Der Van fädelte sich in die Schlange von Lieferwagen auf der Schnellstraße ein, und Walters Fahrstil wurde ruhiger und gleichmäßiger, nur alle paar Minuten unterbrochen vom Aufheulen des Motors, wenn sich vor ihm eine Lücke auftat und Walter Gas gab, um das auszunutzen. Er hatte es gar nicht so eilig, aber er hasste es, den Jungs zuzusehen, die hinten oder oben auf den Lieferwagen hockten, die kleinen Jockeys, die von der Ladefläche herunter sprangen, um die Autos mit Pfeifen und Klatschen durch enge Kurven zu navigieren. Manchmal verloren sie wortwörtlich ihren Kopf, wenn sie aus dem Schlaf hochschreckten und plötzlich eine tief hängende Brücke oder eine Stromleitung vor sich sahen – eine Sekunde zu spät. Was Walter noch weniger ausstehen konnte, waren die starren Blicke, verbunden mit anzüglichen Gesten, sobald ein Mann und eine Frau – die vielleicht auch Bruder und Schwester waren, sofern das die Gaffer überhaupt interessierte – in Sichtweite kamen. Wäre er ganz allein gewesen, hätte er mit seiner Pistole wedeln können, um die Plagegeister zu erschrecken, aber wenn er wirklich allein gewesen wäre, hätten sie sich nicht um ihn geschert und sich in missmutiges Schweigen gehüllt. Schweigsamkeit konnte Walter verstehen, aber nicht sehr lange ertragen, wenn er mit jemandem zusammen unterwegs war, so wie jetzt. Seine Begleiterin war so still, dass man meinen konnte, sie sei eingeschlafen, aber er hörte ihre Fingerspitzen auf ihren Schoß trommeln zu einer Melodie, die er nicht hören konnte.
»Du musst deiner Schwester sehr nahe gestanden haben«, bemerkte Walter aus dem Gefühl heraus, dass er die Zeit jetzt vielleicht nutzen könnte, ihren dumpfen Schmerz zu lindern und über das Geschehene zu reden, so wie er sich bei Verhören von Verdächtigen an die Wahrheit herantastete. Die Wahrheit war niemals die Aussage einer Person oder die eine Version einer Tat, sie war oft ein schmutziges und verzwacktes Puzzle, das nicht nur mit göttlicher Geduld, sondern auch mit teuflischem Wissen über die Abgründe der menschlichen Natur zusammengefügt werden konnte.
Rory hatte die Frage gehört, antwortete aber nicht. Sie wusste, dass die erwartete Antwort »ja« war, aber das wäre eine Lüge gewesen. Sie und Soli waren nie so eng, dass die eine intuitiv wusste, was die andere dachte. Da war einmal natürlich der Altersunterschied von fünf Jahren, aber noch mehr unterschieden sie sich darin, wie sie die Welt und ihren Platz darin sahen. Wenn Rory irgendetwas von ihrer Schwester in Erinnerung war, dann war es Soledads zwanghafte und beklemmende Frömmigkeit, die weit über den Gottesdienst und andere Rituale hinausging; sie war überzeugt davon, dass sie bestraft werden müsse für unsagbar schreckliche Sünden. Sie wollte Rory einreden, jeder lustvolle Genuss müsse durch Schmerzen gebüßt werden, und so ging sie allem Vergnügen, wenn sie konnte, aus dem Weg. Und wenn sie nicht länger widerstehen konnte, dann folgte die Strafe auf dem Fuße – sie aß nichts, betete bis in die frühen Morgenstunden –, einmal ritzte sie sich sogar mit einer Rasierklinge kleine Kreuze in das Handgelenk wie ein Junkie der ganz besonderen Art. Das alles passierte natürlich erst nach dem Brand.
Vor dem Brand, als sie noch mit den Eltern in dem großen Haus lebten, entdeckte Aurora die Spieluhr ihrer Mutter, ein Mitbringsel ihres Vaters nach einer seiner Reisen in die Hauptstadt. Ihre Mutter war mit Ditoy zum Markt gegangen, und Soledad fütterte die Hühner im Hinterhof, während ihr Vater ein paar Tage in Del Monte verbrachte auf der Suche nach Ersatzteilen für die Reismühle, die das gesamte Erdgeschoss in Besitz nahm wie ein riesiges Haustier.
Wie so oft an solchen hellen und freien Vormittagen rannte sie die Treppen rauf und runter, ein selbst erfundenes Spiel, bei dem sie mehr und mehr Stufen übersprang, so weit sie eben ihre Beine strecken konnte – bis sie außer Atem war und ihre Waden heftig pochten. Und dann, oben angelangt, auf der Suche nach einem anderen Zeitvertreib, sah sie den glänzenden Messingknauf an der Schlafzimmertür. Sie drehte den Knauf, ging auf Zehenspitzen ins Zimmer, presste ihre Hand auf das blütenweiße Kopfkissen und wartete gespannt, bis es sich wieder in seine alte Form ausgedehnt hatte. Sie war schon vorher ein paar Mal hier gewesen, und der Kitzel bestand darin, nicht erwischt zu werden.
Einmal, nach einem dieser Ausflüge, hatte ihre Mutter sie beim Abendessen sehr merkwürdig angeschaut, ohne ein Wort zu sagen, und Rory konnte ihr Stückchen Tintenfisch kaum schlucken. Obwohl sie noch sehr klein war, merkte sie, dass ihre Mutter etwas ahnte und überlegte, warum sie schwieg. Es gab einen Schlüssel für das Schlafzimmer, aber der wurde nur genutzt, wenn ihre Eltern im Zimmer waren; die Tür wurde erst wieder aufgeschlossen, wenn ihre Mutter mit dem Nachttopf herausging, um ihn in der Toilette zu entleeren. Und dann erschien auch ihr Vater, kratzte seinen Bauch, stapfte in die Küche, um seine erste Tasse Instant-Kaffee zu trinken.
Sie hatten immer mal wieder Dienstmädchen, aber nur wenige konnten die Launen und die Eifersucht von Mrs. Cabahug ertragen, und so war es eine der Pflichten von Soli, vor dem Schlafengehen Wasser in einem Kessel zu kochen und es dann in eine chinesische Thermoskanne für den Morgenkaffee zu gießen. Rory liebte es, ihrer Schwester bei dieser Arbeit zuzugucken, auch wegen des Geruchs, der trotz des Korkverschlusses nach außen drang. Noch mehr faszinierte sie, wie Soli den Gasherd so aufdrehte, dass er auseinander zu fliegen drohte. Dann beschwerte sich Soli immer, dass sie mit ihrem erhitzten Gesicht kaum einschlafen könne, und wartete nur darauf, dass Rory irgendwann diese Hausarbeit übernehmen würde.
Die Schwestern schliefen auf derselben Matte und unter demselben Moskitonetz im Zimmer neben dem ihrer Eltern; Ditoy hatte seine eigene Matte und ein eigenes Netz in seiner Ecke, krabbelte aber immer noch zu den Eltern, besonders in den Augustnächten, wenn es Gewitter gab, so stark, dass große Bäume in den Wäldern von den Blitzen getroffen und gespalten wurden. Soli liebte es, sich von der schmachtenden Musik aus ihrem Kofferradio in den Schlaf wiegen zu lassen. Rorys Aufgabe war es, danach das Radio auszuschalten, und das störte sie auch nicht. Es war ein einfaches Radio, so groß wie ein Schuhkarton, mit einem Knopf fürs Einschalten und einem für die Lautstärke, und Rory hatte schnell heraus, wo die Sender waren, die Soli mochte, und die, die sie nicht mochte. Rory konnte damals noch kaum Englisch, und sie konnte sich an Songs, die sie mithören musste, allein über die Melodie erinnern; Jahre später erkannte sie einige Melodien wieder, und mit einem dicken Buch voller Songtexte bewaffnet sang sie die nach (»Loveagelessandevergreen«), aber das war anders als unter dem Moskitonetz, wenn ihr die Musik wie ein einziges, ineinander fließendes Stück erschien und sie nicht an Liebe dachte, sondern an reife Mangos, Flusskrebse und an die großen, fetten Spinnen, die wie schwarze Sterne an der Decke der Reismühle hingen.
Aber da war etwas, das Rory in dem Haus noch mehr begeisterte. Bei einem ihrer heimlichen Besuche im Elternschlafzimmer – ihre Mutter war auf dem Markt – hatte sie versucht herauszufinden, woher die seltsam klingende Musik kam, die sie dann und wann spät in der Nacht oder früh am Morgen gehört hatte, eine Musik, bei der man an das Klimpern von großen und kleinen Münzen dachte, sie konnte nur aus einem Radio oder einem Instrument stammen, das sie nicht kannte. Sie suchte unter dem Bett, aber da war nichts außer dem emaillierten Nachttopf. Aus dieser Enttäuschung heraus machte sie etwas, was sie noch nie getan hatte; sie durchsuchte die Kommode ihrer Mutter. Sie war das imposanteste Möbelstück im ganzen Haus, ein wirklicher Altar der Schönheit, dominiert von einem muschelförmigen Spiegel, der an seinen Rändern mit ins Glas eingravierten Blumen geschmückt war. Trotz ihres Alters – Mrs. Cabahug hatte ihn von ihrer Mutter geerbt – leuchteten die furnierten Paneele in frischem Glanz und ein dezent harziger Duft strömte aus seinen Ritzen. Im großen Fach standen hinter Glas, schön aufgereiht, Nagellackflaschen in verschiedenen Rottönen, von Babyrosa bis zu unverwechselbarem Blutrot. Um sie herum waren Näpfe mit Gesichtspuder und ein Bündel von Bürsten, Scheren und Feilen drapiert. Eine kleine, quadratische Flasche mit bernsteinfarbigen Parfum wurde überragt von einer rosa glänzenden Lampe, die Rory gerne angemacht hätte, aber sie war hinter Glas verschlossen wie ein teures Museumsstück.
Rory machte sich also an den unteren Schubladen zu schaffen, die keine Schlösser hatten und sich mit ihren Messingknöpfen leicht aufziehen ließen. In der rechten war ein königsblauer Schuhkarton, in dem früher vielleicht teure Schuhe verpackt waren, jetzt aber lag zusammengeknülltes Zeitungspapier darin, und als Rory es auseinander faltete, entdeckte sie kleine Porzellanfiguren, Mädchen und Jungen – nicht solche wie die Nachbarskinder, mit denen sie spielte; sie hatten orangefarbene Haare, rosa Haut, lustige Hüte und lange, weiße Socken; ein Mädchen trug einen Eimer, ein Junge spielte Geige.
Rory legte die Figuren zurück, sie waren hübsch, aber für ihre kindlichen Vorstellungen und Wünsche zu steif und zu fremd; stattdessen suchte sie in der linken Schublade weiter. Sie war vollgestopft mit kaum getragenen, perlenbesetzten Schuhen, Schmuckstücken und weißen Mottenkugeln. Und da, in einem Umschlag aus gekräuseltem Geschenkpapier, lag ein schwarzlackierter Kasten, dessen Deckel glänzte, als sie ihn auswickelte; sie erkannte auf dem Schwarz zarte rote Blüten, in Gold gefasst. Das waren keine Farben für Kinder, und genau deswegen mochte Rory sie.
Sie hob den Deckel vorsichtig mit beiden Daumen an und erschrak, als der Kasten in ihren Händen lebendig wurde: Als erstes kam Musik heraus, eine Art Glockenspiel, das sie ja schon gehört hatte, und dann die zerbrechliche, weiße Figur einer Ballerina, die sich, gestützt auf ein Bein, um die eigene Achse drehte, das andere Bein hatte sie ganz gerade von sich weggestreckt, den Arm gegenüber in Richtung Himmel gehoben. Rory sah sich die aufgemalten Details an: die um die Knöchel gekreuzten Schnürsenkel, die gescheitelten Haare, der Leberfleck auf ihrer Wange. Der Leberfleck hatte sich gerade auf die Rückseite gedreht, als plötzlich alles stehen blieb: die Musik, die Tänzerin, ihr Atem und sogar die Zeit. Sie bemerkte einen Schatten in der Tür hinter sich. Rory drehte sich um und sah Soli, die sie stumm beobachtete; das Herz der jüngeren Schwester gefror, und Peng! machte der Deckel, als sie alles eiligst zurücklegen wollte.
»Ich war bloß…«, begann sie zu erklären, aber Soli blickte auf den Kasten, und im selben Augenblick sagte Rory: »Möchtest du, dass ich ihn aufmache? Willst du mal hören?« Solis Wangen waren so dick aufgeblasen, als ob sie dringend Luft ablassen müsste, aber sie sagte nichts. Rory hob wieder sanft den Deckel an und die Musik machte da weiter, wo sie aufgehört hatte. Soli starrte wie gebannt auf die Tänzerin. Rory konnte in den Augen ihrer Schwester ein sehnsüchtiges Verlangen erkennen, überrascht davon, dass es in diesem großen Haus, voll mit Eidechsen und Spinnen, so etwas Wunderbares geben konnte.
»Versprichst du, Mama nichts zu verraten?« Aber Soli verschwand ohne eine Antwort, und Rory schaute wieder auf die tanzende Figur und bemerkte erst jetzt, dass ein Tupfer Farbe, der ihr schwarzes Haar darstellen sollte, was sie besonders gelungen fand, von der Figur abgeplatzt war. Sie stellte den Kasten wieder an seinen Platz, ging nach unten und sah Soli, wie sie den tönernen Ofen mit Holzspänen fütterte.
Sie redeten nie wieder über die Spieluhr, bis ihre Mutter selber eines Sommerabends das Thema ansprach, kurz nach dem Abendessen, als Soli und Rory den Abwasch machten, Ditoy eine Motte mit kaputtem Flügel quälte und ihr Vater am Fenster des Esszimmers stand und Rauchwolken aufsteigen ließ, um den Sternenhimmel zu verdunkeln. Aus irgendeinem Grund war es ein belastetes, unfrohes Essen gewesen; alles fühlte sich so schwer an – in der Luft, im Mund, im Hals und im Bauch. Die Eltern waren an dem Tag im städtischen Krankenhaus gewesen, um den Befund zu Mrs. Cabahugs linker Brust zu erfahren, und Mr. Cabahug hatte Probleme, das den Kindern zu erklären, weil ihm kein angemessenes Wort für »Brust« einfiel. Mrs. Cabahug betastete immer mal wieder ihre Brust, öfter, als sie selbst bemerkte, und ein unbeteiligter Beobachter hätte denken können, es würde sie da etwas jucken. Aber ihre Finger kratzten nicht, sie drückten und suchten nach etwas.
Doch jetzt kam sie aus ihrem Zimmer mit Kartons unterm Arm. »Mädchen, kommt mal her«, rief sie, und sie kamen angelaufen, ebenso Ditoy, der eigentlich nichts damit zu tun hatte, sich aber immer zwischen den Schwestern durchboxte, um dann ganz vorne neben der Mutter zu stehen, ganz selbstverständlich wie ein treues Haustier. Rory erkannte die Kartons wieder als die, die sie im Zimmer ihrer Mutter entdeckt und durchwühlt hatte, und sagte kein Wort, obwohl ihr Herz heftig pochte. Mrs. Cabahug öffnete die Kartons, wickelte die kleinen Figuren aus, sechs insgesamt, drei davon Jungen – oder Männer, die wie Jungs aussehen sollten – und drei Mädchen; die Wasserträgerin und den Geiger, die Rory schon kannte, in Begleitung von einem Polizisten, einem Feuerwehrmann, einer Nonne und einer Krankenschwester.
»Euer Vater hat mir die aus Manila mitgebracht«, sagte Mrs. Cabahug, als sie die Figuren auf den Tisch stellte, einander das Gesicht zugewandt, als ob sie sich zum Tanz aufstellten, und sie hatte sie so kombiniert, dass alles stimmig war: der Polizist mit der Nonne und so weiter. Mr. Cabahug hatte über seine Schulter geblickt, als er seinen Namen hörte, und erinnerte sich an den Markt an der Escolta-Straße, wo er die Figuren entdeckt hatte. Seine Frau hatte sie in einem Anzeigenblättchen gesehen und gab keine Ruhe, bis er sie nach seiner nächsten Geschäftsreise mitbrachte. Er fand sie damals einfach nur albern, aber heute Abend übermannte ihn die Erinnerung an die Reise und an ihre kindliche Freude, als sie das Geschenk auspackte. Er hätte sie jetzt gerne in die Arme genommen, hochgehoben und wie ein Baby hin und her geschaukelt – aber nicht vor seinen Kindern. Plötzlich gab es soviel zu sagen, aber, wie immer, fehlten ihm die richtigen Worte.
Mrs. Cabahug hatte keine Probleme, Entscheidungen zu treffen. Sie griff sich alle Jungs-Figuren und gab sie Ditoy: »Die gehören dir.« Dann nahm sie die weiblichen und sagte ohne aufzublicken: »Und diese gehören euch.« Für einen Augenblick wusste keines der Mädchen, wer gemeint war, bis Mrs. Cabahug eine der Figuren, die Krankenschwester, in Solis Hand legte, die sie eher widerwillig hinhielt. Rory konnte es kaum glauben – und Soli ebensowenig –, als Mrs. Cabahug die Spieluhr hochnahm und sie vor Rory hinstellte. »Ich weiß, dass du Musik magst«, sagte ihre Mutter. »Ich habe dich immer in den Schlaf gesungen, und war überrascht, dass du am nächsten Tag genau das Lied gesummt hast, das ich dir vorgesungen hatte.« Rory konnte sich überhaupt nicht erinnern, und außerdem war sie viel zu nervös – sowohl der Aufregung wie auch der Verbitterung wegen, die sie bei Soli bemerkte, deren Figur wie tot in ihrer Hand lag und deren Blicke verärgert zwischen ihrer Mutter und der Spieluhr, der Spieluhr und Rory hin- und herschossen.
Falls Mrs. Cabahug etwas davon bemerkt haben sollte, sie zeigte es nicht; es war nicht das erste Mal, dass sie ihre jüngere Tochter bevorzugt hatte, und sie erwartete irgendwie, dass beide das akzeptierten und verstanden – sei es, weil Solis Gesicht sie vielleicht an die erste Geliebte ihres Mannes erinnerte, eine entfernte Verwandte von ihm – oder dass sie bei der Kleinen eine höhere Intelligenz vermutete, eine Intelligenz, die sie einmal weit aus der Stadt hinaustragen würde. Einer Stadt, aus der Mrs. Cabahug selber nur selten herausgekommen war. »Ich mag auch Musik«, hörten sie Soli sagen, sie spuckte die Worte förmlich aus. »Natürlich tust du das«, sagte die Mutter, »aber du hast ja schon ein Radio und kannst sie hören. Aber das hier, das ist nicht nur was zum Hören.« Sie wollte sie nicht beleidigen oder etwas Gemeines sagen, aber Soli fühlte sich getroffen von dieser eher beiläufigen Bemerkung; was meinte ihre Mutter damit? Wie sollte sie das verstehen? Womit hatte Rory diese Zuneigung verdient? Sie bekam nicht mit, dass Rory sich dieselbe Frage stellte, und dass niemand daran gedacht hatte, ihre Mutter zu fragen, warum sie sich gerade jetzt von ihren Kostbarkeiten trennte.
Stattdessen sprang Soli auf, wie ein Kind, das sie ja noch war, und rannte in den Hof, wo sie all ihre Wut herausließ, gegen die Bank trat und damit die dort schlafenden Hühner aufscheuchte, und dann heulend im Staub saß und mit den Schuhen auf den Boden trampelte. Mr. Cabahug erschien im Licht der Tür und Soli erstarrte vor Angst, sie würde jetzt wegen ihres schlechten Benehmens bestraft werden. Aber ihr Vater zog sie einfach hoch, setzte sich mit ihr auf die Bank und erzählte ihr die Geschichte, wie er Solis Mutter an der Anlegestelle das erste Mal getroffen hatte, wo sie beide auf dasselbe Schiff warteten. Soli hatte davon noch nie etwas gehört, und ihr Ärger verflog langsam, als sie immer neue Details erfuhr – wie zum Beispiel ihre Mutter den Plan aufgegeben hatte, in der Stadt zu studieren, um mit ihm auf dem Hof zu leben, und wie sie das Land seines Vaters verkauft hatten, um jung und unerfahren, wie sie waren, in das Geschäft mit Reismühlen einzusteigen. Was sie aber erstaunte und erschreckte, war, dass ihr Vater zu weinen begann, weil sie das von ihm nicht kannte. Er erzählte ihr von der Zeit, als er der Mutter die kleinen Figuren mitgebracht hatte, Tränen liefen über seine Wangen und seine Stimme zitterte. Aber Soli war zu jung, um all das zu begreifen, das einzige, was sie mitbekam, war, dass sie so abgelenkt wurde von einem Schmerz, den sie schon lange empfand, und die tränenreichen Grübeleien ihres Vaters erschienen ihr bedeutungslos und unpassend. Je mehr sie darüber nachdachte, desto einsamer und elender fühlte sie sich, und sie begann wieder zu weinen, jetzt gemeinsam mit ihrem Vater, in einem unharmonischen Duett. Sie saßen dort im Dunkeln, bis Ditoy mit der Polizistenfigur in der Hand herauskam, um nach seinem Vater zu suchen, der sofort aufstand und mit dem Jungen zurück ins Haus ging. »Kann ich heute Nacht bei dir schlafen, Papi?«, war das letzte, was Soli von Ditoy hörte. »Aber es gibt doch kein Gewitter«, sagte Mr. Cabahug, »guck, da ist der Mond. Gehen wir rein, bevor er uns erwischt.«
Das war die Nacht, als es brannte, und es war kein großes Geheimnis, wie und von wem das verursacht wurde, obwohl Soli für den Rest ihres Lebens immer schwor, dass es ein Unfall war, dass sie nichts anderes vorgehabt hätte, als den Gasofen soweit aufzudrehen, bis er eine helle, starke und schöne, blaue Flamme bekam. In jedem Fall und egal, was Soli vorgehabt hatte, der Gasofen explodierte, stieß eine lange, alles versengende Feuerzunge aus, die das Küchendach erreichte und leidenschaftlich am verrußten Holz leckte. Das Feuer breitete sich schnell weiter aus, sprang über Wände und Türen und schluckte schließlich alles, was es vorfand.
Was den Leuten am nächsten Morgen allerdings merkwürdig vorkam, war, dass Soli fast unversehrt geblieben war, wie die Explosion über sie hinweggefegt war, sodass sie kaum eine versengte oder verletzte Stelle hatte, bis auf eine Beule rechts am Kopf, als sie beim Hinfallen gegen irgendetwas gestoßen war, eine Prellung am rechten Arm, nahe am Ellbogen, und Kratzspuren an ihren Beinen, weil sie über den Fußboden und die Erde nach draußen gezogen worden war. Als sie erfuhr, was geschehen war – ihre Eltern und Ditoy waren nicht mehr aus ihrem Zimmer herausgekommen, die Tür hatte sich nicht öffnen lassen und der Qualm hatte sie ohnmächtig werden lassen; nur Rory war im Halbschlaf gerade noch rechtzeitig hochgesprungen und hatte die Geistesgegenwart und die Kraft, ihre Schwester in Sicherheit zu bringen –, flehte Soli in schmerzerfüllten Gebeten darum, dass sie mehr leiden und anstelle ihrer Eltern hätte sterben sollen und es ihr so erspart bliebe, sich jeden Bruchteil jener Sekunden vorstellen zu müssen, in denen die Eltern und ihr Bruder verbrannten und bis zur Unkenntlichkeit verkohlten. »Warum nicht ich?«, schluchzte sie noch Jahre danach. »Warum nicht ich?«, und fügte sich auf unterschiedlichste Weise Verletzungen zu, um so das schmerzhafte Ziehen in ihrer Brust zu übertönen. Und Rory, die ihr eigenes Leid zu tragen hatte, musste auch das noch ertragen, die Lippen zusammenpressen, die Hand der Schwester halten und sie Jahr für Jahr daran erinnern, dass auch sie überlebt hatte, wofür auch immer das gut war.
Deswegen hätte sie, als sie Walter fragen hörte: »Du musst deiner Schwester sehr nahegestanden haben«, mit »Nein« antworten sollen, was der Wahrheit näher kam als ein »Ja«. Aber sie entschied sich trotz allem für ein »Ja«, weil ihr in dem Moment in den Sinn kam, wie sehr Soli sich um sie gekümmert hatte, und wie die Schwestern so durch Schuldgefühle und Trauer, wenn auch unwillig, zusammenwuchsen wie siamesische Zwillinge. Keine von beiden hatte auch nur das geringste Interesse, der anderen zu ähneln. Die eine suchte Rettung im Schmerz, während die andere sich nach den entgangenen Vergnügungen sehnte, nach Musik, Spaß, Coca Cola, einem normalen Leben.
»Was ist mit dir? Hast du Familie?«, fragte Rory ihren Begleiter, den sie meinte wiedererkannt zu haben als Gast im Flame Tree, wahrscheinlich ein eher schüchterner, weswegen sie sich nur vage an ihn erinnerte, im Gegensatz zum Ingenieur, zum Berater und sogar zu anderen Polizisten, deren Ausgelassenheit noch in ihren Ohren dröhnte, wenn sie ins Bad ging. Sogar als er in den Club kam, um ihr Solis Tod mitzuteilen, tat er das leise, diskret an Tenny Yip vorbei, und schrie nicht schon an der Tür die schlechte Nachricht heraus. Dieser Mann namens Walter schien so etwas wie Anstand zu haben, etwas, was ihr Vertrauen einflößte, so wie das traurige Schweigen ihres Vaters. Doch jetzt konnte sie aus seinem vielleicht unbeabsichtigt schroffen Tonfall eine innere Unruhe heraushören, die respektiert werden wollte und gleichzeitig nach Erlösung suchte. »Ich habe eine Schwester«, sagte er. »Und meine Mutter lebt noch.« In dem Augenblick ergriff er die Chance, einen knatternden VW-Käfer zu überholen, und sie wartete, bis er das Manöver beendet hatte, bevor sie weiterredete.
»Dann leben sie mit dir zusammen in Paez?« Sie hatte mitbekommen, dass er, warum auch immer, weder eine Frau noch ein Kind erwähnt hatte.
»Nein, sie leben hier, in der Stadt. Ich sehe sie nicht sehr oft, aber das macht ihnen nichts aus.« Und warum auch. Wenn seine Mutter ihm nicht mal was erzählen wollte über den Mann, der das Wasser ablas, oder den Zeitungsjungen, die er beide im Verdacht hatte, Geld zu verlangen für Sachen, die nie geliefert worden waren. Seitdem er einmal die Monatsabrechnung gesehen hatte, fragte er sich, warum es für eine Dreiundachzigjährige so wichtig war, jeden Tag aufs Neue von Jahrestagen oder Unglücken zu lesen. Sie konnte aber von den Zeitungen und Magazinen nicht lassen, weil sie daraus Fotos von Leuten ausschnitt, die sie zu kennen glaubte. Und was seine Schwester Gayla betraf, die pflichtbewusste Gayla, so sagte ihr hartnäckiges Schweigen mehr aus als alles andere, ein unausgesprochener, ihn ständig verfolgender Vorwurf.
Rory registrierte seine Abneigung, darüber zu reden, und beließ es dabei. Sie wollte ihn bitten, das Radio wieder anzustellen – seit drei Stunden war es still, weil sie den Nachrichtensender, den er eingeschaltet hatte, nicht mehr ausgehalten hatte –, aber sie wusste nicht, was sie hören wollte: »Sind wir bald am Flughafen? Wie lange brauchen wir noch?«
»Nicht so lange. Wir sind schon in Manila.« Und tatsächlich, die Reisfelder an beiden Seiten der Autobahn waren verschwunden und hatten Fabrikanlagen Platz gemacht, die wer weiß was produzierten: integrierte Schaltkreise, Kugellager, Plastikarmaturen, mit denen man in der neuen Zeit viel Geld machte.
Rory hatte einige Bekannte, die dort arbeiteten und die wahrscheinlich glücklich darüber waren, Paez gegen einen Schlafplatz in den Vororten und einen Sonntag in den Einkaufszentren einzutauschen, Menschen, die eigentlich nie ernsthaft eine Chance hatten, die nur widerwillig akzeptierten, dass jeder Tag, an dem man drei Mahlzeiten im Bauch hatte, ein guter Tag, und dass alles, was darüber hinaus ging, ein Segen war, der bewahrt und verteidigt werden musste vor der ständigen Gefahr, vom Glück verlassen zu werden. Manchmal glaubte sie, sie sei vielleicht auch so eine, für die das größte Glück ihres Lebens noch kommen würde, auf Zehenspitzen und von hinten, irgendwann um ihren fünfunddreißigsten Geburtstag herum, und das hätte das Gesicht irgendeines glatten, grinsenden Zwergs, den sie nicht mal lieben könnte.
Das genau war es, was vielen Menschen, die sie kannte, passierte, früheren Mitschülerinnen, die verheiratet oder zusammengezogen waren mit Klempnern, Eisverkäufern oder Hilfspolizisten – mit irgendeinem, der ihnen ein Bett oder eine Matte zum Schlafen bot, eine Dose Sardinen in Tomatensauce, hin und wieder ein Spielchen, eine warme Hand auf der Brust an einem verregneten Morgen. Rory fragte sich manchmal, ob das auch ihr Schicksal sein würde, ob das alles war, was sie erwarten durfte. Ihre Antwort war natürlich Nein, weil sie sich für etwas Besseres bestimmt glaubte, warum sonst hätte sie das Feuer überlebt? Aber das konnte sie nicht jedem sagen, sie wollte nicht zu eingebildet oder ehrgeizig erscheinen – schon gar nicht Soli gegenüber, die sich zeit ihres Lebens in erschreckender Demut ihrem Schicksal ergab.
Das klopfende Herz der Stadt kündigte sich bereits in der Peripherie an, mit riesigen Wohnsiedlungen, Fabriken und Straßenmärkten, und Rory hörte und sah Flugzeuge über ihnen, die schwerfällig und in der Nachmittagssonne glänzend aufstiegen. Rory stellte sich vor, dass sie an Bord eines dieser Flieger wäre. Sie hatte das Innere von Flugzeugen schon mal im Film gesehen, und Soli hatte ihr erzählt, wie verwirrend und doch berauschend es war, an einen gepolsterten Sitz geschnallt zu sein und ohne Ende mit Nüssen, Nudeln und anderen Mahlzeiten versorgt zu werden, an deren Namen sie sich nicht erinnern konnte, weil sie nicht wusste, wie man sie ausspricht – und dann gab es noch duftende Tücher und Getränke dazu. Soli hatte sich gut geschlagen, hatte sich an ihrem Nachbarn zur Rechten orientiert, einem Japaner, und als er seine Kopfhörer aufsetzte, machte sie das genauso, aber aus ihrem Gerät kam kein Ton, und so musste sie so tun, als ob sie Musik hörte und sich darüber freute, bis sie – nach den irritierten Blicken ihres Nachbarn – bemerkte, dass sie ihre Kopfhörer gar nicht angeschlossen hatte. Wie Soli gelacht hatte, wenn sie das irgendwo in Paez erzählte, in dem Sommer, als sie von Hongkong zurückkehrte, und Rory wirklich geglaubt hatte, dass ihre Schwester sich geändert hätte, egal, was ihr auf ihrer ersten Reise passiert war. Für einen Moment hatte Rory gehofft, Soli hätte endlich ihre Schuldgefühle abgeschüttelt und gelernt, sich selbst zu verzeihen, vielleicht in einer Art Hochgefühl, das dich an der Schulter packt, wie närrisch schüttelt und dich für den Rest deines Lebens lächeln lässt. Soli hatte tatsächlich davon gesprochen, ihren alten Besitz wieder zurückkaufen zu wollen und das abgebrannte Haus wieder aufzubauen, auch wenn sie Rory nicht erklären konnte, wie das genau vonstattengehen sollte. Aber die Energie, die sie antrieb, und der Glanz in ihren Augen, wenn sie ihr versicherte, dass alles so kommen würde, überzeugte die jüngere Schwester, dass Soli zu einem neuen, optimistischen Lebensgefühl gefunden hatte, weit weg vom erhobenen biblischen Zeigefinger und ihren Selbstkasteiungen, die Gott von ihr erwartete. Schließlich war es ja auch Gott, der sie nach Hongkong gebracht hatte mit dem Versprechen, zwei Jahre klaglosen Arbeitens würden ausreichen, um für all ihre Sünden bis ins Jetzt zu bezahlen, vorausgesetzt, sie würde sparen, so viel sie konnte, das Geld nach Hause schicken, vier Fünftel an ihre Schwester, ein Fünftel an den Dorfpriester, Bruder Kureishi, den Mann, der die Asche ihrer Eltern in die Erde versenkt und ihr bei ihrer Abreise seinen privaten Segen erteilt hatte. Jetzt, als sie hochblickte zu den ausfransenden Kondensstreifen eines längst verschwundenen Flugzeugs, erinnerte sich Rory an diese flüchtige, helle Klarheit im Leben ihrer Schwester.
Walter bog an einer Abzweigung des Superhighways nach links ab und fuhr dann westwärts in einem dichten Pulk auf der Avenue Epifanio de los Santos, jener pochenden Verkehrsader, an die sich Rory von ihrem letzten Ausflug nach Manila in die Megamall erinnerte – sie schien breiter und belebter als je zuvor. Neugierig streckte Rory ihren Kopf aus dem Fenster, und Walter musste sie zurückreißen, um sie vor den Bussen zu schützen, die dicht an ihnen vorbeifuhren. Die plötzliche Berührung – ein harter Griff an ihren Arm – drückte sie in ihren Sitz zurück. Mit offenem Mund hatte sie auf die sich ständig wandelnde Stadt gestarrt, auf jede Besonderheit, die an ihr vorbeisauste – die Hotels und Wohnanlagen, die sich frech vor dem stahlgrauen Himmel erhoben, die Baumaschinen, die furchtbar lärmten und sich bewegten wie hungrige, vorhistorische Bestien, die schiere Fülle neuer Autos und verbeulter Jeeps, die auf der achtspurigen Straße aneinander vorbeidrängten, die Werbetafeln, die von einer Sekunde zur anderen von einem hübschen Gesicht zum nächsten wechselten, Elektrogeschäfte und Möbel-Showrooms, die verchromte Waren anpriesen mit schnittigen Ecken und sexy Rundungen – Borde voller laufender, aber stummer Flachbildfernseher, die alle das gleiche Bild zeigten, Betten mit hoher Rückenlehne und apfelgrüne Sofas, die einen ganzen Raum einnahmen, Aquarien voller seltener und teurer Fische. Und die Menschen selber, die alle genau zu wissen schienen, wohin sie zu gehen oder wie sie sich zu bewegen hatten in einer gewaltigen, gelenkten und genau eingeübten Aufführung. Die Fußgänger sicheren Schrittes, auch wenn die Handys an ihren Ohren klebten, während die Autofahrer munter ihre Zigaretten pafften, mit ihren Fingern aufs Armaturenbrett trommelten im Takt irgendeines Radiosongs, den Blick immer weit nach vorne gerichtet.
Rory wusste von ihrem letzten Besuch in Manila, dass die ersten Eindrücke sich bei genauerer Betrachtung als brüchig oder falsch erweisen würden – dass sie auf den schmutzigen Bürgersteigen ausrutschen und das Abwasser in den Gullys stinken und jedes fünfte Gesicht, das ihr auf der Straße begegnete, verwirrt drein schauen würde; aber in den wenigen Minuten, in denen sie drei oder vier Häuserblöcke passierten, konnte sie Rhythmus und Bewegung nur als Ganzes wahrnehmen, wie die Brandung eines riesigen und gewaltigen Ozeans. Es war ziemlich unlogisch, gleichzeitig diese Stadt zu betrachten und über den Tod nachzudenken, dazu war ihre Vitalität, ihr Pochen auf Aufmerksamkeit, zu mächtig. Warum es genau in diesem Moment trotzdem geschah, war Rory nicht sofort klar, Walter nahm es als Zeichen schwesterlicher Trauer, jedenfalls brach sie plötzlich in Tränen aus, hin und her gerissen von widersprüchlichen Emotionen, mal Mitleid mit Soli, dann wieder Vorwürfe, dass sie so eine schwere Dummheit begangen hatte, ihr Leben zu verlieren, wo es doch noch so viel zu sehen und zu tun gab, wo immer sie sich in dem quirligen Universum außerhalb von Paez wiedergefunden hätte.
Walter glaubte das alles zu kennen, zumal er schon oft mit dem Tod und seinen Folgen konfrontiert war, aber neben einer weinenden Frau zu sitzen, das schien doch noch anstrengender. Irgendwie fühlte er sich schuldig; jeder, der sie jetzt beobachtete, würde ihn für ihre Tränen verantwortlich machen, und er hätte nicht gewusst, wie er das erklären sollte. Es war nicht nur peinlich, es war auch ungerecht. Und so war er erleichtert, dass er nicht mehr auf dem Highway war, also außer Sicht von Lieferwagen und darauf hockenden Jungs.
Als sie in eine asphaltierte Straße abbogen, an deren Ende Walter die gelbe Heckflosse eines Privatjets sehen konnte und dann weiter entfernt eine Reihe größerer Maschinen, warf er einen verstohlenen Blick auf seine Uhr, es war 3 Uhr 51. Sie hatten mehr als sechs Stunden gebraucht, und erst jetzt spürte Walter in seinem verschwitzten Rücken eine gewisse Taubheit, sicherlich ein kleines Wehwehchen im Vergleich zu dem, was Soledad Cabahug auf ihrer Reise erlitten hatte und was ihre Schwester, die vor sich hin schluchzte, durchmachte. Er hatte noch nicht an die lange Rückfahrt und an den Aufwand gedacht, den es bedeutete, Solis Leiche noch am selben Tag auf demselben Weg zurückzubringen. Er fummelte in seiner Brusttasche auf der Suche nach beruhigendem Nikotin.
Über ihnen, als ob der Himmel Rory und allen anderen trauernden Menschen in dieser ansonsten so fröhlichen Stadt sein Beileid aussprechen wollte, begann es zu rumpeln und dunkler zu werden, die Windsäcke an den Begrenzungen des Flugplatzes erwachten, füllten sich mit Luft und zeigten stolz aufgerichtet in die Richtung, aus der der Tamaraw kam. Als Walter sein Zippo aufklappte, um die Zigarette anzuzünden, drehte sich die kleine, flackernde Flamme ebenfalls nach Osten, und Rory schlug den Kragen ihrer Jacke hoch, weil ihr plötzlich kalt wurde. Vielleicht war das auch nur Einbildung, andererseits: Es war Ende August, die Jahreszeit, in der sich die warme Luft über den Wellen des Südchinesischen Meeres sammelte, sich viele Meilen nach oben schraubte, unglaubliche Hitze und feuchte Luft zusammenballte, was in den Tropen ein schlammiges und wirbelndes Chaos erzeugte und dennoch viele Dinge sauberer zurückließ als sie jemals zuvor waren.