von Sonnenblumen und Gladiolen in dem Wildwuchs unter ihm. Noemi war noch duschen, und er ging davon aus, dass sie bald runterkäme, um gemeinsam essen zu gehen. Bessie hätte darauf bestanden, ein nettes Lokal auf der Session Road oder am Burnham Park zu suchen, eines mit Tischdecke und gutem Geschirr – sie mochte es, ihm in diesen Dingen etwas beizubringen, und er musste so tun, als ob er etwas von ihr lernte und dieses Lernen genoss –, Noemi aber hatte etwas Befreiendes, war für alles zu haben, für Plastikbecher und teigige Würstchen, jetzt, nachdem er einmal ihr Vertrauen gewonnen hatte. Sie hatte auch kaum eine Wahl, und er genauso wenig, meinte er: Wenn er sie verließe, wäre das ihr Ende, und diese Abhängigkeit erfüllte ihn mit Zärtlichkeit und Verantwortungsgefühl. In Wahrheit war es der Nervenkitzel seiner ersten Affäre, den er genoss, seine zweiten Flitterwochen – in derselben Stadt sogar –, der Geruch von Körperpuder zwischen ihren Brüsten, das ständige Verlangen, seine Hand in eine ihrer Hosentaschen zu versenken, ihre Knochen unter dem Fleisch zu spüren. Noemi, ein Strich von einer Frau, ein unerwartetes Geschenk und offenes Geheimnis, aber nur für ihn, zumindest fast: Nur sein Partner Julio wusste, dass sie mit ihm hier war, und sicher nicht Bessie, die glaubte, dass er gerade unten in Dumaguete war, um einem Hinweis wegen der Uyboco-Entführung nachzugehen. So ist der Job, sagte er immer zu ihr – ein Job, über den ich dir nur soviel erzählen kann, wie es gut für dich ist (sogar jetzt), ein Job, der mich mit anderen Leuten und Dingen konfrontiert, zu meinem eigenen Schutz (sogar jetzt), ein Job, der nichts anderes bedeutet als die Verlorenen und Kaputten vor sich selbst und ihren Neigungen zu schützen (sogar jetzt).

Als er Noemi zum ersten Mal, das war fünf Wochen her, in ein 24-Stunden-Restaurant in Malate ausführte, hatte er keine Ahnung, wohin das führen würde. Alles, was er wollte, abgesehen von einem Teller Nudeln um drei Uhr morgens, war, sie zu beschützen, wie jeder verantwortungsvolle Diener des Gesetzes – zumindest redete er sich das ein. Sie weinte etwas, als er ihr, mit Geduld und List eingefädelt, das unterwürfige Geständnis abluchste, sie sei siebzehn und nicht einundzwanzig, wie sie zuerst behauptet hatte. Danach, nachdem er ernst und überzeugend seiner Entrüstung Ausdruck verliehen und sodann generös Hilfe angeboten hatte, gab es keine Tränen mehr, nur noch beschämte Dankbarkeit und die sanften Andeutungen einer Zuneigung, mit der er kaum umzugehen wusste.

Er schlürfte den Schaum von seinem zweiten Bier, als sie runter kam. Sie hatte ihr orangenes Sommerkleid an, das ihre Jugendlichkeit noch unterstrich; seine Scham, mit ihr gesehen zu werden, war längst einem aufrührerischem Stolz gewichen, und er griff nach ihrer ausgestreckten Hand, ohne sie anzusehen, denn er wusste, dass sie da war. Sie bückte sich zu ihm und flüsterte ihm etwas ins Ohr, und er lächelte in Erwartung einer weiteren Zärtlichkeit.

»Das Telefon hat geklingelt, und es hat nicht aufgehört, also bin ich rangegangen«, sagte sie in einem Ton, der genauso gut zur Verlesung des Prozederes eines Gottesdienstes in der Baguio-Kathedrale gepasst hätte. »Walter, dein Vater ist tot. Er hatte einen Herzinfarkt. Sie haben ihn im Badezimmer gefunden, aber es war zu spät.«

Walter sagte für gefühlt eine Minute nichts, aber Noemi bemerkte sein schweres Atmen, ihre Worte fanden langsam den Weg in seinen Kopf. Als er wieder sprechen konnte, fragte er, beinahe wimmernd: »Wer hat angerufen?«

»Deine Frau«, sagte sie. »Sie hat in deiner Dienststelle angerufen, und sie haben ihr die Nummer vom Hotel gegeben.« Sie hörte auf, seine Schulter zu kneten. »Alles, was ich sagen konnte, war: ›Danke, ich werde es ihm sagen‹. Und danach weiß ich nicht, wer zuerst aufgelegt hat, sie oder ich.«

»Du hättest ihr irgendwas erzählen können. Du hättest vorgeben können, das Zimmermädchen zu sein.«

»Walter, dein Vater ist tot.«

»Ich weiß«, sagte er und versuchte, die aufsteigende Panik in seiner Brust zu unterdrücken, »das hab ich verstanden.«

Sie waren zurück aufs Zimmer gegangen, und die Tür war kaum zu, da wurde Walter von einem starken Verlangen übermannt. Er warf Noemi aufs Bett und fiel förmlich über sie her – vergewaltigte sie, verletzte sie aus einem Anfall von Angst und Schmerz. Schließlich lag er wie ein Baby, weinend und schluchzend, in ihren Armen, aber er konnte ihr nicht sagen, warum genau er weinte; er wusste es nicht mal selbst.

Er kehrte erst zwei Tage später nach Hause zurück, er wusste, dass sie ihn erwarten würden, die gute philippinische Familie, bevor er seinen Vater zu Grabe tragen musste. Er nutzte die Zeit, um sich zu sammeln, seine Schwester Gayla anzurufen, um ihr zu sagen, dass die Überwachung, an der er beteiligt war, zu heikel war, um sie sofort abbrechen zu können, und um sie nach der Mutter zu fragen, die ständig irgendetwas von merkwürdigen Ereignissen im Jahr 1957 murmelte; Gayla erzählte noch, dass Bessie sich dafür entschuldigt hatte, an den Vorbereitungen für die Beerdigung nicht teilnehmen zu können; sie litt wieder unter heftigen Bauchschmerzen. Walter tat so, als hätte er das nicht gehört; es war eine schlechte Lüge und noch schlechter, wenn es stimmte. Auch nutzte er die Zeit, um Noemi bei alten Freunden in Sampaloc unterzubringen, wo die Einheimischen daran gewöhnt waren, dass entfernte Onkel ihre Nichten nach Hause brachten. Und er nutzte die Situation, um sich noch länger vom Dienst befreien zu lassen, und war erleichtert, dass ihm aus Anteilnahme eine längere Freistellung gewährt wurde, die ihn für all die gestohlenen und vergeudeten Stunden, die schreckliche Papierarbeit und das ständige Überprüfen von dünnen Spuren, dreisten Beschuldigungen und unverschämten Lügen entschädigen sollte.

Und was war mit seiner eigenen Heuchelei? Sie war so sehr Teil seines Lebens geworden, dass er sie betrieb, ohne darüber nachzudenken, wie das Atmen puren Sauerstoffs und das Ausstoßen von nikotingetränkter Luft. Tatsächlich war es in seinem Job überlebenswichtig, gut lügen zu können.

Als sie seinen Vater beerdigten, brach er wieder in Tränen aus, während er und Gayla ihre Mutter zwischen sich stützten; sie hätten zu viert sein sollen, aber ihr Bruder Elmer war in der High School bei einem Busunfall gestorben. Walter war seinem Vater nie besonders nah gewesen, aber die Leute hielten das Weinen für das, was gute Kinder eben tun. Bessie tauchte schließlich auch auf, Paolo an ihre Seite gedrückt, und stellte sich ihm gegenüber hin, den Sarg zwischen ihnen.

Innerhalb weniger Tage war er zurück ins Elternhaus gezogen, und die frische Witwe empfand das als eine liebevolle Geste ihres Erstgeborenen. Es würde ein Jahr dauern, bis er und Bessie mit etwas Herzlichkeit, sogar Zuneigung, insbesondere von ihrer Seite, miteinander sprachen; sie war durch den unausweichlichen Prozess der Selbstheilung gegangen, mithilfe von Tassen sehr süßen Kaffees mit Freundinnen und Fürbitten an die heilige Jungfrau Maria, und sie war an den Punkt gekommen, ihn – sie beide – zu fragen, ob sie nicht von Neuem beginnen sollten in einem neuen Zuhause, weit weg in einem fernen Land hinter dem Ozean: Sie würde als Krankenschwester arbeiten, und er könnte machen, was er wollte, vielleicht ein Handwerk, das nichts mit Waffen zu tun hatte, wie Schreiner oder Polsterer, und sie würde ihm sein Lieblingsessen, Schwein in Garnelensoße, kochen, während er Paolo bei den Hausaufgaben helfen könnte wie der Grundschullehrer, der er eigentlich hatte werden sollen. Ja, Walter hatte sich das danach so oft selbst eingeredet, dass es fast soweit gekommen wäre. Doch sobald er flüchtige Einwände erhob, zog sie sich schnell in ihr verletztes Schweigen zurück, noch bevor es ihm möglich war, Gründe zu nennen. Für sie gab es nur den einen und der war der schlimmste überhaupt. Er hätte ihr so viel zu sagen gehabt – er hatte Noemi nicht gesehen in all diesen Monaten, nicht, dass er nicht gewollt hätte –, aber zuguterletzt war Bessie gegangen und vielleicht war das am Ende für alle das Beste, weil keiner von ihnen hatte wissen können, wie verloren er in Wirklichkeit war und sein würde, und welche Fehltritte noch auf ihn warteten. Die dumpfe Einfachheit von Paez – ein Leben wie in einer Zwischenwelt nach dem Tod, halb Bestrafung und halb Belohnung, lag nun ausgebreitet vor ihm.

»Wo sind wir?« Rory wurde wachgerüttelt, als sie durch zwei enge Kurven auf die Schnellstraße fuhren. Ihre Armbanduhr zeigte 12 Uhr 49, und sie hatten noch sechzig Kilometer vor sich, bevor sich die Jeeps, Vans und Motorroller, die von den Stränden im Süden den Heimweg antraten, zu einem summenden Schwarm vereinigen würden. Rory konnte sich von ihrem letzten Ausflug nach Manila an wenig entlang der Straße erinnern, außer dass sich die Reisfelder in dreckige Brachen verwandelt hatten, zwischen all den neu hochgezogenen Fabriken, die wattige Rauchschwaden ausspuckten, und den neuen Häusern, arrangiert wie Schuhkartons der Größe 6 in ausufernden Dimensionen, zehn oder zwanzig mal größer als die in Bagumbayani.

»Wir sind bald da«, sagte Walter, und nutzte die Gelegenheit, sich eine Philip Morris mit seinem Zippo anzuzünden. »Willst du eine?«

Rory schüttelte den Kopf. Ihre Augen und die Nase fühlten sich wund an von dem vielen Weinen. Im Gegensatz zu Nick Panganiban war sie keine Raucherin, abgesehen von ein paar Zügen mit ihren Leuten hinter dem Gebäude für Hauswirtschaftslehre in ihrem letzten Schuljahr. Es hatte sich angefühlt, als ob jemand eine heiße Gabel in ihren Rachen gesteckt hätte. Sie konnte sich anpassen – sie musste das in ihrem Job –, aber es war eines dieser Details, das sie fest davon überzeugte, gerade an diesem Morgen, dass sie, elementar und unumkehrbar, anders war. Und dennoch musste sie zugeben, dass sie jetzt, so plötzlich fast allein und weit weg von Zuhause, sich noch nie so leicht verführbar gefühlt hatte. Der Zigarettenrauch, der von der anderen Seite zu ihr hin schwebte, war zu einem vertrauten Geruch geworden, wie ein alter Schal. Vor ihnen tat sich die neue und unbekannte Stadt auf, das einzig Gewisse war, irgendwo verborgen, die Anwesenheit ihres eigenen, wenn auch falsch ausgewiesenen Blutes. Die einzigen Nachweise ihrer Identität, die sie in ihrer Tasche mitführte, waren ihre Geburtsurkunde, ein Studentenausweis, und die Beglaubigung ihres Begleiters, den sie kaum kannte und der bereit war, die unausweichliche Tatsache zu bezeugen, dass sie wirklich sie war, sie selbst und sehr lebendig.