Das war die Geschichte, die der toten Frau niemals mehr über ihre bläulichen Lippen gehen würde.
Als ihre Eltern starben und die Schwestern bei Tante und Onkel unterkamen, zog sich Soledad noch weiter in ein unheilvolles Schweigen zurück, das alle um sie herum zu respektieren verstanden, aus Rücksicht auf ihre augenscheinliche Trauer; vielleicht wurde das von ihr erwartet, nicht nur weil ihr der Mantel des Leidens so gut stand, sondern auch, weil es ihr dadurch leichter gemacht wurde, sich einzupassen in diese oder jene Position wie ein lieb gewonnenes Möbelstück.
Sie beschwerte sich nie und nahm alles, was auf sie zukam, mit demütiger Dankbarkeit hin – dankbar dafür, vom tödlichen Feuer verschont worden zu sein, dankbar dafür, so liebevoll in den Schoß fürsorglicher Verwandter aufgenommen worden zu sein, dankbar für den Fisch im Magen und die Bluse über den Schultern. Als sie entschieden, sie für einige Jahre aus der Schule zu nehmen, damit sie sich mehr um die Kinder der Familie kümmern konnte, beschwerte sie sich nicht. Als Rory die High School vor ihr beendete, und tatsächlich die Erlaubnis bekam, zu einer Abschlussparty nach Looc-Loocan zu fahren, wo ihre reichste Mitschülerin wohnte, beschwerte sie sich nicht. Als für Rory parfümierte Briefe im Briefkasten lagen oder in ihrem Algebra-Buch oder der Rocktasche ihrer Schuluniform versteckt, roch Soli daran und stellte sich mit kitzelnder Nase vor, welche Botschaften sie überbrachten, welche außergewöhnlichen Zeichen von Zuneigung und Bewunderung sie enthielten für ein Mädchen, deren Party-Outfit Soli gewaschen und gebügelt hatte – und noch immer beschwerte sie sich nicht.
Mit der Zeit verschwand Soledad Cabahug fast im Nirgendwo und jeder ging davon aus – vielleicht sogar Soli selbst –, dass sie glücklich und zufrieden mit ihrem unkomplizierten Leben war, erfüllt von Pflichten und alltäglichen Rosenkranzgebeten, Litaneien und diversen Zuwendungen an St. Pancratius, Schutzheiliger der Kopfschmerzen, und St. Jerome, Schutzheiliger der Bücher und Büchereien, eine weitere Sache, in die Soli sich zurückzog – eine verzehrende Sucht zu lesen, egal was, die irgendwann in ihrem fünfzehnten Lebensjahr aufkam, als sie ihre Schulbücher abgeben musste und von einer plötzlichen Leere ergriffen wurde. Die drei Kinder, um die sie sich kümmerte, waren fünf, sieben und zehn, und sie bemerkte bald, dass Füttern, Anziehen und Saubermachen nicht das Wichtigste war; was die Kleinen mehr brauchten, war ein Flüstern ins Ohr, ein Klaps auf den Po, ein trällerndes: »Hab ich dir von dem Fisch erzählt, der gelernt hat zu laufen und sich eines Tages in der Stadt wiederfand, vor den Füßen dieses sechs Jahre alten Mädchens, das weinte, weil sie ihre Mami vermisste? Er folgte dem Mädchen, bis sie den Markt erreichten, wo er plötzlich ein leises Gemurmel von Stimmen hörte, die er glaubte aus dem Fluss zu kennen…« Und manchmal sang sie mit den Kindern Lieder – keine niedlichen Kinderlieder über Regenbogen, Finger und Zehen, sondern die langsamen, traurigen Lieder, die sie auch in der Kirche sang und auf dem Nachhauseweg summte, und die Kinder schauten sie bewundernd an, wenn sie die Hände eines der Kinder hielt, dann die Augen schloss und zu singen begann über »den rauesten Sturm« und »den ewigen Tag«, was auch immer das bedeutete, und die Kinder fielen mit unsicherer Stimme ein – vor allem die Jüngste, Patricia –, und dann würde sie die Augen öffnen und in ein wildes Lachen ausbrechen, was das Ganze für die Kinder wie ein lustiges Spiel aussehen ließ.
Soledad hatte die Gabe, sich in andere hineinzuversetzen, ihre Wünsche zu erahnen und sie so für sich einzunehmen, dass sie sie im Gegenzug in Ruhe ließen, wenn sie für sich sein wollte oder ihre Magazine und Bücher las. Sie fand die Magazine und Bücher an den unterschiedlichsten Orten – im Wohnzimmer eines Nachbarn, im Beauty-Salon (wo sie nie etwas machen ließ, sondern sich mit einer Kosmetikerin angefreundet hatte, sodass sie sich dort aufhalten konnte, um zu reden oder in den Boulevardzeitungen und Filmmagazinen zu blättern), und sogar im Rathaus, wo es neben dem Büro des Assessors einen Raum gab, der so etwas wie eine Bibliothek darstellte, in der die Zeitungen und Magazine des letzten Jahres gelagert wurden, bevor sie beim Altpapierhändler landeten. Da sie nie viel Zeit außerhalb des Hauses verbringen konnte – sie durfte nur weg, wenn andere Erwachsene da waren, die auf die Kinder aufpassten, und wenn es irgendwelche Besorgungen zu machen gab –, schleppte sie alles nach Hause, und ihr Zimmer war voll von Reader’s Digest-Heften bis zurück ins Jahr 1972, und einem verirrten Band der Collier-Enzyklopädie von HA bis HY.
Aus der bunt zusammengewürfelten Ansammlung von coverlosen Magazinen und Büchereiramsch in ihrem Zimmer hätte man schließen können, dass Soledad keinen besonderen Wert darauf legte, was sie las; die Welt, aus ihrer Sicht, mag eine merkwürdige, aber wohltuende Ebenmäßigkeit gehabt haben, sodass die Geschichte eines Tapirs mit gebrochenem Bein im Amazonas genauso interessant war wie eine andere über Mikrowellen oder über Ruffa Gutierrez’* fotografische Missgeschicke. Und das war auf eine Art wahr, da Soledad nie etwas verriet über ihre innersten Sehnsüchte und Wünsche, falls sie überhaupt welche hatte, als wäre das ein Verbrechen. Sogar mit ihrer Schwester Rory – die angefangen hatte, Dinge über Jungs in der Schule und Namen exotischer Parfüms wie »Shalimar« zu flüstern – sprach sie verhalten, beinahe kraftlos, wie durch einen Vorhang: »Rory, heute Nacht ist Vollmond.« »Ich weiß, ich kann ihn sehen, lass uns nach draußen gehen, Schwester, lass ihn uns vom Strand aus anschauen.« »Ich habe dieses Bild vom Vollmond in Hongkong gesehen. Hohe, helle Gebäude über dem Wasser… Ich weiß, wie ein Vollmond aussieht. Ich muss ihn nicht wieder sehen. Aber geh du mit deinen Freunden, das macht mir nichts aus.«
Viele Jahre später würde Soledad diesen Mond wiedersehen – sie hielt sich am Geländer in Tsim Sha Tsui* fest und beobachtete die Muster, die durch die glitzernden Lichter am Hafen auf dem Wasser entstanden, versuchte sie zu lesen wie weiße Buchstaben auf schwarzem Papier. Aber sie suchte nach Zeichen in einer unbekannten Sprache, und der Wind peitschte ihr ins Gesicht und um ihre Beine und erinnerte sie daran, wie weit weg von Paez sie war, auch wenn der Flug von Manila nur zwei Stunden gedauert hatte, und sie wusste, dass es Ecken auf diesem Planeten gab, die noch viel weiter weg waren – Rio de Janeiro, Anchorage, die Färöer –, aber Hongkong war weit und exotisch genug. Sie hatte alles, was sie konnte, in der Enzyklopädie gelesen – über die Geschichte, die Sehenswürdigkeiten, die Nachtmärkte und Straßenbahnen und über all das, was sie dort mit Schlangenblut machten.
Es hatte jeden überrascht – am meisten Aurora –, als die sonst so unerschütterliche Soledad in helle Aufregung versetzt wurde, als ein Anwerber in Paez auftauchte, der Jobs in Hongkong und Singapur versprach. Sie blieb hartnäckig an der Sache dran und wurde so willensstark, dass sie, noch bevor das Jahr vorbei war, ihren kleinen Erbanteil am elterlichen Grundstück verkauft, sich einen Ausweis besorgt, ihr Zimmer ausgeräumt (alles bis auf die Enzyklopädie, die in ihrem Koffer verschwand) und den Bus nach Manila genommen hatte, wo sie über Nacht bei einem Cousin in Malibay blieb, bevor sie ihr erstes Flugzeug bestieg – und all das trotz des Flehens von Rory, die sich auf einmal verlassen fühlte, ohne genau sagen zu können, von was… Soli war, um ehrlich zu sein, immer mehr ein Dienstmädchen als eine Schwester für sie gewesen, und es ist schwierig, jemanden zu vermissen, der ebenso ein Fleck auf einer weißen Wand hätte sein können.
Die Familie, für die Soli arbeitete, hatte ein Acht-Zimmer-Apartment in Tsuen Wan; der Vater war Manager in einer Plastikfabrik in den New Territories, während seine Frau einen Dim Sum*-Laden um die Ecke leitete. Soledad sah sie nur sehr früh morgens und spät am Abend, aber die Mutter des Vaters, die sie mit Nai Nai* ansprachen, blieb den ganzen Tag zuhause in ihrem Zimmer und sprach mit einem kratzigen Flüstern, das Soli an das Schaben eines Bambusbesens in einer Eisenpfanne erinnerte. Sie warteten nur darauf, dass sie starb, und das wusste sie, aber Nai Nai wehrte sich dagegen mit jedem Knurren und Kichern, das in ihrem geschrumpelten Körper noch vorhanden war; es gab Fotos von ihr, als sie gute zweihundert Pfund schwer war, voll und ganz die Hausherrin; mit einer Hibiskusblüte im Haar blickt sie streng in die Kamera, der Sohn hockt auf ihren Knien und sein kleines Gesicht wirkt noch kleiner wegen ihrer großen Hand, an der er sich festhält. Soledad wusste, dass danach irgendetwas Schlimmes passiert sein musste, schlimmer als der unheilbare Krebs, der Nai Nai zu einem abgenagten Gerippe hatte werden lassen; ihr Sohn verließ das Haus jetzt ohne ein Wort oder einen Blick über die Schulter, und seine Frau bellte ihre Schwiegermutter in Hörweite der Nachbarn an: »Hör auf, auf den Boden zu spucken! Hör auf, in dein Bett zu pinkeln. Wenn du das Essen nicht magst, dann lass es eben und iss nichts!« Nai Nai quäkte und fauchte, wenn sie das Haus verlassen hatten, und ließ dann ihren Zorn an Soledad aus – die, wie eh und je ergeben, bloß die Spucke von ihrem Arm wischte und ihre Lobgesänge summte, während sie Nai Nais dreckige Decken und Laken ausschüttelte.
Aber da war noch jemand anderes, der das alles mitansehen durfte, sein Name war Hedison. Wie die meisten Leute aus Hongkong hatten sich auch die Laus westliche Vornamen gegeben, und Chester und Nancy Lau hatten sich bei ihrem einzigen Sohn für Hedison entschieden – nach einem amerikanischen Schauspieler, der einen U-Boot-Matrosen in einer TV-Serie gespielt hatte. Hedison Lau war jetzt siebzehn – ein großer, schlaksiger Junge, der gut Basketball hätte spielen können, wäre da nicht der Auswuchs zwischen dem dritten und vierten Zeh an seinem linken Fuß gewesen, eine Missbildung, die ihn, zumindest in seinem Kopf, dazu brachte, unsicher zu gehen. Er hatte seine Eltern angefleht, ihn operieren zu lassen, damit der verhasste Auswuchs entfernt würde. Und einmal, zu seinem Geburtstag oder einem anderen besonderen Tag, haben sie vielleicht ›ja‹ gesagt, es dann aber so lange hinausgeschoben, bis niemand mehr davon sprach, und die Eltern Lau einfach davon ausgingen, dass Hedison gelernt hatte, mit dem Makel zu leben.
In der Tat sehnte Hedison sich nach nichts mehr als aus diesem höllischen Apartment auszureißen und die ganze Nacht mit seinen Freunden in Lan Kwa Fong am anderen Ufer rumzuhängen, wo er klugen weißen Mädchen, kaum älter als er, dabei zuschauen konnte, wie sie sich betranken und sich um die Autos ihrer Macker versammelten, ohne darauf zu achten, ob man ihre Slips und Nippel sehen konnte, wenn sie sich bückten und ihre schimmernden Beine durch die offene Tür schwangen. Es gab keinen Mangel an Orten oder Straßen in Hongkong, an denen Hedison sein zügelloses Verlangen, ein weibliches Wesen zu sehen, wenn nicht gar zu berühren und zu fühlen, befriedigen konnte, aber er hatte weder das Geld noch das Aussehen – noch die Selbstsicherheit, die mit dem Alter und dem Erwachsenwerden kommt –, um zu tun, was er wollte, und so war er zufrieden mit einer wachsenden Sammlung von Bildern, die er auf seinem Computer und in seinem Schrank hortete. Frauen und Mädchen jeden Alters, jeder Rasse und Veranlagung konkurrierten um Hedisons Aufmerksamkeit und anonyme Fürsorge, so gut wie alle mit gespreizten Beinen wie junge Fohlen. Hedison hoffte verzweifelt, zwischen diese Beine zu kommen, um mit seinen Fingern, seiner Nase, seinem Mund, mit jedem Körperteil, das berühren und fühlen könnte, die Geheimnisse darin zu erforschen, die sein Schatz an JPEGs, AVIs und MPEGs, wenn auch mit fast mikroskopischer Genauigkeit, nur projizieren konnte, und sein Verlangen steigerte sich mit jeder Kurve und Haarlocke. Wie die meisten Jungs in seinem Alter schloss er sich ein, sobald er nach Hause kam und setzte die Kopfhörer auf, bevor er seinen PC anmachte und mit seinem Browser Jagd machte auf neue Uploads auf Seiten wie www.barenakedhoneys.com. Dann machte er es sich im Stuhl gemütlich, öffnete eine Tüte Chips und begann die Maus zu bearbeiten, völlig unberührt von der Abenddämmerung draußen, dem Gespräch seiner Eltern über die Stromrechnung und Nai Nais Schimpftiraden und dieses freche philippinische Dienstmädchen.
Manchmal sah Soledad Hedison durch einen Spalt, wenn sie wegen eines Anrufs an seine Tür klopfte, oder wenn er sich vom Badezimmer hinter ihr durch den Flur schlich, das kleine Handtuch um seine Taille wie ein herabgestiegener Jesus, ein Eindruck, der durch das leuchtende Weiß seiner Haut und seine nassen, kohlrabenschwarzen Haare noch verstärkt wurde. Hedison war sogar jünger als ihr Bruder Ditoy gewesen wäre, aber sie konnte seine Rastlosigkeit spüren wie ein Paar alter Männeraugen. Und manchmal schaute Hedison sie an, wirklich an, als etwas oder jemand, der mehr war als ein Schatten über seiner Schulter oder ein ausgestreckter Arm mit einem Telefon in der Hand. Wenn er in der Küche seine Nudeln schlürfte und die Seiten seines Chemiebuchs befingerte, beobachtete er sie, wie sie den Müll in einen schwarzen Plastiksack stopfte, und er sah eine kleine, aber kräftige Frau, deren hellbraune Haut im reflektierten Licht der weißen Wände hell schimmerte. Ihre dicken Finger und kurzen Vorderarme erinnerten an einen Terrier, aber ihr Anblick war nicht unangenehm; ihre runden Augen und vollen Lippen lagen in einem ovalen Gesicht, das mehr als Freundlichkeit ausstrahlte. Manchmal glaubte Hedison, dass etwas Boshaftes oder gar Dämonisches in dem schweifenden Blick dieser Frau lag, in ihrem unablässigen Gemurmel, in der soldatischen Effizienz, mit der sie Nai Nai hinterher putzte, einer Frau, die bereits krank war, als er geboren wurde, und von der er wünschte, dass sie einfach verschwinden oder über das Geländer zwölf Stockwerke tief in unendliche Ruhe und Frieden stürzen würde.
Eines Tages passierte es: Nai Nai spuckte so viel Blut und stieß so schreckliche und krächzende Flüche über die Familie aus, dass die Laus sie ins Krankenhaus bringen mussten, endlich, und selbst dort würde sie sie nicht in Ruhe lassen, drohte ihnen mit jeder Zuckung, die ihren Körper durchfuhr, davonzulaufen. Chester und Nancy hatten keine andere Wahl als die Nacht im Wartesaal des Krankenhauses zu verbringen. Sie ernährten sich von Automatenkaffee, während sie die Kosten für das Krankenhaus und das unausweichliche Begräbnis überschlugen.
In dieser Nacht kam Hedison nach Hause in eine leere Wohnung, zumindest fast. Die Tür zu Nai Nais Zimmer stand offen, und er konnte das leere Bett und das unberührt glatte Laken darauf sehen. »Sie sind alle im Krankenhaus«, hörte er Soledad hinter sich sagen, und schon war sie wieder verschwunden. Sein Abendessen stand auf dem Tisch – Nudeln mit Pilzen und einem Stück frittierten Barsch, der noch vom Mittagessen übrig war. Als er den Fisch kaute, konnte er das Summen in ihrem Zimmer hören – das sie mit diversen Reinigungsgeräten und der Waschmaschine teilte –, und er dachte an all die philippinischen Dienstmädchen, die am Wochenende in die City einfielen, bekleidet mit schicken Party-Outfits, und er fragte sich, ob sie Freunde hatte, was sie ihnen erzählen würde, wo die Philippinen und ihr Zuhause lagen, ob sie überhaupt eine eigene Familie hatte. Hatte sie einen Mann, vielleicht ein Kind dort? Wie war überhaupt ihr voller Name? »Amah« war alles, was er mal aufgeschnappt hatte – ansonsten hießen sie feiyung, bun bun, oder bun mui*. Wenn sie etwas falsch gemacht und die Polizei nach ihr gesucht hätte, gäbe es nichts, was er ihnen hätte sagen können, außer, dass sie alle möglichen alten philippinischen Zeitungen und Zeitschriften in ihrem Zimmer hortete. Er war ein paar Mal reingegangen, wenn sie unterwegs war – es war ihr weder erlaubt, das Zimmer abzuschließen noch einen eigenen Schlüssel zu haben –, und alles, was er finden konnte, waren Fotos von ausländischen Filmstars, zusammen mit einer Ausgabe des National Geographic über interplanetares Reisen und eine neue Affenspezies in Papua-Neuguinea. Auf dem Pappkarton, den sie hochkant gestellt hatte, um ihn als Tisch und Altar zu nutzen, stand ein pummeliger Baby-Jesus in roter Robe und mit Krönchen, und eine Jungfrau Maria aus Gips mit abgeplatzter Nase – offenbar die Objekte ihrer gemurmelten Hingabe. Neben den Figuren lag ein pinkes Notizbuch, auf dem in großen schwarzen Lettern »PRIVAT« stand, aber als Hedison das Buch durchblätterte, erkannte er nichts außer unübersichtliches Gekritzel in einer fremden Sprache. Zwischen zwei Seiten war das Foto einer jungen Frau eingelegt, ein Teenager in engen Jeans und mit hochtoupierten Haaren. Sie stand vor etwas, das aussah wie ein gläserner, kugelförmiger Aufzug, und sie hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrem Dienstmädchen, jedoch mit feinerer Nase und schmalerem Gesicht. Als er das Foto umdrehte, stand da »Liebste, ein Andenken an die Megamall, wünschte, du wärst hier! Alles Liebe, Rory.« Was und wer auch immer das war.
Als er die Tür aufstieß, war da kein Licht außer vom Mond; die Wohnung lag hoch, außerhalb der Reichweite von Straßenlaternen und Autoscheinwerfern. Ein winziges Fenster am Fuß von Soledads Bett ließ gerade soviel Licht rein, um ihre Füße und nackten Beine aus der Bettdecke hervorscheinen zu lassen. Hedison machte keine Anstalten leise zu sein; wenn sie hochgeschreckt wäre, hätte er gesagt, dass ihm eine Socke für morgen fehlte, sie wäre wahrscheinlich im Trockner, und er müsste früh raus, sehr, sehr früh.
Sie konnte ihn erkennen an der Art, wie er ging, mit dem auffallenden Schlurfen, um seinen Fuß zu schonen, er machte irgendwas in der Küche; die Tür des Kühlschranks quietschte, er war bestimmt auf der Suche nach irgendeiner Soße. Sie stellte sich die Gabel in seiner Hand, ein Klümpchen Klebreis zwischen seinen Fingerspitzen vor. Für jemanden, der sich so plump anstellte, hatte der Junge ausgesprochen lange und schmale Finger, und seine Fingernägel leuchteten in einem hellen Weiß; sie hatte sie oft angesehen, wenn er aß. Sie hörte die Teller im Spülbecken klappern, das Gurgeln vom Wasserhahn. Dann ein kurzes, heiseres Gelächter im kantonesischen Fernsehen, das Gebrüll eines Football-Matches, das Ding-Ding-Ding einer Game-Show, dann ein Knacken – und Ruhe; eine weitere Tür ging auf, eine kurze, heftige Explosion von Rockmusik aus seinem Computer, dann nichts mehr, nur noch die üblichen Geräusche eines Abends in Kowloon – der Verkehr, Telefonklingeln, das Heulen von tieffliegenden Flugzeugen. Soledad lauschte weiter, und bald hörte sie andere Dinge – ihren eigenen Herzschlag, das Fließen des Blutes in ihren Armen und Beinen, Hedisons Schritte, das Seufzen des Sofas, als er sich darauf setzte, und wieder sein Aufstehen und seine Schritte, sein Herumlungern vor ihrer Tür. Sie konnte die Fragen in seinem Kopf hören, und ihre halb-geflüsterten Antworten: »Ich habe dich in deinem Zimmer gesehen. Ich habe gesehen, was du da machst. Ich denke manchmal darüber nach, aber ich weiß nicht, wie ich darüber denken soll. Ich spüre Dinge, mit denen ich nichts anfangen kann. Ich habe darüber gelesen, ich bin nicht dumm, ich habe Bilder gesehen, die Leute verstecken oder wegschmeißen, aber – aber es ist eine Sache, zu lesen, und eine andere, die Fülle göttlicher Schöpfung zu erkennen, mit deinen Händen und Fingern. Gott macht alles geschehen, das weiß ich. Er benutzt viele Stimmen, nimmt viele Formen an. Manchmal sehe ich ihn in den Sachen, die ich lese, in Wörtern, durch viele Seiten getrennt, die sich verbinden wie lange getrennte Brüder, oder Cousins, die sich nie getroffen haben. Er sagt mir – er sagt mir, ich soll aufhören, alles verstehen zu wollen. Ich kann alles wissen, das ich wissen will, aber zu verstehen – das zu tun, liegt nur an ihm.« Sie lag in ihrem Bett, und ihr Atmen zog sich wie ein lang gespanntes Seil kurz vor dem Reißen. Als sich die Tür öffnete und sie seine katzenartige Präsenz an ihren Füßen spürte, atmete sie kurz und laut ein, um ihm zu signalisieren, dass sie wusste, dass er da war, und ihn nicht wegschicken würde. Sie konnte erahnen, wie er innehielt und sich versteifte, wie ein Tier mit hochgehobener Pfote. Als ihr Atem ruhiger wurde – als sie sich selbst dazu zwang, ruhiger zu atmen –, entspannte er sich, und sie malte sich aus, wie er sich mit einem Bein hinkniete, die Augen und Hände orientierungslos – große Augen, aber blinde Hände, die nicht wissen, wo sie hin sollen, was sie tun, wie sie berühren sollen. Sie griff nach unten, als ob sie sich am Oberschenkel kratzen wollte, und die dünne Baumwolldecke rutschte zur Seite, um seinem starren Blick ein Bein und mehr zu offenbaren. Sie war in einen Halbschlaf zurückgefallen, zumindest glaubte sie das, so lange schien es zu dauern, bevor sie seine glühend heiße Hand spürte: ein zaghafter Druck der Fingerspitzen und dann ein festeres, hungriges Kneten ihres weichen Fleisches. Das Bild einer welken Nai Nai, angekettet an ein Gewirr von Schläuchen, schoss kurz durch ihren Kopf, aber als Hedison sie entblößte, Schicht um Schicht, kümmerte sie das nicht weiter.