Ein neues Zuhause

Noch Jahre später, nachdem sie Nathan bei Rory zurücklassen musste wegen eines Jobs in einem weiteren fremden Land, erinnerte sich Soledad an genau diesen Moment und wunderte sich immer noch über ihren Mut und das Fehlen jeglichen Schuldgefühls. Hedison konnte ihr nach seinem nächtlichen Besuch tagelang nicht in die Augen sehen und hatte wohl auch keine Ahnung, was er ihr eingepflanzt hatte. Aber Soledad selber fühlte sich wie befreit von inneren Fesseln und sagte nichts zu dem Jungen, was ihn beschämt oder gequält hätte. Nai Nai hatte die Schwelle zum Tod wieder verlassen, war noch mehr zusammengeschrumpft, noch unerträglicher geworden, und Soledad kehrte wieder zu ihrer alten Routine zurück. Dann und wann blieb ihr Blick an Hedisons geschlossener Tür hängen, und einmal hatte er keine andere Wahl, er musste sich im Flur zur Küche an Soledads Rücken vorbei quetschen, aber irgendwas hing zwischen ihnen wie ein schwerer Vorhang, durch den man nur schemenhaft etwas erkennen konnte. Soledad hätte nichts dagegen gehabt, wieder so berührt zu werden, manchmal fühlte sie in sich eine trockene, stechende Hitze, aber sie tat nichts, um Hedison zu ermuntern, der seinerseits stärker als sie durch das Geschehene verwirrt zu sein schien, und mit seinen Freunden länger wegblieb als sonst. Aber sie spürte, dass bei ihm der Wunsch wuchs, das Beisammensein wiederzubeleben. Eines frühen Nachmittags, als der Junge unter dem Vorwand eines leichten Fiebers nach Hause wollte – alle Fieber in Hongkong standen sofort unter dem Verdacht, Anzeichen eines tödlichen Virus zu sein, der aus einer Mischung von Schweine- und Geflügelkot entstand –, lief er direkt zu Soledad in die Küche und presste sie dort gegen den gefliesten Rand des Waschbeckens, wo sie gerade Pak Choi und Radieschen gewaschen hatte und nun ihre Hände unter den Wasserhahn hielt, als er von hinten mit einer unbeholfenen, aber zielstrebigen Verzweiflung in sie hineinstieß. Sie kümmerten sich überhaupt nicht um die unsterbliche Nai Nai, die sie von ihrem feuchtem Bett aus hören, vielleicht sogar sehen konnte, wenn sie die Tür mit ihrem Stock leicht öffnete. Als, eine Stunde später, Soledad in ihr Zimmer kam, um die Laken zu wechseln, begrüßte sie Nai Nai nicht mit dem üblichen schrillen Gezeter, sondern mit einem leichten Stottern und einem Blick hinter Solis Schultern, als wäre sie geschockt darüber, dass die Welt so schlecht geworden war, dass ihr Enkelsohn seine Manneskraft und seinen Samen an so eine Feiyung vergeudete.

Ziemlich schnell schloss Mrs. Lau aus bestimmten Indizien, dass ihr Dienstmädchen schwanger war, und ihr Verdacht fiel natürlich auf ihren Ehemann Chester, dessen Unschuldsbeteuerungen auf taube Ohren stießen: »Guck runter«, flehte er sie an und wies auf die ameisenartigen Horden ein Dutzend Stockwerke unter ihnen, »mit wie vielen dieser Boten oder Angestellten hätte sie auf ihrem Weg zum Metzger rumgemacht haben können!« Nancy Lau war wild entschlossen, sowohl auf Chester wie auf Soledad – die sich in ihrem Zimmer vor dem aufziehenden Sturm verbarrikadiert hatte – mit einem kurzen Messer einzustechen, das eher schreckliche Schmerzen als einen schnellen, barmherzigen Tod zur Folge haben würde. Dieser technisch schlecht vorbereitete Mord wurde nur dadurch abgewendet, dass Nai Nai so laut stöhnte und schrie, dass das Paar sofort zu ihr eilte, besorgt darüber, wieder eine lange und teure Nacht im Krankenhaus verbringen zu müssen. »Ich muss verschiedene wichtige Besorgungen machen für eine Party für fünfzehn Leute morgen!«, verkündete Nancy, als sie hinter Chester ins Zimmer lief. »Ich kann nicht so lange aufbleiben, also ruf du ein Taxi und bring sie ins Krankenhaus, wenn es sein muss. Was sagt sie überhaupt?« Chester zuckte mit den Schultern, drehte sich um und schreckte zurück, als er sah, dass seine Frau immer noch das Messer in der Hand hielt. Auch Nancy schien darüber überrascht und stieß das Messer in einen kleinen, roten Apfel, in den Nai Nai niemals hätte beißen können, den ihr aber Chester alle paar Tage hinlegte, bis er verschrumpelt war. Der Saft spritzte in die Luft und verlieh der angespannten Atmosphäre etwas Liebliches. »Was hast du gesagt, Nai Nai? Was möchtest du? Ich weiß, du möchtest weiterleben, das tun wir doch alle, aber was sonst möchtest du?« Chester Lau war genervt, weil Nancy ihm und seiner Ausrede zuvorgekommen war; er hatte eigentlich sagen wollen: »Wir haben morgen eine Werksbesichtigung mit unseren koreanischen Investoren, und ich muss ihnen demonstrieren, wie Wasserpistolen produziert werden.« Nai Nai stöhnte weiter und steigerte sich zu einem Ausbruch von Lauten, die nur noch sie selbst verstand. Nancy schüttelte ihren Kopf und ging zu ihrem Schlafzimmer. »Du bleibst hier«, sagte sie zu Mr. Lau, »ich will nicht neben dir schlafen heute Nacht. Oder … wenn ich darüber nachdenke – doch komm mit mir, aber sofort! Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich morgen fünfzehn Gäste habe – aber nicht zu glücklich, nicht glücklich, dass du wieder Vater wirst. Es ist gut, dass Hedison gerade unterwegs ist – welch eine Schande für einen Sohn, so etwas zu erleben. Welch eine Schande! Morgen werden wir mit ihm reden müssen, nachdem ich mich ums Geschäft gekümmert habe. Aber heute Nacht will ich nur schlafen. Komm!«

Am nächsten Morgen erwartete die Laus eine Aufregung ganz anderer Art. Das Dienstmädchen Soledad klopfte an die Schlafzimmertür, nicht um für sich um Vergebung zu bitten, sondern um mitzuteilen, dass Nai Nai im Schlaf gestorben sei. Sogar Hedison stand auf, und tatsächlich sah es so aus, als sei die alte Frau friedlich eingeschlafen, obwohl ihre Augen und der Mund noch halb geöffnet waren, als hätte sie gerade etwas sagen wollen. Ihre Arme waren zu einem Halbkreis ausgebreitet, als ob sie gegen etwas gekämpft oder umklammert hätte. Aber niemand hatte Interesse an einer Autopsie oder an einer ausführlichen Diagnose; für eine dreiundachtzigjährige Großmutter – oder demnächst Urgroßmutter – konnte der Tod nicht unerwartet oder plötzlich sein. Genau wie alle anderen fühlte sich Soledad für einen Moment erleichtert, selbst als Mrs. Lau sie umkreiste wie ein Hai und ihr kräftig gegen den Bauch schlug, als sie sich vorbeugte, um eine Decke über Nai Nais Leiche zu legen.

Am Donnerstag darauf ließ Hedison die Chemiestunde ausfallen und kam wieder mal früh nach Hause. Er wusste, dass seine Eltern immer noch mit der Planung der Beerdigung beschäftigt waren, aber im Dienstmädchenzimmer war nichts mehr außer einem zusammengeklappten Feldbett und dem stechenden Geruch eines Reinigungsmittels.

Als Soledad Cabahug so plötzlich nach Paez zurückkam, fiel das niemandem groß auf, genauso wie niemandem ihre Abreise aufgefallen war, bis auf Rory, die Soli mit Parfüms und Kosmetika überhäufte, die sie selber nie benutzte; ihre kleine Schwester kam ihr vor wie ein Projekt, perfekter als sie je sein könnte, und es erfüllte sie mit großer Zufriedenheit, ihr die Wünsche von den Lippen abzulesen. Mit dem, was sie von Hongkong überwiesen hatte, und mit Rorys Anteil am Erbe ihrer Eltern war es ihnen möglich, ein neues Zuhause für sie beide zu suchen, in dem neuen Wohnviertel, das auf den Reisfeldern der ersten Frau des Bürgermeisters, Candida, entstanden war. Es war nicht viel mehr als eine Betonhütte mit einer Grundfläche von vierzig Quadratmetern, aber Soli war wie besessen von der Idee, sie mit allem Nötigen und aller Bequemlichkeit auszustatten, sehr zur Freude von Rory, die sich aber gleichzeitig darüber wunderte, denn sie hatte ihre ältere Schwester nie als jemanden kennengelernt, der sich um materielle Dinge scherte. Soli hatte darauf bestanden, einen großen Esstisch für sechs Personen zu bestellen, wo doch ein ausklappbarer Plastiktisch für sie vollkommen ausgereicht hätte. Und dann hatte Rory verstanden, was ihre Schwester vorhatte: ein neues Nest zu bauen, das das alte ersetzte, Mauer für Mauer, Zimmer für Zimmer, und wenn sie nach Hause kam und ihr Bauch langsam anschwoll in der prallen Sommerhitze, merkte Rory, wie eigenartig gefasst und sogar zufrieden Soli war, trotz der Gerüchte, die laut an ihrer Tür kratzten, so als ob auch das etwas war, was sie immer so gewollt hatte. Als Rory sich endlich traute zu fragen: »Wer war es? Was ist passiert? Wurdest du vergewaltigt? Missbraucht?«, sagte Soli nur: »Das spielt keine Rolle.« »Aber natürlich tut es das!«, schrie Rory, »Dauernd liest man sowas in den Zeitungen, du bist nicht die einzige, die lesen kann. Ich konnte zur Schule gehen, ja, und ich bin dankbar für alles, was du für mich getan hast. Aber Schwester, ich bin nicht blöd, ich will wissen, was passiert ist!« Soli hatte sie freundlich angesehen, vielleicht auch mitleidig, und gefragt: »Wofür?« Und so erzählte Rory ihren Klassenkameradinnen, die es ganz bestimmt ihren Müttern weitererzählten, die es wiederum ihren Nachbarn und Freunden weitererzählten, dass Soledad Cabahug von ihrem chinesischen Arbeitgeber in einem Moment absoluter Hilflosigkeit hinterhältig überfallen worden sei und sie deswegen jede Sympathie und jeden Respekt verdiene – was allerdings nur wenigen einleuchtete. »Wahrscheinlich suchte sie einen Weg, für immer dazubleiben …«, gluckste eines dieser Fischweiber, »und stattdessen gab er ihr ein Geschenk mit.« Manchmal wünschte Rory, ihre Schwester würde diese Bemerkungen selber hören und sich dann ebenso gekränkt und wirklich verletzt fühlen wie sie, aber Soli schien vollkommen glücklich zu sein in ihrem Zwei-Zimmer-Bungalow. Vorhänge für die Fenster und Gewänder für das Jesuskind zu nähen, während sie in einem Sessel mit breiten Rücken- und Armlehnen saß, war eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen, genauso Briefe an namenlose Empfänger zu schreiben oder Nachrichten aus aller Welt zu lesen, als ob eine Explosion in Beirut oder Wahlen in Norwegen wichtiger wären als ihr eigenes, ins Stocken geratene Leben.

Eines Nachmittags sagte sie zu Rory: »Ich möchte, dass du das College abschließt. Papa hätte darauf bestanden.« Die Plötzlichkeit und Bestimmtheit dieser Worte ließ Rory ahnen, dass dem noch etwas folgen würde. Sie hatte gerade erst an der Tür ihre Schuhe ausgezogen, hatte noch ihre Schuluniform an. In der vergangenen Woche waren einige Telegramme aus Manila angekommen, aber Soli hatte kein Wort über sie verloren, sie wurde nur noch schweigsamer als sonst und die Schlaflieder für ihren Säugling glichen eher den Klageliedern eines Seemanns auf hoher See. »Ich möchte dieses Haus behalten, ich möchte, dass Nathan hier aufwächst und Ingenieur wird.« Sie reichte Rory ein kleines Handtuch, damit sie sich den Schweiß von ihrem Rücken abtrocknen konnte; die Fahrt von der Schule mit dem Dreiradtaxi, in dem man gegen die Plastiksitze gepresst wurde, hinterließ auf der Haut einen Film aus Schweiß und Staub, und wenn man das lang genug ignorierte, bildeten sich kleine entzündbare Pusteln. Soli wollte Rory vor jeder möglichen Unannehmlichkeit bewahren. Sie wusste, dass ihre Schwester dieses Bemuttern nicht leiden konnte, aber sie ignorierte ihr Grummeln und nahm das Handtuch, um ihr beim Trockenreiben zu helfen. »Eines Tages wird dein Mann deinen Rücken anschauen und er sollte ihn ebenso mögen wie das, was er vorne sieht.« Rory war kurz irritiert, gab dann aber ihrer Fürsorglichkeit nach und schätzte diese spät entdeckte Schwesternliebe nach Jahren ihrer Abwesenheit. Jetzt gab es nur noch sie beide – oder sie drei –, die füreinander da waren und gegenseitig auf sich aufpassten.

»Ich muss mich bald wieder auf den Weg machen«, sagte Soli schroff und rieb Rorys Rücken so heftig, dass es weh tat. »Meine Ersparnisse sind bald zu Ende, und wir brauchen Dinge für dich und Nathan… Wir wollen dieses Haus behalten, deswegen muss ich mich auf den Weg machen.«

»Aber Soli! Wohin und wann?« Das war alles, was Rory, plötzlich verängstigt, sagen konnte. Ihr wurde klar, dass ihre Unabhängigkeit im Grunde nur dadurch gesichert werden konnte, dass sie wieder allein blieb. Und hörte sich dann sagen: »Ich könnte gehen, Schwester, ich bin alt genug. Ich könnte ebenso arbeiten wie du, ich kann Geld für uns verdienen – und sehen, wie es da draußen zugeht!«

»Sei nicht so dumm«, sagte Soli und packte Rory an den Schultern. »Sieh dich an, deine Hände, deine Schultern, deine Beine. Möchtest du nach einem Monat Fußböden schrubben und Schleppen von Säcken voller Reis, weil der Fahrstuhl kaputt ist, aussehen wie ich?« Soli fing an zu lachen, immer lauter, bis sie die Spucke aus ihren Mundwinkeln abwischen musste und ihr Sohn sie ebenso entgeistert anschaute wie Rory. »He, Aurora, manchmal überraschst du mich. Denk nicht ans Arbeiten, dafür ist genug Zeit nach der Schule. Es gibt nichts, was du jetzt schon tun könntest und wofür dich Leute bezahlen würden – außer, gut, außer Dinge, an die du nicht mal denken solltest und ich nicht will, dass du das machst, niemals.«

»Aber ich kann singen, Schwester! Ich habe Song-Wettbewerbe gewonnen, ich hab es dir geschrieben, du hast mich singen hören, man kann heutzutage mit Singen gutes Geld verdienen. In Japan, in Thailand, auf Schiffen, überall auf der Welt.«

»Es reicht! Du machst den College-Abschluss, und danach kann ich zurückkommen und wir können zusammen sein, bis du heiratest oder ich sterbe oder Nathan erwachsen ist und mich oder uns irgendwohin mitnimmt, vielleicht nach Atlanta, vielleicht nach Australien oder bis die Erde sich unter unseren Füßen auftut und uns alle verschlingt. Sei vernünftig und hör mir zu. Ich brauche deine Hilfe. Hilfst du mir?«

»Natürlich helfe ich dir.« Rory begann vor lauter Anspannung zu weinen. Früher an diesem Nachmittag hatte sie nur einen Grund gehabt, sich Sorgen zu machen, nämlich über eine Aufgabe in Geschichte – sie fragte sich, was Emilio Aguinaldo* und der Frieden von Paris* mit ihrem kaufmännischen Studiengang zu tun hatte, für den sie sich eingeschrieben hatte. Aber jetzt fühlte sie sich hineingezogen in einen Strudel ungeahnter und verantwortungsvoller Aufgaben.

»Das Allerwichtigste: Ich lasse Nathan bei dir. Ich besorge eine Hilfe, aber versprich mir beim Grab unserer Eltern, dass du dich um ihn so kümmerst wie ich mich um dich.«

»Ja, Schwester.« Schon der Gedanke, dass sie die Mutterrolle gegenüber einem so kleinen Kind übernehmen sollte, versetzte Rory in Angst und Schrecken, aber für den Moment schob sie das beiseite. Der Junge lag wieder in seinem Kinderbett und spielte mit einem Plastikband, das sich aus dem Moskitonetz über ihm gelöst hatte. Wann immer Nathan es zur Seite stieß, pendelte es sofort wieder zu ihm zurück. Obschon Babys scheinbar ein simples Leben führten, setzten sie sich doch unentwegt mit großartigen und unauflösbaren Geheimnissen auseinander. »Ich hätte mir gewünscht, dass du das früher gesagt hättest, dann hätte ich mich darauf vorbereiten können, irgendwie.« Rory rieb am Saum ihrer Bluse, als ob da ein Fleck wäre. »Wo willst du denn hin?« Das war eine Frage, die sie manchmal auch gern gehört hätte, und sie hätte eine passende und hoffentlich wahre Antwort gegeben wie Tokio oder New York. Anders als Soli kannte sie nicht so viele Orte, aber das würde sich ändern, zu gegebener Zeit.

Soli griff Rorys Hände und ließ sie gemeinsam hin- und herschwingen, fast als wollte sie mit ihr tanzen. »Es gibt da eine Stadt weit, weit weg in Saudi-Arabien am, wie sie es nennen, Roten Meer. Ich habe keine Ahnung, warum sie es rot nennen, vielleicht ist es nur die Färbung des Wassers, bevor es dunkel wird. Der Name der Stadt ist Jeddah. Ich sag’s nochmal, damit du das behältst: Jed – dah. Ich hab noch kein Foto gesehen, aber alles, was am Meer liegt, kann nicht so hässlich sein. Es ist sehr heiß in Saudi-Arabien, und man sagt, es kann in der Wüste so heiß werden, dass einem das Blut im Kopf kocht und aus der Nase quillt, wenn man lange genug unterwegs ist. Alle Muslime beten da zu Allah, und sie haben Könige und Prinzen und Leute wie uns, die den Sand aus ihren Palästen fegen und ihre Hunde baden. Da gibt es eine Prinzessin, die mich für sich und ihre zwei kleinen Kinder braucht. Loulwa heißt sie, Prinzessin Loulwa, ich frag’ mich, was für eine Person sie ist. Die Menschen überraschen einen immer wieder, so wie du mich überrascht hast mit deiner komischen Idee, vom Singen leben zu wollen.«

»Wann fährst du?« »Sobald ich meine Papiere habe. Da gibt es jemanden, der sich darum kümmert, er weiß genau, worauf es ankommt.« Soledad stand Schulter an Schulter neben ihrer Schwester und verglich ihre Maße. Zweifellos war sie schwerer und dunkelhäutiger, aber eine gewisse Ähnlichkeit war da, besonders die Augen und Nasen, die einen am deutlichsten von anderen Menschen unterschieden. Soli strich ihr Haar nach hinten, stemmte ihre Hände in die Hüften und stellte sich hinter Rory wie ein dunkler Schatten.

»Ich brauch deinen Namen«, flüsterte sie in Rorys Ohr. »Ich muss mir deinen Namen für einen neuen Pass leihen. Es ist zu kompliziert, das zu erklären, aber ich kann mit meinem alten Pass nicht ausreisen – ich weiß noch nicht mal, wo er ist, ich glaube, er fiel mir aus der Tasche während der Fahrt hierher, vielleicht in eine Straßenrinne, das könnte es gewesen sein –, jedenfalls ist er weg und außerdem hilft er nicht. Ich bekomme Schwierigkeiten, wenn sie wissen, wer ich bin.«

»Wer sind sie?«, fragte Rory, »Warum sollten sie?«

»Psst! Es sind die Könige und Prinzen aller Länder, die größer sind als Saudi-Arabien und sich von Europa bis Nordchina, über den Pazifischen Ozean bis nach Kota Kinabalu* erstrecken. Es gab da dieses Mädchen in Hongkong, ihr Name war Hana, sie kam aus Kota Kinabalu und hatte einen Herrn, der jedes Mädchen, das bei ihm arbeitete, vergewaltigte. Sie sah, wie er seine eigene Tochter missbrauchte, die gerade mal dreizehn war. Nachdem Hana an der Reihe war und er sie überwältigt hatte, griff sie ein heißes Bügeleisen, mit dem sie seine Lenden versengen wollte, sobald er schlief. Aber er wachte rechtzeitig auf, griff sich das Bügeleisen, drückte sie nach unten und presste es auf ihren Rücken – hier, genau zwischen die Schulterblätter, eine ganze Minute.«

»Oh mein Gott«, keuchte Rory. »Hat sie überlebt?«

»Natürlich überlebte sie. Er wollte sie nicht umbringen, nur auf die schlimmste Weise bestrafen.«

»Und was machte sie dann?«

Soli ging zum Baby und zog das Plastikband, das Nathan schließlich festgehalten hatte, aus seinem Mund, kitzelte ihn und bekam von ihm dafür ein feuchtes Glucksen.

»Sie machte gar nichts, und dann, eines Tages, brachte sie seine Tochter um, stach ein Messer zwischen ihre Rippen, zog es wieder heraus und richtete es gegen sich selbst. Das war es, was sie am Statue Square in Hongkong erzählten, wo wir uns alle trafen, sie erzählten die Geschichte jeden Sonntag.«

»Aber warum sie, nicht ihn? Das ist doch nicht gerecht!«

Soledad zuckte mit den Schultern und nahm Nathan hoch, als er anfing zu husten. »Wer weiß, warum Menschen tun, was sie tun? Jeden Tag machen wir Dinge, die nicht mal wir selber verstehen, obwohl sie in dem Moment, in dem wir sie machen, einen Sinn ergeben. Warum ist das so? Kannst du mir das verraten?« Soledad schaute auf Nathans kleines, mausiges Gesicht, die Augen seines Vaters zwinkerten ihr zu wie ein Lächeln. Sie wusste, dass sie Nathan vermissen würde, aber ihre Pflicht zu erfüllen, dachte sie, war auch eine Form von Liebe, vielleicht sogar eine höhere; es ging immer um die Pflicht, um das richtige Handeln für und gegenüber anderen, selbst wenn sie davon nichts wussten, und egal, was es kostete.