Über Wasser gehen

Das Einzige, was Jose Maria Pulumbarit jemals werden wollte, war Seemann. Aufgewachsen war er in Olongapo, am Rande einer der größten amerikanischen Marinestützpunkte in Asien, Heimathafen der Pazifik-Flotte, und von dem Moment an, als er seinen ersten amerikanischen Matrosen von der USS Belleau Wood mit weißer Mütze und weißem Pulli heruntersteigen sah, wusste Jomar, dass ein Schiff der beste Platz der Welt für ihn war – eine Insel, immer in Bewegung auf einem Planeten voller fester Adressen. Ein Onkel von ihm war schon da draußen, er diente als Hilfskellner in der Offiziersmesse auf einem Flugzeugträger, der die meiste Zeit auf dem Atlantik unterwegs war, und Jomar wartete sehnsüchtig auf dessen Briefe und die Schokolade, die er mitschickte, oder was immer für ihn übrig blieb, nachdem sein Vater und zwei ältere Brüder alles durchwühlt hatten.

Aber sein Vater hatte andere Pläne für seine Söhne, insbesondere für Jomar, der ihm, dem alten Mann, zu feingliedrig und fast feminin erschien, so wie er sich bewegte und mit seiner Vorliebe für alles, was mit Reisen und exotischen Plätzen zu tun hatte. Jomar hing, so oft er konnte, bei den Seeleuten herum, rannte los, um ihre Zigaretten anzuzünden, machte kleine Besorgungen für deren Mädchen, lehnte sich unter die offenen Motorhauben der Jeeps und sah den Mechanikern zu, wie sie Verteilerkappen und Keilriemen ersetzten. Seine zwei Brüder fanden Jobs im Stützpunkt und hofften, sich irgendwann auf ein Schiff hochzuarbeiten und dann weiter nach San Diego und schließlich in das große Amerika.

Jomar klaute Philip Morris-Zigaretten mit blauer Banderole, Ray Bans, und im Alter von sechzehn Jahren wurde er von der MP des Stützpunkts am Steuer eines Jeeps erwischt, der randvoll beladen war mit Großhandelspackungen von Hershey-Schokolade, Lays-Kartoffelchips, Folger’s Instant Coffee, Shampoo und einigen Flaschen Jack Daniels. Die lokale Polizei verabreichte ihm eine Tracht Prügel, und er bekam, nachdem Jomars Vater ihn rausgeholt hatte, nochmal Prügel, nicht weil er etwas gestohlen hatte, sondern weil er sich hatte erwischen lassen und so die Jobs seiner Brüder gefährdete. Dieses Gaunerstück bescherte Jomar einen gebrochenen Zahn und eine gebrochene Rippe, deren Heilung Wochen dauerte, bestärkte ihn aber auch in seinem Entschluss, Olongapo zu verlassen und nicht wie seine Brüder immer nur Gräben auszuheben oder Dächer anzustreichen. Er wollte über Wasser gehen.

Und das tat er – auf seine Art; sechs Monate nach dem Rippenbruch war Jose Maria Pulumbarit auf See und trug genau die weißen Sachen, von denen er schon geträumt hatte, als er gerade mal seine Schnürsenkel binden konnte – auch wenn sie ein paar Nummern zu groß waren, denn sie gehörten dem Bootsmaat Dritter Klasse Rufus B. Melnicki, der aber nicht dort, sondern auf der USS Cushing diente, die nach einem Manöver in der Subic-Bucht wieder im japanischen Stützpunkt Yokusuka angelegt hatte. Jomar hatte sich auf die USS Abraham Lincoln geschlichen, als wegen des plötzlichen Vulkanausbruchs des Mount Pinatubo mit Megatonnen von Dreck und beißendem Rauch und der darauf folgenden Evakuierung von Besatzungsangehörigen ein riesiges Durcheinander entstand. Die Lincoln war schon fast in Guam, als man ihn hinten in der Schiffsküche entdeckte, benommen von Hitze und Dehydrierung. Selbst in diesem Zustand erfand er eine Geschichte von mit Schlagringen bewaffneten Onkels, die ihn in seiner Kindheit missbraucht hatten, und der glücklichen Befreiung durch den heftigen Vulkanausbruch. Statt ihn in die Arrestzelle zu stecken, nahmen sie ihn auf und stopften ihn mit kanadischem Schinken und Kartoffelbrei voll. Er sollte an Bord bleiben, als sie in Guam anlegten, aber irgendwie hatte er seinen Traum schon verwirklicht, und als er dann mit dem Kapitänsboot zur USS Juneau übergesetzt wurde, die ihn zurück nach Subic bringen sollte, fühlte er sich bereits als Held, nicht als Eindringling, und nutze die Zeit, um etwas über Radioelektronik und verschiedene Arten von Motoröl zu lernen.

Und Jose Maria Pulumbarits Leben hätte ab da einen permanenten Aufschwung nehmen können, aber das erste, was er nach der Anlandung in Subic machte, war, einem Bootsfeldwebel das Portemonnaie zu klauen, um seine nächste große Heldentat zu finanzieren, eine Flucht in eine andere Bucht, in eine andere Stadt, einhundertzwanzig Kilometer südlich: Manila.

Das war derselbe Jomar Pulumbarit, der nach etlichen Aufenthalten im städtischen Gefängnis und reichlich ausgestattet mit Tattoos auf Rücken und Schenkeln, unter der Markise des Aristocrat Schutz vor dem prasselnden Regen suchte und die hineinströmenden Gäste beobachtete. Das schelmische Funkeln seiner Augen war schon lange abgelöst worden von einem stumpfen, alles kontrollierenden Blick aus einer Brille mit dickem Gestell, und das freche Grinsen von verschlossenen Lippen, die rein gar nichts verrieten. Er hatte gelernt, sich so unauffällig zu verhalten, dass er kaum mehr wahrgenommen wurde. Guam und der rollende Ozean waren nur noch eine, wenn auch schmerzliche, Erinnerung.

Das Meer war nur eine Minute entfernt von dem Platz, wo er stand, und dort, wo er wohnte in Pasay, musste er nur die tief hängenden Wäscheleinen zur Seite schieben, um von seinem Blechdach aus die Bucht sehen und jedem seiner fünf Kinder die eigelbfarbene Sonne zeigen zu können. Er hätte die Kleineren aufs Dach tragen können – seine schmalen Arme waren kräftig geworden vom Tragen gußeiserner Autoteile und vom Aufbocken schwerer Fahrzeuge. Diese Arme trugen Narben – Messerstiche, Brand- und Schnittwunden von Nylonseilen –, aber eines hatte Jomar aus seiner Jugend behalten – die Weichheit und Präzision seiner Hände. Zwei seiner Finger der rechten Hand waren nach einer Schraubstock-Attacke hinüber, aber er hatte dieser Hand beigebracht, auch mit drei Fingern zu funktionieren, und hatte den Rest ihrer Fähigkeiten auf die linke Hand übertragen.

Heute war er im Auftrag der in Novaliches operierenden Gang unterwegs, für die er arbeitete. Sie brauchten einen Van – keinen neuen, keinen auffälligen, je unscheinbarer, desto besser. Er wurde gebraucht für den Abtransport verschiedener Objekte von hohem Wert aus einem Haus in Corinthian Gardens. Genaueres sollte und wollte er gar nicht wissen, nur dass es um eine bestimmte Größe und ein bestimmtes Gewicht ging. Für diesen Auftrag musste es ein spezielles Fabrikat und Modell sein, und als der Tamaraw im Regen in der Auffahrt auftauchte, wusste Jomar, dass er einen Treffer gelandet hatte. Tamaraws waren zu Tausenden in der Stadt unterwegs, hinterließen bei niemandem einen bleibenden Eindruck und fuhren sich ziemlich leicht. Alles, was es brauchte, war ein Draht von bestimmter Länge, um das Schloss zu knacken, und ein bisschen Fummelei an der Zündung, um das Auto in Besitz zu nehmen. Auf dem Restaurant-Parkplatz standen noch andere Transportfahrzeuge – ein Ford Fiera war schon früher vorgefahren und wäre auch geeignet gewesen –, aber Jomar bevorzugte dieses Auto, weil ein uniformierter Polizist aus dem Tamaraw gestiegen war; damit bekam sein Auftrag eine süße, persönliche Note. Jomar verabscheute Polizisten seit dem Tag, als sie ihn von einem vorbeifahrenden Jeep aus mit einer schallenden Backpfeife auf den Asphalt des Magsaysay Boulevard schickten und dann an einen konspirativen Ort zu dem Mann brachten, der seine Finger in einen Schraubstock steckte und drehte. Die Polizisten drückten ihn auf den Boden und wollten von ihm eine Aussage erpressen, wo der Mitsubishi Pajero war oder wenigstens das Geld, das er dafür bekommen hatte. »Ich klaue Autos, ich verkaufe sie nicht«, hatte er geschrien, als sie seinen kleinen Finger in den Schraubstock steckten, und das nächste, an das er sich erinnerte, waren Ströme von Blut, die aus dem Finger hervorquollen. Als er wieder bei Bewusstsein war, steckten sie den nächsten Finger in den Schraubstock und stellten dieselben Fragen nochmal. Am Ende war es so, dass sie zwar die Finger, aber nicht ihn gebrochen hatten, und Jose Maria Pulumbarit verdiente sich so in der berüchtigten Bukas-Kotse-Gang seinen professionellen Spitznamen: »Boy Alambre«*, der sich sowohl auf sein Lieblingswerkzeug wie auch auf seine bewundernswerte Widerstandsfähigkeit bezog. Er versteckte dieses Werkzeug – eine kleine Spule Wäscheleinen-Draht – unter dem Hemdsärmel, der auch seine Tattoos bedeckte, und hielt in der anderen Hand einen Regenschirm, mit dem er seine Aktionen bestens verbergen konnte; bei trockenem Wetter nahm er eine Zeitung oder einfach eine Einkaufstüte. Zufällige Passanten würden so einen typischen Angestellten sehen, der brav auf seine Frau wartet, um mit ihr wie jede Woche einmal essen zu gehen, und genau das dachte Walter Zamora und nichts weiter, als er zum Eingang des Aristocrat und zu Rory zurückrannte, nachdem er den Van eingeparkt hatte. Jomar hatte das Mädchen bemerkt, und sie ihn vermutlich ebenso, wenn sie nicht ein tiefsitzendes Vorurteil gegenüber Männern mit Brille gehabt hätte und sich stattdessen auf ihren durchnässten Fahrer konzentriert und ein kleines Taschentuch aus ihrer Tasche gekramt hätte, womit er sein Gesicht trocken reiben konnte.

Jomar wartete mindestens fünf Minuten, bevor er sich an die Arbeit machte. Die Menschen waren eifrig damit beschäftigt, ihr Essen zu bestellen; die Entscheidung, was man isst, ist immer sehr persönlich, und nimmt die gesamte Person in Anspruch, mehr als der lauteste Streit oder der stürmischste Flirt. Jomar ging um die Ecke, um nicht im Blickfeld des Parkplatzwächters zu stehen und um den Polizisten und das Mädchen durch das beleuchtete Fenster zu beobachten. Aus ihren vorsichtigen Bewegungen, der behäbigen Art, wie sie rauchten, erkannte er eine verlegene Distanz zwischen ihnen. Er fragte sich, ob sie ein Paar waren, und entschied sich dann dafür; heutzutage war es sicherer, davon auszugehen, denn Männer und Frauen – oder Männer und Männer, Frauen und Frauen – nutzten jeden kleinsten Vorwand oder Anlass, um im selben Bett zu landen, und warum auch nicht?

Als Walter zum Telefon ging, machte Jomar instinktiv einen Schritt zurück; als er wählte und zu sprechen begann, sprang er über die Pfützen auf die Straße, sah, dass der Wächter mit anderen Gästen beschäftigt war, öffnete den Regenschirm und näherte sich unauffällig dem Tamaraw. Er sah die rot-weißen Regierungsnummernschilder und freute sich darüber. Er bekam noch eine weitere Zugabe – die Fahrertür war nicht verschlossen, aber das passierte oft an solchen Regentagen. Jomar glitt auf den Fahrersitz und fasste unter das Armaturenbrett, um Kabel zu entwirren, abzuziehen und wieder zusammenzustecken und den Anlasser zu starten. Das war schnell getan, und er war schon weg, bevor sich der Wächter in seinem kurzärmeligen Barong* die zwei oder drei Pesos Trinkgeld bei ihm abholen konnte, die er für seine Dienste erwarten durfte. »Wieder so ein undankbarer Idiot«, grummelte der. Im Polizeibericht erschien er als Aniceto Quisumbing y Labo, sechsunddreißig, verheiratet, aus Bacon, Provinz Cavite, vormals Installateur in Tabuk, Saudi-Arabien, bevor er vor dem Ablaufen seines ersten Vertrags nach Hause floh, um der Einsamkeit zu entkommen.

SPO2 Walter Zamora meinte gleich den eher weichen Charakter des Zeugen erkannt zu haben, als sie ihn in der Polizeiwache unten am Boulevard befragten. Walter hatte die nächstgelegene Polizeistation angerufen, und die waren ihm, überrascht, einen uniformierten Polizeibeamten so weit weg von seinem Zuständigkeitsbereich anzutreffen, mit offenem Misstrauen begegnet, nahmen ihm seine Waffe ab, ließen ihn hinten im Streifenwagen sitzen, prüften seinen Ausweis und glichen ihn mit dem amtlichen Polizistenregister ab.

Walter hatte schon überlegt, ein paar Namen fallen zu lassen, die er aus seiner Zeit hier in der Stadt kannte, ließ es aber lieber, als er an die Gründe für seinen Abschied und die Versetzung ins Hinterland dachte. Es gab da böses Blut bei der Polizei, hartnäckige Gerüchte, Walter wäre an Uybocos Geld rangekommen durch den Tipp eines Mädchens namens Noemi; es musste einen Zusammenhang geben zwischen dem Geld und Noemi, warum sonst hätte er sich so um sie gekümmert – er hätte sie blind gevögelt, feixten sie, während der alte Mann auf den Badezimmerfliesen krächzte und seine Frau für seine Rettung betete.

Aber wenn das so wäre, wo war dann Noemi, und was ließ sie ihm zurück außer einem lässigen Blick über die Kartoffelchips und Schokoladenriegel hinweg in einem 7-Eleven-Shop, bevor sie sich verabschiedete ohne ein »Dankeschön« oder »Es war schön« oder sonst einem Abschiedstrost. Wie konnte jemand aus deinem Leben in einem 7-Eleven verschwinden, wo du gerade einen Zwölferpack zur Kasse trägst und Winston-Zigaretten und zwei Hotdogs mit Ketchup und Senf bestellst? Wie konnte sowas vor deiner Nase passieren, vor derselben Nase, die sonst alles riecht, was verdächtig ist?

Walter überlegte, während das Autoradio knisterte, dass, falls er wieder die Schulbank drücken würde, er eine Masterarbeit über Todesfälle und Verschwundene schreiben könnte. Auf seinem alten Posten, hier in der Stadt, hatte er Leichen kommen und verschwinden sehen, in Notaufnahmen und Leichenhallen, hatte sie begleitet zu Bestattungsinstituten, hatte gesehen, wie sie aufgeschnitten und dann wieder zusammengeflickt wurden wie alte Handtaschen. Sieben- oder achtmal hatte er an Türen klopfen oder vor Türen von Klassenräumen oder Kapellen stehen müssen, um die schrecklichen Neuigkeiten weiter zu geben und dann zuzusehen, wie selbst die Hartgesottensten in Sekunden zusammenbrachen. Er hatte damit umzugehen gelernt, wie mit dem unvermeidlich folgenden Zorn auf den Himmel, die Ungerechtigkeit oder die Unfähigkeit der Polizei.

Aber was würde er schließlich zu sagen haben über Todesfälle und Verschwundene? Sie schienen ähnlich gelagert, aber das stimmte nicht. Einige Menschen starben, aber verschwanden nicht wirklich. Er erinnerte sich, wie er am Totenbett eines Luciano Asperilla stand, einem Tierarzt und selbsternannten Mystiker, dem man vorwarf, ein zwölf Jahre altes Mädchen aus Barangay Tumana verführt, missbraucht und zerstückelt zu haben; aber niemand konnte das wirklich beweisen. Der Mann weigerte sich zu gestehen, und die Leiche des Mädchens wurde nie gefunden, obwohl bei einer Suchaktion in einem Schuppen auf dem Gelände seiner Praxis ein Ohrring und die sauber abgetrennte Spitze eines Fingers gefunden wurden. Als Walter hörte, dass der Mann im Sterben lag, war er so schnell wie möglich zu ihm gefahren, drängelte sich zwischen die schluchzende Frau und die Kinder in der Hoffnung, von ihm, in Erwartung des Todes geläutert, endlich die Wahrheit zu hören. Stattdessen sah Walter im Gesicht des Verdächtigen ein Zeichen des Wiedererkennens, ein breites, triumphierendes Grinsen und dann nichts mehr.

Andere Leute verschwanden, aber starben nicht oder vielleicht nicht. Möglich, dass Noemi irgendwo am Leben war und von Charlie Uyoboco als gelegentlich nützliches Haustier gefangen gehalten wurde. Er stellte sich vor, wie Charlies grauhaariger Kopf über ihrem lag, Charlie auf seine Ellbogen gestützt mit seiner wiedergewonnenen Kraft in sie hineinstieß und sein Schweiß auf sie herabtropfte. Ein idiotischer Anfall von Eifersucht überkam ihn, und in diesem Moment wusste Walter nicht, ob es für ihn besser wäre, wenn sie tot wäre. Aber ob tot oder lebendig, sie war verschwunden, und dieses Geheimnis wühlte ihn immer noch auf. Wäre ihr Tod seinen inneren Frieden wert?

»Du bist okay«, sagte der Polizist aus Manila, das Funkgerät in der Hand, und sein Kollege gab ihm die Pistole zurück. Sie nahmen noch Rory und den Parkplatzwächter mit und fuhren zur Wache.

»Sie haben wirklich niemanden und nichts gesehen?« Walter setzte Aniceto Quisumbing unter Druck.

»Nein, Sir, ich schwöre es. Ich habe mich darum gekümmert, dass die Dame und andere Gäste nicht nass wurden!« Quisumbing sah zu Rory, fand aber nicht die Sympathie, die er erwartet hatte.

Rory war vor lauter Schuldgefühlen und Hilflosigkeit außer sich. »Was machen wir jetzt? Wo ist sie? Wie kriegen wir sie zurück?« Sie hatte sich an einen Tisch neben dem Pult des Sergeants zurückgezogen, und keiner hätte sie beachtet, wenn sie sich jetzt nicht eingemischt hätte.

»Wen zurückkriegen?«, fragte Senior Inspector Radovan Macias, der schon vier Jahre Chef dieser Wache war und für den der Diebstahl eines Autos – dazu noch eines wertlosen Tamaraw – nichts weiter als lästigen Papierkram bedeutete. Sie würden wahrscheinlich die Karosserie in einer Woche oder so finden, ohne Motor und ohne Reifen, und der Rest landete in den Secondhand-Autoshops in Banawe – ein Rückspiegel dort, eine Lampe hier. Er war zu einem offiziellen Abendessen eingeladen im Aristocrat, zu Ehren eines in den Ruhestand versetzten Armee-Obersten, der sein Schieß-Ausbilder an der Militärakademie gewesen war. Ihre Frauen spielten Mahjong* miteinander.

»Meine Schwester! Meine Schwester ist in dem Van«, rief Rory und konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.

»Wie bitte? Ihre Schwester ist im Van? Hatten Sie ein Kind in dem Van gelassen?« Macias’ Blick war voller Unverständnis und Verachtung.

»Nein, Sir, ihre Schwester ist älter, Sir – und sie – und sie ist tot, Sir«, stammelte Walter.

»Tot! Wieso tot?«

»Jemand hat sie umgebracht«, sagte Rory.

Aniceto Quisumbings Gesichtsausdruck wechselte zwischen Bestürzung und Grauen. Diese Leute wollten ihm weismachen, sie hätten einen toten – ermordeten – Körper in ihrem Van gelassen, während sie einkehrten und Würste und Ananassaft oder sonst was bestellten. Ganz sicher waren sie selber die Mörder. Er konnte das an den blutunterlaufenen Augen dieses von wer weiß woher kommenden Polizisten erkennen. Walter zündete sich eine Zigarette an und seine Finger zitterten – ein sicheres Zeichen von Schuld oder wenigstens Mittäterschaft.

»Die Leiche ihrer Schwester war im Van – in einem Sarg. Wir wollten ihn nach Hause bringen.«

»Ich brauche eine Erklärung, Zamora«, sagte Macias und stellte einen Stuhl zwischen Walter und Rory. Rory wimmerte in ihrer Ecke, Walter brachte kein Wort heraus, die Geschichte lief aus dem Ruder.

Ungefähr zu dieser Zeit fuhr Jose Maria Pulumbarit auf die Nagtahan-Brücke, um dann schnell in den labyrinthartigen Straßen von Sta. Mesa zu verschwinden. Er wusste, dass er einen Vorsprung von mindestens zwanzig Minuten hatte, bevor der Diebstahl entdeckt und Alarm geschlagen würde, weswegen auch niemandem ein blau-grauer Tamaraw mit Regierungsnummernschildern an einem blau-grauen Abend auffallen würde. So viele Dinge funktionierten in der Stadt, weil andere nicht funktionierten, und dies war ein Beispiel dafür: die an Regentagen genau vorhersehbare Trägheit der Menschen und der spezielle Hang der Polizei, sich dann unter Zeltdächern oder in klimatisierten Bars zu versammeln, mit ihren knackenden Funkgeräten zu fiedeln und ihre Bäuche zu streicheln.

Jomar merkte, dass sich im hinteren Teil des Vans etwas bewegte, und zum ersten Mal wurde ihm klar, dass der Polizist und seine Frau irgendwas da hinten transportiert haben könnten, bestimmt keine Person, da hätte er was hören müssen, und er erinnerte sich an das Plastikseil, das um die Türgriffe hinten gewickelt war, um ein Aufspringen der Tür zu verhindern. Es kam vor, dass Leute ziemlich wertvolle oder interessante Sachen in den Autos liegen hatten, mit denen er dann wegfuhr, und er nahm sie wie einen Bonus – wie zum Beispiel Radios oder CD-Spieler, die seine Frau glücklich in Empfang nahm, sie aber bald wieder verpfändete, oder einmal Kisten voller Dosen mit Hundefutter, mit denen er nichts anzufangen wusste, bis er eines Tages nach Hause kam und sah, wie sein einziges Mädchen, das mittlere Kind, in den festen Brocken herumrührte und ihre Backen damit beschmierte. Ein anderes Mal fand er im Handschuhfach eines SUVs Fotos einer Frau, die dem Vollmond ihr lachendes Gesicht zeigte, und andere, auf denen dieselbe Frau mit leicht benebeltem Blick im Bett lag und ein Glas Wein in Richtung Kamera erhob. Jomar dachte über diese Leben nach, in die er für kurze Zeit einbrach, ihnen Unannehmlichkeiten bereitete, auch wenn er überzeugt war, dass diese Verluste für sie erträglich und ersetzbar waren – wenn nicht, ginge das bitte auf seine Rechnung –, aber sie könnten vielleicht früher als gedacht zur Selbstbesinnung, vielleicht sogar zu einer wegweisenden Veränderung führen. So wie er sich auch manchmal dem Gesetz und seinen Auflagen stellen musste. Jomar war überzeugt, dass ein unerwarteter Bruch mit dem Gewohnten alles am Leben hielt, und er bot diesen Dienst an, damit die Leute besser darauf achteten, wo sie parkten und mit wem sie sich zum Essen trafen, selbst wenn sich ihre Vorsicht als vergeblich erwies gegenüber seinen deformierten Fingern.

Der Plan war, das Auto in ein Lagerhaus in Barrio Bambang in Pasig zu bringen, dort die Nummernschilder zu wechseln und den Wagen zu präparieren für den Job, der in drei Tagen über die Bühne gehen sollte. Als er die Brücke runterfuhr, verrutschte die Ladung wieder ein Stück, er fühlte einen Schlag gegen seinen Rücken. Es musste sich um ein ziemlich massives Teil handeln – einen großen Koffer vielleicht oder um eine Balikbayan-Box* voller Schokolade und elektronischer Geräte aus Kalifornien. Sein Bruder Damian war früher in diesem Geschäft tätig, hatte von seiner langen Ausbildung auf der Marinebasis profitiert und dann noch zusätzlich einen Abschluss in Kältetechnik an einer Abendschule gemacht. Aber er hatte seit zehn Jahren nichts mehr von Damian gehört. Er hielt ihn für tot, sogar noch toter als Cosme, der in Subic betrunken in einen Graben gestürzt war, aber manchmal begegnete er Jomar im Traum und sprach ein Englisch, das weit über die sechs Jahre Schulzeit hinausging.

Was immer sich im Heck des Wagens befand, er könnte es sicherlich gebrauchen, ob es eine Kiste Bibeln, Orangen oder irgendwas Schwarzes aus Plastik mit blinkenden Lampen dran war; er hatte einen Bekannten in Dapitan, der mit den unglaublichsten Sachen handelte, stapelweise Second Hand-Magazine und Kataloge besaß, um immer auf dem Laufenden zu sein, was die Sachen aktuell für Preise hatten, von Kohler-Bidets bis zu Manansala*-Gemälden. Jomar fuhr nach Sta. Mesa rein und bog dann schnell in eine Seitenstraße ab, von wo aus er eine Route nach Pasig kannte, die ihn an höchstens einer Handvoll von Polizeiposten und Verkehrsampeln vorbeiführte.