Ein Berg frisch gewaschener Wäsche

Es erwies sich als erstaunlich unkompliziert, die Leiche aus dem Kühllager herauszubekommen; sie hätten ebenso nach einer Sardinendose in einem Eckladen fragen können. Sobald Walter dem Wachposten am Tor seinen Auftrag erläutert und seinen Polizeiausweis gezeigt hatte, durfte er seinen Van so nahe wie möglich an den Frachtbereich heranfahren. Offenbar wollte niemand diese Särge in ihren Holzkisten länger als absolut notwendig behalten. Egal, wie Al Viduya und seine Kollegen die Situation herunterspielten oder mit hässlichen Scherzen von sich abprallen lassen wollten, die Leichen im hinteren Bereich bedrückten sie, vielleicht wegen des Gestanks, den sie dort in bestimmten Ecken bemerkten und der sich im Beton und in den Fasern ihrer Kleider festsetzte. Und sie bekamen nichts extra für diese gravierenden Umstände, ganz anders – so wurde gemunkelt – als die Angestellten von Airlines wie Quantas, die dreißig US-Dollar pro Sarg als »Erschwerniszulage« erhielten.

An diesem Dienstag Nachmittag hatte sich Al Viduya krank gemeldet. Die Kellnerin aus Ozamis war plötzlich gefeuert worden, weil sie verdächtigt wurde, eine Rechnung über fünfhundert Pesos unterschlagen zu haben, und er, in dieser Notsituation seine Chance witternd, hatte ihr angeboten, sie aus ihrer Unterkunft abzuholen und in ein Kino im Harrison Plaza auszuführen, einfach um sich von bösen Geistern zu befreien, ihren und seinen. Deswegen musste der Mann von der Nachtschicht – ein triefäugiger Nagueño* namens Eufracio Alindogan – Überstunden machen, und er wollte seinen Posten auf jeden Fall pünktlich verlassen, sobald die Uhr fünf schlug. Eufracio hatte die Zeitung schon zweimal durchgelesen und eine lange Busfahrt vor sich bis zum Grace Park in Caloocan; in einer knappen Stunde war Schluss, und er hätte die Mutter des Präsidenten verschenkt, wäre sie bei ihm angestellt und wäre ihm jemand mit irgendeinem Auftrag auf die Pelle gerückt. Als der Tamaraw-Van mit Regierungskennzeichen und einer Frau mit Sonnenbrille sowie einem Polizisten mit Zigarette im Mund in der Parkzone auftauchte, ahnte Eufracio, weswegen sie gekommen waren, und war entschlossen, das Ganze so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.

Natürlich mussten Papiere geprüft, unterschrieben und eine »Bearbeitungsgebühr« von fünfhundert Pesos bezahlt werden. Walter fischte Telegramm und Geld aus seiner Brieftasche, um es dem Wärter zu geben, aber Eufracio schaute kaum drauf, überzeugt, dass niemand aus Versehen oder aus kriminellen Motiven hier erschien, um ein zweihundertfünfzig Pfund schweres Paket abzuholen, das Tage später in eine Grube versenkt werden müsste. Eufracio verglich den Namen auf dem Telegramm mit seiner Liste, bestätigte, dass es derselbe Name war wie der auf der Kiste, schrieb die Daten von Walters Dienstausweis ab und ließ Walter mit seinem Namen unterschreiben, bis ihm klar wurde, dass Walter keineswegs der nächste Verwandte der Toten war, sondern wahrscheinlich die andere Person, die draußen vor der Tür stand und leise schluchzend ihre Oberarme rieb. Eufracio überlegte kurz, ob er die Frau nach ihrem Ausweis frage sollte – er hatte bis jetzt nichts Offizielles in der Hand, um diesen Antragstellern die Fracht aushändigen zu dürfen –, aber er entschied dann, das Telegramm und dessen Überbringer als ausreichenden Beweis zu betrachten und so der Frau und auch sich den überflüssigen Nachweis zu ersparen, dass die Leiche in seinem Gewahrsam der Trauernden mehr bedeutete als ihm. Und so, unbeabsichtigt, aber genauso gut – und ohne offizielle Quittung für die Bearbeitungsgebühr –, ersparte Eufracio Alindigan ihnen beiden die komplizierte Erklärung, wieso die Tote und ihre mutmaßliche Schwester genau denselben Namen trugen – ein Geheimnis, das zu lüften ihm, der doch so schnell nach Hause wollte, Schlaf oder, noch schlimmer, seinen Job hätte kosten können.

Die beiden Männer rollten die Kiste auf einer Art Krankenbahre aus der Tür und Eufracio rief dem Wachmann am Tor zu, ihnen beim Anheben und Hineinschieben der schweren Fracht in die offene Hecktür des Vans behilflich zu sein.

Als Rory die Kiste erblickte, lief sie einige Schritte zur Seite, so als ob sie sich überrascht und bedroht fühlte von der Massivität dieses Etwas und seinem befremdlichen Anblick. Sie war nicht in der Lage, die Qualität des Holzes einschätzen zu können, das die Saudis für die Kiste verwendet hatten; es verbreitete einen leichten Harzgeruch und wirkte noch ganz weich und frisch. Die drei Männer klemmten die Kiste zwischen die zwei sich gegenüberliegenden Sitzreihen. Walter schüttelte seine Zigarettenpackung und hielt sie den beiden hin, zum Zeichen seiner Dankbarkeit. Eufracio und der Wachmann nahmen jeder eine, und Walter ließ sein Feuerzeug kreisen. Dann zündete er sich selbst eine an, setzte sich mit dem Hintern auf den Boden und schaute in den Himmel. Die beiden anderen gesellten sich dazu, und so sahen sie aus wie die Angehörigen eines Stammes, die am Straßenrand auf den nächsten Bus warteten.

Diese Verzögerung störte Rory, die erwartet hatte, dass sie die Leiche abholen und gleich wieder zurückfahren würden. Auf einmal fühlte sie sich verletzlich neben den schweigend rauchenden Männern. Sie fragte, ob sie die Toilette benutzen dürfe, und Eufracio sprang sogleich auf, um ihr den Weg zu zeigen, und schielte dabei augenzwinkernd zu Walter. Es war nicht klar, ob Walter das mitbekam oder nicht, er zeigte es jedenfalls nicht; er war zu sehr damit beschäftigt, die massigen Wolken, die sich zu hohen, dunklen Bergen und mächtigen Türmen ausdehnten, zu beobachten und fluchte dabei über sich selbst, weil er vor der Abfahrt aus Paez nicht die Wettervorhersagen gehört hatte. Er versuchte sich auf das Wetter zu konzentrieren, aber seine Erinnerung zog ihn zurück zu dem Tag, als Bessie und Paolo von diesem Flugplatz aus abgeflogen waren, nicht weit weg von dort, wo er gerade saß. Er war dankbar dafür, dass er den ganzen Weg nicht auf sich genommen hatte, um jemanden in der Abflughalle zu verabschieden, und er fragte sich, welchen Flug man nehmen musste, um nach England und Great Yarmouth zu kommen, wie teuer das wäre und wo er über Nacht bleiben könnte, falls er überhaupt dort ankam. Er wusste, der Ort lag an der Küste mit Blick auf einen ganz anderen Horizont.

»Wie weit musst du fahren?«, fragte der Wachmann, und brachte ihn so zurück nach Pasay City und zum Geruch karamellisierter Bananen, den ein Imbiss auf der anderen Seite des Zauns verströmte. Der Essensgeruch beschäftigte ihn mehr als die Frage; er hatte seit dem Morgen nichts Richtiges gegessen, ebensowenig wie seine Begleiterin. Er hätte sie zwischendurch überzeugen müssen, eine Pause zu machen und etwas zu essen, aber wusste nicht, wie er das anstellen sollte, ohne aufdringlich zu wirken. Dann erinnerte er sich an die Frage des Wachmanns und er erklärte ihm, wo Paez lag und wie lange sie von dort bis zum Flughafen gebraucht hatten. Der Wachmann stieß einen leisen Pfiff aus, wohl um seine Anerkennung zu zeigen; er war noch nie weiter als nach Los Banos gekommen, und das war für ihn weit genug. Er blickte auf den sich verdunkelnden Himmel und sprach dann aus, was Walter lieber ungesagt gelassen hätte: »Ich weiß nicht, wie ihr heute Abend noch nach Hause kommen wollt.«

Auf der Toilette kämpfte Rory mit dem Türverschluss, der sich hartnäckig weigerte, seine Aufgabe zu erfüllen, eines von diesen Teilen, die in eine Öse gleiten sollten, aber ein paar Millimeter zu kurz waren, um diesen Job zu erfüllen. Und so stand sie da, hielt mit der einen Hand die Tür zu, mit der anderen ihre Hose, und war krank vor Scham bei der Vorstellung, sich vor diesen Leuten einzupinkeln. Die Situation war noch unangenehmer, weil sie mitbekam, dass der Mann, der sie zur Toilette geführt hatte, vor der Tür stand; sie konnte den Rauch riechen und seinen keuchenden Atem hören. Sie war sich sicher, dass er von dem Problem wusste, mit dem sie gerade kämpfte, bestimmt war das der Grund, warum er eben so hilfsbereit gewesen war. Es war wahrscheinlich Jahre her, dass eine Frau diese Toilette benutzt hatte – sie sah das an dem Dreck auf dem Boden, auf dem sie leicht hätte ausrutschen können. Und sie konnte sich denken, was er sich gerade vorstellte, den Rücken an die Wand gepresst, seine Kehle staubtrocken und sein Glied, das sich nach Berührung sehnte. Die leicht vorhersehbare Geilheit von Männern überraschte sie nicht mehr; sie hatte im Flame Tree zahllose Fummeleien erlitten und überstanden und ebenso viele Einladungen zu einer langen Heimfahrt. Das war unvermeidlich, aber nicht ausweglos, eine primitive Belästigung, die von jedem klugen und willensstarken Mädchen abgewehrt werden konnte – so wie sie eines war –, vielleicht schon viel zu lange.

Sie war mit einundzwanzig noch Jungfrau, und derjenige, der ihr am nächsten gekommen war, war der Arzt ihrer High School gewesen – ein großer, schlaksiger Mann mit dicken, fast undurchsichtigen, grün-getönten Brillengläsern. Er hatte sie überredet, sich in seinem Büro auszuziehen und sich ihm weit zu öffnen, mit der Begründung, die Krämpfe, die sie plagten, würden durch irgendein böses Bakterium in ihrer Vagina verursacht. Sie war fast besinnungslos vor Schmerzen und hätte alles getan, was er verlangte, als aber ein mit kalter Salbe beschmierter Finger ihre Vagina berührte, sprang sie vom Tisch auf und rannte an ihm und der Krankenschwester vor der Tür vorbei nach draußen, wobei sie beinahe über ihre eigene Hose gestolpert wäre, die sie hektisch neben der Tür aufgehoben hatte. Hinter ihr hörte sie die Krankenschwester kichern, als ob sie eine Comedyserie im Fernsehen anschaute, während sie sich Erdnüsse in den Mund stopfte. »Hey, komm zurück«, rief der Arzt, wobei er auch zu lachen schien. »Ich werde deine Schmerzen verscheuchen.«

Sie zog ihre Jeans runter, pinkelte so leise, wie sie nur konnte, und erblickte in der Ecke eine feuchte, fette Kröte, die im Sekundentakt Luft in ihren dicken Bauch pumpte. Das war der Moment, wo sie diesen schrecklichen Ort fluchtartig verlassen musste, der nach menschlichen Hinterlassenschaften und undefinierbarem Dreck stank, die sich offenbar überall breit machten, wo man vier Wände mit einem Dach obendrauf hinstellte. Als Rory die Tür aufstieß, erreichte sie ein Hauch kalter, frischer Luft, nur leicht angereichert mit Zigarettenrauch. Sie sah Walter, wie er mit dem Mann schwatzte und einen Zigarettenstummel auf dem Asphalt ausdrückte. Die Augen des anderen Mannes fixierten sie sofort, als ob er auf irgendwas wartete, wofür sich dieser lange, sinnlose Tag gelohnt hätte. Walter schaute sie an und sagte: »Fahren wir.« Sie ging schnell zum Van und sah, dass irgendjemand die Hecktür zur Sicherheit zusätzlich mit einer orangefarbenen Plastikschnur zugebunden hatte, als ob die darin liegende Person aufwachen und sich aus dem Staub machen könnte. Sie dachte bei sich: Es ist meine Schwester, die da drin ist, und die ist sehr, sehr tot.

Walter öffnete die Beifahrertür, sie glitt auf ihren Sitz, während gierige Augen sie weiter verfolgten. Und dann glaubte sie zu verstehen, worauf sie warteten: Sie wollten sie weinen, sich auf den Sarg werfen sehen, sehen und hören, wie sie verlangte, den Sarg mit einem Brecheisen zu öffnen, sodass sie das schwarz angelaufene Gesicht ihrer lieben Schwester sehen, vor Entsetzen erschaudern und jammern und strampeln würde wie ein angestochenes Schwein. Sie wollten eine Show, aber stattdessen hatte sie sich verhalten, als ob sie ein überdimensioniertes TV-Gerät abgeholt hätte und es noch vor dem Essen damit nach Hause schaffen wollte. Aber sie kannten Rory Cabahug nicht, sie war nicht so; sie war keine, die zurückzuckte, zusammenbrach. Ihre Gefühle, oder was dafür gehalten werden konnte, galten dem Flame Tree und ein oder zwei auserwählten Gästen.

Walter ließ den Motor an, und Rory verlor ihre Beklemmung. Als er den Rückwärtsgang einlegte und die Reifen auf dem staubigen Boden durchdrehten, rutschte die schwere Kiste im Heck ein Stück nach vorn, und Rory spürte einen Schlag gegen ihren Rücken, beschwerte sich aber nicht. Walter steuerte den Van vom Gelände, blieb am Haupttor stehen und schaute nach oben. Der Himmel sah übel aus, und schon Sekunden später klatschten dicke Regentropfen aufs Dach des Tamaraws, das Wasser strömte die Windschutzscheibe hinunter, sodass die Scheibenwischer kaum dagegen ankamen. Weder Walter noch Rory sagten etwas, obwohl sie beide dasselbe dachten: Keiner hatte davon gesprochen, über Nacht in der Stadt zu bleiben, warum auch, denn beide hatten sich vorgestellt, dass man die Kiste auflädt und dann nochmal fünf oder sechs Stunden nach Hause zurückfährt. Walter hatte eigentlich nichts dagegen, aber er war müde und, noch schlimmer, ausgehungert. Stattdessen sagte er: »Wir müssen tanken. Ich hab noch Siebenhundert von den Tausend übrig. Und ich hab noch was extra dabei für Notfälle.«

»Du musst hungrig sein«, sagte Rory. »Wir sollten was essen.«

Walter lächelte. Es war das erste Mal an diesem Tag, dass sie was Freundliches zu ihm sagte, und bestimmt hatte sie auch Hunger. »Ja, aber wo?«

»Ich kenne mich in Manila nicht aus, du entscheidest«, sagte sie.

»Wir sollten telefonieren«, sagte er. Keiner von beiden hatte ein Handy.

»Anrufen? Wo und wen?«

»Meine Mutter. Meine Schwester. Sie wohnen in Marikina.« Walter schaltete in den ersten Gang und stieß in eine Lücke im stockenden Verkehr. »Wir fahren zum Boulevard, da gibts viele Restaurants. Mit Telefon.«

Sie verließen das Flughafenareal und tauchten in den dichter werdenden Verkehr von Autos und Lastwagen in Richtung Westen, Richtung Bucht ein. Der Regen hatte den Nachmittag und alles andere in ein dunkles Blaugrau getaucht, die Oberfläche mit einem feinen, silbernen Glanz überzogen. Über der Bucht, wo der Himmel jetzt eigentlich in feurigem Orange leuchten sollte, zeigte sich ein langer, grauer Vorhang und ließ nur einen schmalen Lichtstreifen auf dem Wasser erkennen.

Rory erinnerte sich an die Bucht, die sie vor fünf oder sechs Jahren schon einmal gesehen hatte. Sie hörte gar nicht auf, ein Bogen aus Blattgold, und dahinter lagen Hongkong und San Francisco und New York und Orte, die sie nur von den Songs kannte, die der alte Nick ihr beigebracht hatte: »The loveliness of Paris seems somehow sadly gay / The glory that was Rome is of another day…«.

Als Walter den Roxas Boulevard erwähnte, dachte er an Noemi und ihr orangenes Sommerkleid und wie hilflos und zerbrechlich sie in ihren zerrissenen Jeans aussah, als sie das erste Mal in diesem 24-Stunden-Restaurant waren, das er jetzt ansteuerte. Sie war damals Masseuse im Joyluck-Club, und als er sie zur Vernehmung mitnahm, hatte er keine Ahnung, wie das enden würde und welchen Preis er zahlen müsste für die Sotanghon-Suppe und die frischen Lumpia*, die sie herunterschlang auf dem Weg zur Polizeistation. Walter gehörte damals zu einer speziellen Anti-Kidnapping-Einsatztruppe, die der Polizeichef zusammengestellt hatte. Sie waren auf der Jagd nach Leuten mit echter Intelligenz, nicht solchen Straßenkötern, Walter wurde wegen seiner College-Ausbildung für die Truppe ausgesucht, und bald begann er, diesen Job mehr zu lieben als er je erwartet hatte.

Noemi war Charlie Uybocos Gespielin in der Sauna des Joyluck an der E. Rodrigues Avenue, der plötzlich um 11 Uhr 42 in dieser Sommernacht verschwand, von drei oder vier bewaffneten Männern in einen Mitsubishi Pajero gezogen, als er nach draußen zu seinem geparkten Camry ging. Das Joyluck belegte das Erdgeschoss und den ersten Stock eines Gebäudes, das vorher an einen Laden vermietet war, der indische Autos verkaufen wollte, gebaut in Surajpur. Die Firma musste nach nur achtzehn Monaten aufgeben, hatte nicht mehr als fünfzehn »Patna«-Coupés verkauft, und das zu großzügigen Konditionen. Das Geschäft wurde eingestellt, hinterließ aber eine Box voller hübscher Plakate mit traumhaft schönen, indischen Motiven: das Himalaya-Vorgebirge, das Taj Mahal, der Palast von Rajasthan. Der Eigentümer des Joylucks hatte die Plakate in allen Kabinen aufgehängt und, in einem Anfall von Phantasie, die Mädchen in wallende Seidenkleider und rosafarbene Schals gehüllt.

Als Charlie an diesem Abend ankam, hatten die Mädchen gerade ihre letzte Schicht, manche würden bis zwei Uhr nachts bleiben, hofften inständig auf einen Ritter, der sie das Minimum von zwei Kunden pro Abend einhalten ließ. Noemi hatte diese Nacht schon drei bedient, empfing Charlie an der Tür aber wie eine taufrische Debütantin. Charlie Uyboco war zweiundsechzig, verheiratet, Einwohner von Damar Village in der Stadt Quezon, Eigentümer der Five Stars Plastikfabrik in Meycauayan, und besuchte das Joyluck mindestens zweimal die Woche. Manchmal nahm er sich zwei oder sogar drei Mädchen auf einmal, zahlte jeder tausend Pesos extra dafür, dass er ihnen heftig die Brust betatschen oder zwischen ihre Beine greifen durfte, zu mehr war er nicht mehr in der Lage. Die Mädchen kämpften um das leicht verdiente Geld und ersannen eine faire Rotation, um Charlies Gunst auf alle zu verteilen und auch, um ihn nicht zu langweilen. Das lief so einige Monate, bis er Noemi begegnete, frisch eingetroffen von irgendeinem Bauernhof in Camarines Norte und mit einem Naturtalent gesegnet, Tote zum Leben zu erwecken, wie Charlie herausfand. Ab da wurde sie das Ziel seiner Besuche, und trotz einiger schräger Blicke ihrer Kolleginnen blieb Noemi ihrem besten Kunden treu und brachte ihn sogar dazu, bei einem Lied aus ihrer High School-Zeit mitzusummen: »Shine Little glowworm, glimmer, glimmer… Lead us lest too far we wander, night’s sweet voice is calling yonder…«

Charlie überlebte dieses Martyrium, um dreißig Millionen Pesos erleichtert, die seine Frau, seine Brüder und Schwestern in Windeseile aufgebracht hatten und die sie dann in zwei großen Taschen im Kofferraum eines 84er Corona in Ormoe deponierten; sie entdeckten ihn in Davao, benommen und zitternd, übersät von Insektenstichen vor dem Luz Kinilaw Restaurant. »Warum dauerte das so lange«, war alles, was er Walter und das Team fragen konnte. Seine Kidnapper wurden nie gefunden, ebensowenig das Lösegeld. Schon bald kehrte Charlie Uyboco wieder zu seinem alten Leben zurück, zu seinem Golfspiel und den Hahnenkämpfen, aber nicht zum Joyluck und nicht zu Noemi – nur zu verständlich, für andere aber ein schmerzlicher Verlust.

Später erinnerte sich Walter an ein Gespräch, das er mit einer der Zeuginnen gehabt hatte, mit einem Mädchen namens Noemi, als die anderen Mitglieder seines Teams noch die Kassenbücher durchblätterten und die Hintern der anderen anwesenden Mädchen tätschelten. Sie war das Mädchen, das zuletzt mit dem Entführten zusammen war, und als Walter sie in dieselbe Kabine brachte, in der sie vorher mit ihm gewesen war, hatte sie alles erzählt, was sie über den Mann wusste, bis zum Leberfleck auf seinem rechten Hoden und seiner nach Australien ausgewanderten Tochter, und wie gerne er ihr, bevor er ihr den Tausend-Peso-Schein in die Hand drücken würde, Davao gezeigt hätte, wo sie doch über die Durian-Frucht gesprochen hatten und über deren pikanten Geschmack. »Könntest du für eine Woche kommen?«, hatte er sie augenzwinkernd gefragt. »Nur eine Woche, komm, nur eine Woche. Ich bezahl dir die Fahrkarte. Du wirst Davao lieben.« Es war ein altes Ritual zwischen ihnen, das Versprechen einer nebulösen Zukunft im Austausch für ein paar Minuten mehr, die sie ihm mit zärtlichen Diensten versüßte, die er sowieso, unabhängig von seinen Versprechungen, bekommen hätte. »Davao«, hatte er gesagt; er hatte immer von Durian und Davao gesprochen. Walter hatte das fast vergessen, bis Charlie Uyboco plötzlich auf der Straße weiter südlich gefunden wurde, zwischen tiefgefrorenen Thunfischen, die gerade von Jeepneys abgeladen wurden, und dem Heulen eines Muezzin, das von einem nahegelegenen Minarett abgespielt wurde.

In dem Moment fügte Walter Stück um Stück zusammen und wusste genau, was passiert und wo das Geld war. Als er in das Joyluck zurückkam, war sie nicht mehr da, sie war, sagten sie, schon seit drei Tagen nicht mehr zur Arbeit erschienen – und für eine Minute dachte er, sie sei Teil des Spiels, würde sich in frisch gedruckten Geldscheinen irgendwo in Tagaytay wälzen oder sich ein Haus und ein Modegeschäft in Daet kaufen; aber als er sie an ihrer Adresse in Singalong aufsuchte, die sie ihm gegeben hatte, hockte sie da, mitten in einem Berg frisch gewaschener Wäsche. Erst hatte sie sich geweigert, die Tür zu öffnen, aber er schaffte es durch Überzeugung, nicht mit Gewalt – mit der gleichen coolen, sanften Stimme, mit der er mit ihr in der Kabine gesprochen hatte –, sodass sie schließlich nachgab. Sie hatte aber auch keine Wahl.

»Was ist passiert?«, fragte Walter.

»Charlie rief mich vor vier Tagen im Joyluck an«, antwortete sie, »nur um zu fragen, wie es mir geht. Ich sagte, mir geht es okay. Und fragte, wo er sei. Er antwortete nicht. Er fragte mich, wo ich wohne. Ich fragte ihn, warum. Und er sagte, er wolle mir ein Geschenk machen. Und dann…«

»Und dann was?«

»Und dann bekam ich Angst. Da war irgendwas in seiner Stimme. Ich legte auf. Und dann bin ich abgehauen, ohne meine Schicht zu beenden.«

»Wer weiß, wo du wohnst?«

»Keiner. Gut – meine Eltern in Paracale, weil ich ihnen schreibe. Und auch meine Cousine.«

»Und die im Laden?«

»Ich hab ihnen die Adresse von meiner Cousine gegeben, bei der ich gewohnt habe, als ich herkam. Ich hab bei ihr in Malabon gewohnt. Sie war es, die den Besitzer des Joyluck kannte…«

»Wo ist sie jetzt?«

»Ich weiß es nicht. Seit gestern versuche ich sie zu erreichen. Sie ruft nicht zurück. Einmal nahm jemand den Hörer ab, und ich begann zu schluchzen: ›Wo bist du gewesen?‹ Niemand antwortete. Aber jemand war dran. Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich will nicht mal mehr rausgehen und telefonieren.«

»Komm mit mir zur Wache. Wir müssen deine Aussage aufnehmen.«

»Ich will nicht – ich will aber auch nicht hierbleiben…«

»Keine Sorge. Wir werden irgendetwas finden, wo du sicher bist, glaub mir.«

»Ich bin sehr hungrig. Ich hab seit Tagen nichts gegessen.«

Und so geschah es, dass sie im Aristocrat landeten und nicht auf der Polizeistation, und so verlor er Bessie und Paolo an Great Yarmouth, weit hinter der bleifarbenen Bucht.