Eine Schwesternschaft aus Trauer

Senior Inspector Radovan Macias konnte kaum glauben, was er da gerade gehört hatte. Ein Regierungswagen war gestohlen worden mit einer Leiche in einem Sarg, und keiner wusste, wo er abgeblieben und ob er wegen des Autos oder wegen der Leiche gestohlen worden war. Aber Macias hatte schon verrücktere Dinge erlebt während seiner siebzehn Dienstjahre, so wie den Mann, der seinen eigenen Sohn als Geisel genommen hatte, damit sie Flugtickets bekämen, um seine Mutter in Zamboanga zu sehen (der Sohn floh; der Vater landete im Knast).

»Wir haben die Leiche – also die Kiste – vom Flughafen abgeholt, und wollten gerade wieder zurückfahren«, sagte Walter.

»Woran ist sie gestorben«, hörte Macias sich fragen, er wusste, dass das nicht wichtig war.

»Das ist nicht wichtig«, erwiderte Rory etwas zu schrill, »ja, doch, nein, es ist wichtig – natürlich ist es wichtig, für mich. Aber wo ist sie? Sag mir mal jemand – was ist mit der Leiche meiner Schwester passiert?« Dann begann wieder das nicht enden wollende Jammern, gegenüber dem Polizisten abgehärtet zu sein glaubten, es aber nie ganz waren – es zerrte an ihren Nerven, erinnerte sie an die quälenden, kleinen Aufgaben, die auf sie warteten; wenn die Leute auf dem Revier heulten und jammerten, waren die Polizisten sogar bereit, sich freiwillig zu einer Verkehrskontrolle zu melden.

Die Regenwolken hatten sich aufgelöst, sie waren von einem schwülheißen Nebel abgelöst worden, der unter Uniformen und Unterwäsche kroch und das Hirn gerinnen ließ. Selbst der barmherzige Jesus auf dem Altar der Dienststelle sah schlapp aus. In der Zelle im hinteren Teil sang ein Inhaftierter »Unchained Melody«, und der Wärter versuchte ihn mit ein paar Schlägen ans Gitter und wütendem Gebrüll zum Schweigen zu bringen. Von irgendwo in der Nachbarschaft durchdrang der Geruch von gebratenem getrockneten Tintenfisch die dunstige Luft, ein penetranter und unerträglicher Gestank, den niemand einsperren konnte.

»Miss, ich bin ziemlich sicher, dass sie den Wagen geklaut haben, nicht die Leiche. Ich meine – sie haben den Wagen geklaut, und die Leiche bekommen. Obendrauf.«

»Der blöde Wagen interessiert mich nicht! Sie können ihn haben und in Einzelteile zerlegen, von mir aus!«

»Das werden sie wahrscheinlich tun, Miss«, sagte einer der Streifenpolizisten, der sie hergebracht hatte, »Schnipp-Schnapp, es gibt viele dieser Gangs.«

»Schnipp-Schnapp«, stimmte der andere Polizist mit ein, mit einem Grinsen und mit Gesten, die deutlich machten, dass er nicht den Wagen meinte.

»Genug«, schrie Macias, »Marcelo Ponce de Leon, zurück auf Streife! Audencial! Kommen Sie kurz zu mir!«

Eine Polizistin, die damit beschäftigt war, ihre Familienfotos unter der Glasplatte ihres Schreibtisches neu zu ordnen, schaute auf. PO3 Porfiria Audencial war es leid, Kaffee zu kochen für diese Kerle und schwor bei ihrem Leben, dass sie Rattengift in die nächste Kanne mischen würde, wenn sie noch einmal darum gebeten wurde. Sie sah das Mädchen inmitten eines Halbkreises, den die Männer um sie bildeten, und fragte sich, was sie dahin gebracht hatte; sie war zu schlicht gekleidet für eine Prostituierte, selbst wenn sie gerade frei gehabt hätte, und sie machte einen wirklich verzweifelten Eindruck. Audencial mochte nicht alle Frauen, die aufs Revier kamen – warum auch, gut die Hälfte von ihnen verdiente es, dort zu sein und, wenn es nach ihr ginge, für immer eingesperrt zu werden. Auf Befehl von oben mussten bei manchen Fällen wie Vergewaltigung Polizistinnen mit einbezogen werden, und Audencial fand nichts dabei, eine schützende Decke um die Mädchen zu legen, die blutend und schluchzend zu ihnen kamen und sich fragten, warum sich alle ihre Geschichte anhören wollten, ohne sich wirklich darum zu kümmern. Diese Frau hier war nicht vergewaltigt worden, wirkte aber nicht weniger verstört, und der einzige Grund, warum Audencial sich nicht früher vom Tisch erhoben hatte, war, dass der Chief normalerweise ein paar Minuten mit dem Opfer sprechen wollte, bevor er das Unvermeidbare tun und sie dazurufen würde.

Audencial war zu der Erkenntnis gelangt, dass Männer nicht gemeinsam trauerten, Frauen aber schon, sogar dann, wenn sie sich nicht kannten oder sich nicht leiden konnten; es gab auf der Welt eine Schwesternschaft aus Trauer, und ihr konnte keine Frau entrinnen, auch sie selbst nicht, die nach Hause ging zu zwei umsorgten Kindern, die gut in Mathe und Rechtschreibung waren, und einem Ehemann namens Pepito, der das Angebot seines Cousins auf einen Pflegejob in Edmonton abgelehnt hatte, um zuhause auf die Kinder aufzupassen. »Du hast so ein Glück«, hatten ein paar Freunde gesagt. Und andere: »Wie konnte Pepito so dumm sein?«

»Nimm ihre Anzeige auf«, sagte Macias. »Diebstahl und Raub«, fügte er hinzu. »Lass sie die Fotos der üblichen Verdächtigen anschauen. Vielleicht erinnert sie sich an jemanden.«

»Sie haben meine Schwester gestohlen«, sagte Rory und starrte zornig jeden an, der zu ihr hinschaute. »Das ist Kidnapping!«

»Miss, man kann keine Toten kidnappen«, erwiderte Macias und sah auf seine Uhr. »Zamora, erklären Sie es ihr. Ich muss zu einem Arbeitsessen.«

Walter hatte für ein paar Minuten den Lärm um ihn herum ignoriert und auf die Straße gestiert, um ihre Situation zu überdenken. Er fühlte mit Rory, aber was ihn noch mehr beschäftigte, war die Frage, wo seine Mutter und seine Schwester waren, ob sie überhaupt noch lebten, ob es ihnen gut ging, was auch immer »gut« bedeuten sollte.

»Sir«, sagte Walter, als Macias im Begriff war aufzustehen, um zu dem wartenden Auto rauszugehen, »ich muss ein paar Telefonate machen. Mit meiner Dienststelle – und mit meiner Familie«, fügte er hinzu, ohne einen blassen Schimmer, wie er seine Familie erreichen konnte.

»Nur zu«, sagte der Dienststellenleiter, der sich weniger Sorgen um sein Budget machte als darum, dass der Colonel seine Frau anmachen oder ihr irgendetwas Hässliches erzählen könnte. Er hatte ein Flasche Chivas Regal für den Colonel im Auto, und jetzt befürchtete er, dass sie die Geschwätzigkeit des Ruheständlers noch mehr befeuern könnte. »Machen Sie Telefonate, so viel Sie wollen! Wir sind da, um zu helfen!«

PO3 Audencial hatte sich mit Rory an eine Schreibmaschine gesetzt, leises Murmeln war zu hören, als ob die beiden Frauen gemeinsam beteten. Eigentlich, dachte Walter, war er derjenige, der dort sitzen sollte, als der Verantwortliche, als der Beamte, dem der Wagen des Vizebürgermeisters anvertraut worden war. Er freute sich zu sehen, dass Rory die Befragung als Zeugin zu beruhigen schien. Manchmal brauchte man nur das: eine Geschichte zum Erzählen und ein Ohr zum Zuhören. Jetzt gerade musste er seine eigene Geschichte loswerden an die Leute in Paez; er ging zum Telefon auf dem Schreibtisch des Chefs und wählte.

»Sarge?«, fragte er, als jemand am anderen Ende nach dem fünften Klingeln abnahm. Es war ungefähr die Zeit, wo das Schachspiel sein Endstadium erreichte, und Sarge würde entweder deprimiert oder aufgekratzt sein, je nach Lage. »Walter hier. Wir sind noch in Manila. Wir, ich – der Wagen ist weg… Ja, Sarge, das habe ich gesagt, er wurde geklaut, als wir essen waren… Ja, wir hatten Hunger… Nein, habe ich nicht. Sie ist hier, Sarge, sie macht eine Aussage… Ja, auch die Leiche… Ich weiß, ich weiß… Wir haben nur gegessen, Sarge, Essen in den Mund geschoben, es ist nicht, wie Sie denken.« Walter hörte den Mann fluchen und stöhnen, dazwischen den Ruf: »Turm zu Dame auf 3«.

»Sarge«, sprach Walter weiter, als der Lärm abflaute. »Ich muss Sie um einen Gefallen bitten, bitte. In meinem Haus – ja, Sie kennen mein Haus, da ist ein Schloss, das können Sie aufbrechen –, in meinem Haus, in der Küche, da liegt ein Luftpostbrief… Sie können ihn nicht übersehen, Luftpost, und nicht geöffnet. Ich muss wissen, was drin steht, wirklich dringend… Nein, es hat nichts mit dem Fall zu tun, aber – ja, ja, es ist wichtig, und es wird mir beim Nachdenken helfen… Das ist richtig, Sarge, wenn ich denken kann, kann ich vielleicht auch den Wagen finden… Ja, bitte, finden Sie den Umschlag, und sagen Sie mir, was drinsteht… Ich rufe Sie in dreißig Minuten wieder an. Ja, ich danke Ihnen, Sarge, ich weiß das wirklich zu schätzen… Und bitte stellen Sie ein bisschen Futter hin für Kiamoy. Sie wissen, meine Katze?… Sie isst alles… Ich sagte bereits, Sarge, wir haben einfach nur gegessen. Danke.«

Walter legte den Hörer auf und schaute zu Rory. Der Tag hatte ihr sonst so jugendliches Gesicht verhärtet – eine Locke fiel auf ihre Augenbraue, sie kratzte sich am Kopf –, aber ihm schien sie so noch attraktiver, eine blasse und erschöpfte, aber präsente Erscheinung.

»Ich habe einen Neffen namens Nathan«, erzählte Rory der Polizistin. »Er ist erst zwei und im Moment bei einer Nachbarin. Er denkt, ich bin arbeiten, er wird mich morgen suchen und ein bisschen weinen, aber nur ein bisschen. Er ist ein tapferer Junge. So sind wir Cabahugs.«

Porfiria Audencial tippte nicht länger und hörte aufmerksam zu. »Ich lasse Sie jetzt ein paar Fotos anschauen.« Sie stand auf und fragte Rory: »Wollen Sie einen Kaffee?«