Der Tatort

»Wohin fahren wir?« Sie waren jetzt eine Viertelstunde gefahren, ohne ein Wort zu wechseln; dichter Regen verwischte alles, was zehn oder fünfzehn Meter entfernt war, und es gab nichts, woran sie sich orientieren konnten als die roten oder orangenen Bremslichter vor ihnen, aber Walter wusste offenbar, wohin er wollte.

»Wir sind fast da«, sagte er, und sie fragte nicht weiter nach. Seltsamerweise tröstete sie sein Schweigen. Er war auf jeden Fall ganz anders als die Polizisten, die sie sonst aus Paez oder sogar Del Monte her kannte, die entweder dickbäuchige, schießwütige Schweine oder rheumakranke Onkels kurz vor der Rente waren, und alle hatten nach ein paar Bier laut und langatmig Geschichten loszuwerden von Banküberfällen oder Bordellrazzien. SPO2 Walter Zamora war nicht so gestrickt; sie hatten fast einen ganzen Tag zusammen verbracht, und er hatte praktisch kein Wort verloren über sich oder seine Heldentaten, blieb immer auf Distanz. Sie begann es langsam als Herausforderung zu sehen, ihm angesichts der vielen Stunden, die noch vor ihnen lagen, eine Geschichte zu entlocken, egal, was sie wert war.

Walter überfiel ein komisches Gefühl, da er gerade dabei war, zum Tatort zurückzukehren, getrieben von dem Verdacht, dass er noch fehlende Teile in dem Puzzle finden könnte, einen verschwundenen Beleg oder eine Botschaft mit Lippenstift auf dem Badezimmerspiegel, die ihm damals hätten sagen sollen, dass da irgendwas falsch lief, viel schlimmer als das, was er mit seinen eigenen Augen sah: ein Mädchen, zitternd vor Angst und Hunger, ein Zeichen, das er damals auf sich bezog, wenn nicht als Verlangen nach Sex, dann nach seinem warmen Körper, der sie vor allem Übel beschützen sollte. Als er verstohlen zu Rory blickte – das hatte er schon ein paar Mal getan, wenn er glaubte, sie sei abgelenkt –, dann sah er keine Unschuld, sondern Gefahr, und daher auch seine Vorsicht, seine hartnäckige Weigerung, sich auf mehr einzulassen als belanglose Unterhaltungen. Jetzt war es ihm peinlich, als er sich an die Cocktail-Kirsche erinnerte und wie sie ihm die in den Mund geschoben hatte, nur ein paar Tage, gefühlt ein Jahrzehnt her. Ob sie auch daran dachte? Erinnerte sie sich an dieses Treffen zwischen zwei Sets? Und wenn nicht, was würde das für ihn heißen?

Walter bog auf eine Zufahrt ab und fuhr dicht an den Haupteingang des Aristocrat heran; ein Portier lief zu ihnen mit geöffnetem Regenschirm, und Rory schälte sich aus ihrem Sitz heraus, um ihre Glieder zu recken. Walter blieb im Auto sitzen, steuerte einen freien Parkplatz an und rannte dann zum Eingang zurück, ohne daran zu denken, das Auto abzuschließen. Der Regen prasselte mit voller Wucht auf ihn nieder, durchnässte sein Haar, rann den Nacken hinunter und weiter bis zum Unterhemd. Rory wartete auf ihn an der Tür wie eine besorgte Ehefrau, hielt ihr kleines, gelbes Taschentuch für ihn bereit. Er nahm es ganz selbstverständlich und wischte sich damit sein Gesicht trocken.

Walter schaute auf die Tische auf der linken Seite des Raums, von denen man auf den Park und die Kirche sehen konnte. Ohne zu zögern führte er Rory in diese Ecke, und obwohl es nicht der gleiche Tisch war wie beim letzten Mal, bot er genau denselben Blick auf Kirche, Park, Restaurants, Straße und Bucht, mit minimalen Unterschieden in der Höhe und Farbe der Hecken und den Namen der Geschäfte; wenn man so da saß, wirkte alles wie eh und je – was manchmal ein angenehmes Gefühl war, manchmal nicht.

Er bestellte ein halbes Grillhähnchen mit einer Schale safranfarbenen Reis, dazu eine Cola; sie nahm eine Suppe mit dicken Lomi-Nudeln und frittierten Eierrollen. Er zündete sich eine Zigarette an, während sie warteten, und der Kellner brachte ihnen sofort einen Aschenbecher, obwohl niemand sonst im Raum rauchte. Rory registrierte, dass ihr Begleiter immer noch seine Polizeiuniform trug, deutlich erkennbar, so nass und zerknittert nach der langen Fahrt sie auch war, und einen Dienstrevolver an seiner Hüfte. Draußen tauchte der Abend die Umgebung in ein dunkles, mit Gold gesprenkeltes Blau, und nur die struppigen Palmenwipfel, die vom Wind gepeitscht wurden, ließen das Ufer erahnen. Rory sah einen kleinen Mann mit Brille und Regenschirm unter einer Markise stehen, der sie durchs Fenster anstarrte; sie war ihm schon beim Hineingehen begegnet, und er hatte sie an jemanden erinnert, den sie kannte. Es war nervend, wenn man nach langer Zeit manche Leute nicht mehr traf oder wiedererkannte, wohl aber ihre billige Kopien. Rory fragte sich, wie Soli wohl aussah, bevor sie starb. Hatte sie ihre Frisur geändert, Gewicht verloren, hatte Unglück ihren Rücken gekrümmt oder zumindest die Mundwinkel nach unten gezogen? Vor drei Wochen hatte sie den letzten Brief von Soli erhalten, und, um die Wahrheit zu sagen, sie schien glücklich zu sein, plauderte über ihr Leben im Dienst der Prinzessin, einen Jungen namens Fouad und die Villa an der Bucht, in der sie wohnte, und wie sie sich nach Paez vor allem der Zwergpalmen wegen sehnte. Das Foto in dem Umschlag zeigte Soli vor einem blauen Streifen, dem Ozean, ihr Kopf bedeckt mit einem Tuch, und wenn Soli nicht geschrieben hätte: »Das bin ich«, hätte sie ihre Schwester nicht erkannt. Rory nahm sich vor, den Brief Walter zu zeigen, sobald sie wieder in Paez waren, als Beweis – aber wofür?

Walter bot Rory eine Zigarette an und diesmal nahm sie eine; der Rauch kratzte und kitzelte ihre Lunge, gab ihr aber vorübergehend ein Gefühl von Wärme.

»Es ist noch eine lange Fahrt«, sagte Rory.

»Ja, ist es«, antwortete er, »aber wenn wir gleich nach dem Essen losfahren, schaffen wir es bis Mitternacht.«

»Bist du nicht müde?«

»Doch, bin ich, sehr sogar. Aber ich kann noch fahren, wenn wir heute Nacht zurück sein wollen.« Kaum merklich lag die Betonung auf dem »wenn«, und Rory fragte sich kurz, ob sie das vorschlagen sollte oder doch besser er. Sie wollte vermeiden, dass er auf irgendwelche blöden Gedanken kam, hatte selber aber auch keine Idee, wie das jetzt weitergehen könnte. Ganz bestimmt waren sie nicht darauf aus, in irgendein Motel zu gehen und im gleichen Bett zu kuscheln. Aber wenn sie schon erschöpft war nach diesen sechs oder sieben Stunden, in denen sie nichts getan hatte als zu sitzen, wieviel müder müsste er sein, jetzt und erst recht später.

»Müssen wir? Ich meine, noch heute Nacht zurückfahren?« Rory hörte kaum ihre eigene Stimme.

»Macht das einen Unterschied?«, fragte er und nickte vage in Richtung Van und seiner einsamen Fracht.

»Ich habe noch keine Vorbereitungen getroffen, also für ihre Beerdigung. Ich nehme an, dass es schnell gehen muss. Oder jedenfalls so schnell wie möglich. Es gibt niemanden, der darauf wartet.« Rory dachte an die Ecke des Friedhofs, wo ihre Eltern und Ditoy lagen, und überlegte, ob da noch Platz genug war für ihre Schwester, wenn nicht für den Sarg, dann wenigstens für die Urne, falls Rory sie einäschern ließ. Sie hatte keine Ahnung, wo oder wie Leichen eingeäschert wurden oder wie groß oder klein die Überreste nach der Verbrennung sein würden. Niemand, den sie kannte, war jemals eingeäschert worden, nicht mal ihre Familie, deren verkohlten Gebeine in verschlossenen Särgen beerdigt wurden, auch um den Schmerz über ihr Ende zu lindern. Sie stellte sich vor, dass Soli dann nichts mehr als ein kleiner Haufen Asche wäre, so wie die flockige Asche von einer Handvoll Zigaretten in den Aschenbechern des Flame Tree. Und sie fragte sich, ob sie Soli überhaupt nochmal sehen wollte, bevor sie verbrannt wurde.

»Ich dachte, du musst noch einen Anruf machen.«

»Ja, muss ich, ich überleg noch, was ich ihnen sagen soll.« Er nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette und hielt den Rauch noch in seinem aufgeblähten Mund, bevor er ihn wieder ausstieß. »Ich wollte erst dich fragen.«

»Wer sind sie? Und was mich fragen?«

»Meine Schwester. Meine Mutter. Wenn du – also wenn das für dich okay ist, können wir dort über Nacht bleiben.« Irgendwo in seiner Brieftasche hatte er ihre Nummer, auf der Rückseite der Visitenkarte eines Polizeigenerals notiert, er war der Kommandeur seiner Spezialeinheit, derselbe, der ihn nach Paez strafversetzt hatte, nachdem kein Peso von der Geiselnahme aufgetaucht war, erst recht nach dem Tod zweier Zeuginnen und eines Polizisten, der in Davao geblieben war, um das ganze Desaster aufzuklären.

»Ja, warum nicht«, sagte Rory. »Ich würde mich freuen, sie kennenzulernen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob sie sich freuen, uns zu sehen – oder mich. Stell dir mal vor, dass wir vor ihrer Tür auftauchen – zusammen mit der Leiche meiner Schwester.« Ihre letzte Bemerkung hörte sich nur kurz wie ein Scherz an.

Ich bin mir auch nicht sicher, ob sie mich gerne sehen, wollte Walter sagen, stand aber stattdessen auf und kramte in seinen Taschen nach Ein-Peso-Münzen. »Ich ruf an.« Er erinnerte sich, wie Noemi sich von ihrem Stuhl erhoben hatte, auf die Toilette, wie sie gesagt hatte, und er in Panik geriet, weil es so lange dauerte, und ihr dann hinterherging. Sie stand vor dem Münztelefon um die Ecke und versuchte nochmal ihre Cousine anzurufen, ohne Erfolg, wie sie sagte. Und jetzt erinnerte sich Walter an das Klimpern der hineinfallenden Münzen, als sie den Hörer auflegte, ein Geräusch, das er nicht hatte hören sollen. Wen hatte sie angerufen? Er hatte nie danach gefragt, sah immer nur ihre unwiderstehliche Zerbrechlichkeit.

Er fand ein freies Telefon, steckte zwei Pesos in den Schlitz und wählte die Nummer, die er auf der Karte notiert hatte. Gayla müsste um die Uhrzeit von ihrem Job als Bankkassiererin zurück sein, aber es war eine fremde Stimme, die am Telefon war, die eines Mannes, eher jugendlich und hoch. »Hello«, die Stimme säuselte, als ob sie jemand anderen erwartet hätte, vorzugsweise ein sechzehnjähriges Mädchen.

»Ist Gayla da?«

Ein Hüsteln. »Hm. Gayla? Wer?«

»Zamora. Gayla Zamora. Sie wohnt da. Und wer ist am Apparat?«

»Ich wohne hier, wir wohnen hier jetzt«, sagte der Junge bestimmt.»Keine Gayla hier. Falsche Nummer, sorry.« Er sprach »sorry« ziemlich affektiert aus, und Walter merkte, dass er den Hörer auflegen wollte.

»Warte, bitte, warte! Tut mir leid, seit wann lebt ihr da?«

»Zwei Wochen…«

Walter dachte an den Brief, der ungeöffnet in Paez lag, und ärgerte sich jetzt, dass er ihn nicht eingesteckt hatte. »Wohin sind sie gezogen? Die Leute, die da gewohnt haben?«

»Ich weiß es leider nicht. Da war niemand, als wir eingezogen sind.«

»Haben sie einen Brief dagelassen, irgendeine Nachricht…«

»Das weiß ich nicht. Wir haben alles weggeschmissen. Es war sehr verdreckt und roch nach Urin.« Walter hörte eine weibliche Stimme, im Befehlston, streng und kehlig. »Nein, Ma, es ist nicht Shirley!« Und dann schnell und tonlos: »Ich weiß nichts, tut mir leid«, damit war die Leitung tot.

Rory sah, dass Walter bedrückt zurückkehrte, als ob die Mühe eines ganzen Tages auf seinen Schultern lastete. Sie drückte ihre Zigarette aus und wollte ihm eine Frage stellen, aber er hatte schon seine Hand gehoben, als ob er sagen wollte: »Nicht jetzt, später«, sie hielt sich zurück.

Das Essen wurde gebracht und die beiden stürzten sich darauf mit gewaltigem Hunger, ihre Essgeräusche mischten sich mit dem ansteigenden Stimmengewirr der Gäste, die nach der Arbeit und aus dem Regen zum Abendessen hereinkamen. Für einige Minuten waren er mit dem Kauen und sie mit dem Schlürfen der Nudelsuppe beschäftigt, was jede Unterhaltung unmöglich machte. Draußen ließ der Regen nach, aus den Autos und Taxis stiegen Leute aus und ein, sprangen Regenschirme auf und zu. Rory fragte sich, wie es sich wohl leben ließe in so einer lärmenden großen Stadt mit ihren Tausenden von Flame Trees und Café Sonatas – einige Dutzend von ihnen waren genau da vorne am Boulevard mit ihren Bühnen, Pianos und Sängerinnen. Sogar die Sirenen der Rettungswagen und das Trommeln des Regenwassers in den Fallrohren und auf den Markisen formten sich zu einer Art von Musik. Unausgesprochene Worte bildeten sich in ihrem Mund, solche wie »ich lebe« und »ich will«. Mehr nebenbei bekam sie mit, dass Walter etwas sagen wollte, auch deswegen, weil er nicht auf sie, sondern auf die mageren Reste ihrer Suppe schaute, als ob er sie gern aufessen würde, sich aber nicht zu fragen traute.

»Ich kann sie nicht erreichen, sie sind umgezogen, und ich weiß nicht, wohin.«

»Oh.«

»Ich weiß noch nicht mal, ob – gut, sie mussten wohl umziehen. Ihr Vermieter verlangte immer mehr.« Er zündete sich noch eine Zigarette an. »Obwohl es gegen das Gesetz ist.«

»Und was machen wir jetzt?«

»Wir können zurückfahren. Du kannst schlafen. Der Regen wird bald aufhören und dann geht es, nachts zu fahren – ohne Verkehr.«

»Ich wünschte, ich könnte Auto fahren«, sagte sie. »Aber wir hatten nie eins. Das heißt doch, vielleicht schon, aber ich war zu jung, ich kann mich daran nicht erinnern. Mein Vater sagte mal sowas, aber vielleicht war das Auto auch nicht seins.«

»Wo sind sie jetzt, wo sind sie alle?«

Diese unerwartete, vielleicht gar nicht beabsichtigte Direktheit der Frage traf sie tief. Wo, ja, wo waren sie –, alle waren tot, und daran erinnerte mehr als alles andere die Frau in dieser Kiste, aus ihrem Fleisch und Blut, egal, wie verschieden sie sich entwickelt oder zu entwickeln versucht hatten. Tränen schossen ihr in die Augen, und Rory war bewusst, dass diese Gefühle sich schon lange wenige Millimeter unter ihrer Haut verborgen hatten und nur darauf warteten, bei dem kleinsten Anlass oder Vorwand herauszuströmen. Sie spürte einen plötzlichen Drang, nach draußen zum Van zu laufen und den Sarg zu berühren, um so wieder eine Verbindung zu Soledad zu finden, greifbar und konkret. Es wäre genau die Szene, die sie vorher diesen ungehobelten Männern gegenüber nicht bieten wollte.

»Sie sind alle gestorben«, sagte sie schließlich mit zitternder Stimme und stand auf. »Wir müssen los. Bitte, fahren wir.« Es gab immer noch Nathan, ja, aber der gehörte in eine andere Zeit, und was man nie gehabt hatte, konnte man auch nicht verlieren.

Walter bezahlte bei der Kellnerin die Rechnung, schaute aber zu ihr hin und erkannte ihren Kummer. Er begriff das Verrückte ihres erzwungenen Zusammentreffens, und wenn er etwas mutiger gewesen wäre, hätte er ihre Hand berührt oder seinen Arm um ihre Schulter gelegt.

»Warte draußen, bitte«, sagte Walter, »ich bin gleich bei dir und dann fahren wir.« Rory ging an ihm vorbei und war froh, angesichts des unruhigen Wetters etwas Ablenkung zu finden.

Ein langer und schwieriger Weg lag vor ihnen. Es wurde Walter plötzlich klar, dass er jetzt offiziell Fahrer eines Leichenwagens war, eines umfunktionierten Fahrzeugs an der Spitze eines Trauerzugs – aber was war mit seiner eigenen Trauer? Und was konnte trauriger sein als ihre miteinander verflochtenen Schicksale?

Er war schnell draußen. Er pustete auf die Glut seiner Winston und beschützte sie in seiner hohlen Hand vor den Windböen, er sah Rory im Regen; sie drehte sich hierhin und dorthin, offenbar, um dem Regenschirm zu entkommen, mit dem ein uniformierter Parkwächter hinter ihr her lief.

»Rory«, rief Walter. Es war das erste Mal, dass er ihren Namen so eindringlich rief. Der Verkehr hatte zugenommen und mit ihm der Lärm der Autohupen und der quietschenden Bremsen. »Wo willst du hin?«

Sie drehte sich zu ihm um, und ihr Gesichtsausdruck hatte sich schlagartig verändert. Ihr tiefer Schmerz war einem verständnislosen Erstaunen gewichen.

»Der Van«, sagte sie, »ich kann den Van nicht finden. Du hattest ihn doch hier geparkt, oder?«

Ja, das hatte er, und jetzt war er weg, aber der Mann mit dem Regenschirm war noch immer damit beschäftigt, Rory vor dem Regen zu schützen, und Walter begriff, wie viel schlechter selbst das Schlechte immer noch werden konnte.