Jose Maria Pulumbarits Brust schien zu bersten, als er sich den hinteren Teil des Vans näher anschaute und realisierte, was er da durch die City transportiert hatte. Auf seiner Zunge lag ein lautloser Schrei, und auch wenn er diesem Schrei eine Stimme gegeben hätte, wäre er wahrscheinlich ungehört geblieben. Das Lagerhaus in Pasig, in das er den Wagen gesteuert hatte, lag auf einer Sandbank unweit des Flussufers. Zu früheren Zeiten, als der Fluss breiter und tiefer gewesen war, hatte es wahrscheinlich direkt am Wasser Lieferungen erhalten und Altmetall und Altglas ausgeschifft, aber der Fluss war inzwischen stark versandet und von Algen überwuchert, voller Schlammfische und Froscheier, für die meisten Kreaturen aber eine Kloake voller Chemikalien. Das Lagerhaus selbst war am Einfallen, ein Monument aus Rost und rottem Holz, und seine abwesenden Besitzer warteten nur auf den unausweichlichen Verkauf an Investoren und die Umbenennung des ganzen verseuchten Areals in Baugrundstücke mit Namen wie »Belle River« oder »Green View«. Die nächsten Nachbarn wohnten auf der anderen Flussseite, zu weit weg, um sich um Schreie oder den Grund dafür zu scheren. Hätte Jomar eine Bombe gezündet, wäre der Knall von der sumpfigen Erde verschluckt worden, und die Leute hätten gesagt: »Na, endlich machen sie was wegen der hässlichen Baracken.«
Jomar war ein paar Stunden zu früh zum verabredeten Treffen mit den anderen von der Gang gekommen – eigentlich nur mit zweien von ihnen: Einer sollte die Nummernschilder wechseln, der andere ihn bezahlen. Jomar war sich nicht sicher, mit wem von beiden er hier schon gearbeitet hatte, aber sie hatten das Lagerhaus schon zweimal benutzt ohne irgendwelche Probleme, und so war Jomars Bitte, sich näher an seinem Zuhause in Pasay zu treffen, auf taube Ohren gestoßen. Sie hatten den Deal für Punkt 23 Uhr verabredet, und jetzt war es erst kurz nach neun. Trotz des Regens war überraschend wenig Verkehr gewesen, und er hatte durch einige Abkürzungen zusätzlich Zeit gewonnen, Zeit, von der er jetzt zu viel hatte, vor allem in Begleitung einer Leiche.
Er hatte eine kleine Taschenlampe dabei, Teil seiner Standardausrüstung, und als er sie auf den mit Plastikfolie abgedeckten Luftfrachtschein richtete, der noch auf der Holzkiste klebte, dachte er zuerst, dass der Name »AURORA V. CABAHUG« die Zieladresse war, so wie sie auf Paketen mit Pampers oder Pringles stand. Die Kiste schien ihm jedoch ungewöhnlich groß für Süßigkeiten und andere Geschenke. Das Geheimnis machte Jomar so zu schaffen, dass er nicht länger warten wollte – so hätte er, falls die Kiste einen Kühlschrank, eine komplette Stereo-Anlage oder ein anderes großes Haushaltsgerät in sich barg, immer noch genug Zeit, um es irgendwohin zu fahren, zwischenzulagern und später zu Geld zu machen. Sie hatten einige Werkzeuge im Lagerhaus liegen gelassen, um Schlösser aufzubrechen und Metall zu schweißen, und nach einigem Suchen fand Jomar eine Stahlstange, mit der er, zusammen mit einem flachen Eisenstück, die Bretter der Holzkiste aufbrechen konnte. Es brauchte eine Menge Anstrengung bei so wenig Platz, und sie rutschte einige Male mit einem lauten Scheppern ab; bald aber gab das Holz nach, zerbarst, und gab einen Blick ins Innere frei. Jomar schob seine Taschenlampe in den Spalt und beugte sich vor. Sobald er die bläulich-weiße Zinkummantelung sehen konnte, wurde ihm klar, was er da sah, und er entsandte einen stillen Schrei gen Himmel.
Jose Maria Pulumbarit konnte Tritte und Schläge von Polizisten, ob mit dem Gürtel oder mit dem Schlagstock, ertragen, ohne eine Miene zu verziehen, aber da war etwas Besonderes mit der Leiche, das ihn erschaudern ließ. Er konnte sich kaum an seine Mutter erinnern, die gestorben war, als er zwei war; aber er wurde ständig von seinem Bruder Cosme heimgesucht, der gerne zu den unpassendsten Gelegenheiten auftauchte, zum Beispiel, wenn er mit seiner Frau Liebe machte. Cosme schaute ihn dann in dem leicht vernebelten Blick seiner Frau an – und schlagartig brach Jomars Potenz zusammen, sehr zum Ärger seiner Frau; deshalb hörten sie bei fünf auf mit dem Kinderkriegen, und Jomar war auf seine Finger angewiesen, um seine Frau zufrieden zu stellen, damit sie ihm die Treue hielt, zumindest glaubte er das. Einmal starrte Cosme ihn aus dem Rückspiegel eines Mitsubishi Galant an, den Jomar ohne die geringsten Schwierigkeiten gestohlen hatte, da er einem Frauenarzt gehörte, der Armen kostenlose Untersuchungen und Verhütungsmittel zur Verfügung stellte. Auch ihr Vater war Jahre zuvor gestorben, zu Brei zermalmt, als der Jeepney, den er lenkte, in einen Bagger auf der Straße nach Dinalupihan rein preschte. Und als der Vater das erste Mal vor Jomar auftauchte, erschien er gesund und als Ganzes, so wie sein altes widerliches Ego; aber dann schälte er sich, Schicht um Schicht, und während er sich auflöste, wurde sein Benehmen freundlicher, er zog Jomar lediglich wegen seiner Art Liebe zu machen auf und flüsterte ihm Sachen über seine Frau ins Ohr, die selbst Jomar bisher nicht wusste, und Jomar konnte nicht sagen, welchen Gast er lieber hatte, abgesehen davon, dass er sie beide verabscheute, genauso wie er Begräbnisse, Unfälle und Tatorte verabscheute und alles, was mit dem Ableben und dem Zerfall des menschlichen Körpers zu tun hatte.
Jomars erster Reflex, als er die Zinkkiste sah, war abzuhauen, alles im Lagerhaus stehen und liegen zu lassen und den Deal abzuschreiben als einen, der durch übernatürliche Kräfte vermasselt worden war. Aber raus in die Dunkelheit zu rennen, wo jegliche menschliche Zivilisation mindestens einen halben Kilometer entfernt war, war keine Lösung; Jomar unterdrückte seine Panik und seinen Ekel, um die Situation zu überdenken. Er hatte eine Familie, die zu Hause auf die Tüte mit frischen Nudeln wartete, die jeden erfolgreichen Job krönte; mit dem Geld, das er verdiente, könnte er Lucy ins Kino ausführen – er könnte sie für ein Wochenende hoch nach Tagaytay oder Nasugbu mitnehmen, sie daran erinnern, warum er es wert war, geliebt zu werden, selbst mit seinen eingeschränkten Fähigkeiten, und ihr den 29-Zoll-Fernseher kaufen, wegen dem, wie sie sagte, sie ihren Cousin Waldo in Caloocan ständig besuchte. Er würde diesen Job erledigen und er würde es gut machen. Die Leiche war nur eine Leiche; wer auch immer es war oder zu wem sie gehörte, sie war etwas, das im Weg stand für die erfolgreiche Übergabe eines sauberen, funktionstüchtigen, unscheinbaren und letztlich gut verkäuflichen Wagens; das waren die Maßstäbe, mit denen er seine Glaubwürdigkeit als »Boy Alambre« auf der Straße verfestigte. Irgendetwas klickte in Jomar – die kalte, effiziente Rationalität, mit der er selbst die kompliziertesten Alarmanlagen ausschaltete –, und er begann, während er die Brille abnahm und sich die Augen rieb, sich nach Ketten und Seilen umzusehen, aus denen er einen provisorischen Flaschenzug basteln könnte.
Rory war dabei, weitere Fotoseiten durchzublättern, als ihre Augen an einem bestimmten Gesicht haften blieben. Eines, das keine Brille, aber dieselben schmalen, zusammengepressten Lippen hatte. Sie glaubte, dass sie das Gesicht früher an diesem Tag schon mal gesehen hatte – nicht am Flughafen, es musste im Restaurant gewesen sein –, und es hatte sie angestarrt mit diesem betont desinteressierten Ausdruck, der einem stärker in Erinnerung bleibt, als wenn es einem die Zunge rausgestreckt hätte. Aber dann wiederum – der Mann, an den sie dachte, hatte eine Brille getragen, und die machte oft den Unterschied aus, ob man jemanden erkennt oder eben nicht. Eine Ähnlichkeit, ja – aber genug, um einen Mann ins Gefängnis zu bringen?
Audencial spürte Rorys Zögern. »Haben Sie etwas gefunden?«
»Hab ich kurz gedacht, ja«, antwortete Rory, »aber ich bin sehr schlecht mit Gesichtern.« Und dann blätterte sie weiter und strich mit den Fingern über die nächste Reihe möglicher Kandidaten. Die Plastikfolie war zerkratzt und an den Rändern brüchig. Irgendjemand hatte aus Langeweile ausgeschnittene Papierblumen auf das Cover geklebt, sodass die Sammlung jetzt aussah wie ein Familienalbum, wenn auch das einer Familie in großen Schwierigkeiten.
»Nehmen Sie sich Zeit«, sagte Audencial, während sie sich zu ihr rüber lehnte und auf die Fotos schielte. »Sie glauben nicht, wieviele von denen immer wieder auftauchen. Man würde denken, dass sich einige inzwischen zur Ruhe gesetzt haben, aber sie finden immer einen guten Grund, weiterzumachen.«
Walter sah vom Schreibtisch auf, den Telefonhörer am Ohr. »Hast du jemanden erkannt«, fragte er Rory.
»Ich bin nicht sicher, hast du was rausbekommen?«
»Weiß ich noch nicht, ich bin dabei«, antwortete Walter so aufgeregt, wie er es seit Jahren nicht gewesen war. »Hallo Sarge? Ja, ja, könnten Sie es vorlesen?… Ist mir egal, und wenn die halbe Stadt zuhört, lesen Sie einfach alles vor, bitte.«
Der Mann in der Zelle begann wieder zu singen, diesmal machte sich keiner die Mühe, ihn zum Schweigen zu bringen, der Wärter war dabei, sich ein paar gekochte Enteneier fürs Abendessen zu holen. »Wollt ihr etwas, Leute? Bleibt ihr über Nacht hier?« Als ihm niemand antwortete, zuckte er mit den Schultern und ging hinaus ins blaue Abendlicht. Er sah SPO2 Walter Zamora nicht, wie er den Hörer mit der einen Hand hielt und mit der anderen seine Tasche hektisch nach einem Stift und einem Stück Papier abtastete. »Warten Sie, Sarge, warten Sie! Ich muss die Adresse aufschreiben!«
Der Trick war, dachte Jomar, den Wagen an der Anlegestelle so nah wie möglich ans Ufer heran zu fahren, um dann mithilfe eines Nylonseils, das um die Kiste gespannt und an beiden Enden an einem Metallpfosten befestigt war, langsam vorwärts zu fahren und so die Kiste aus dem Wagen zu ziehen. Sie würde mit lautem Krachen auf dem Beton landen und möglicherweise auseinanderbrechen, aber damit konnte er leben, er würde dann die Trümmerteile beseitigen und die Zinkkiste über den Rand in den Fluss schieben. Er verstieg sich in die Vorstellung, dass die Kiste ein weiterer Streich seines Bruders oder seines Vaters war, und dass, würde er die Kiste aufmachen, er einen von ihnen oder beide darin finden würde, mit einem Grinsen im Gesicht wie ein Clown. Die Kiste loszuwerden bedeutete, seine tiefsten Ängste für immer zu begraben, von Neuem zu beginnen mit einem fetten Bündel Scheine in seinen Händen. Er würde mit seinen Kumpels mitfahren, an der nächsten großen Straßenkreuzung aussteigen, sich eine Coke und einen Burger bei McDonald’s gönnen und dann ein paar Jeepney-Fahrten bis nach Hause nehmen, zwischendurch beim Aristocrat stoppen – was war das für eine schöne Wendung – für eine doppelte Portion Pancit. Lucy würde ihn küssen und sich an ihn schmiegen, während die Kinder schliefen oder zumindest so taten, und am Morgen hätte er die nervtötende Holzkiste vergessen, die ihm im Weg gestanden hatte. Er beschloss, die nächsten drei Tage keine Zeitung zu lesen, er war sicher, dass die Story der vermissten Kiste es bis auf die Titelseiten schaffen würde. In einer Woche wäre alles gut; die Gang würde ihn wieder wegen seiner Dienste anrufen, und bei ihm vielleicht als willkommene Abwechslung einen 5er BMW oder einen Ford Expedition bestellen. Er gehörte zu den Besten seines Fachs in der Stadt, wenn nicht im ganzen Land, und diese Nacht würde ihn als Musterbeispiel von Effizienz und Zuverlässigkeit glänzen lassen, ohne die geringste Schlamperei, die Kunden nur verärgern würde.
Und Jose Maria Pulumbarit machte es genauso, wie er es sich ausgedacht hatte, achtete besonders darauf, dass das Seil halten würde, weil sie das schon einmal benutzt hatten, um einen Motor hochzuhieven, nachdem die Metallkette unerklärlicherweise gebrochen war (Cosme, schon wieder!). Nylon war unglaublich reißfest und nutzte kaum ab, konnte den stärksten Kräften standhalten, Jomar hatte aber vor allem Vertrauen in seine Knotentechnik, die Seemannsknoten, mehr als in das Material selbst. Er nahm die Herausforderung mit der Vorfreude eines Experten an, und als der Wagen nach vorne ruckelte, die Kiste heraus schlitterte und auf den Boden krachte, ohne zu bersten, von ein paar Rissen abgesehen, wollte Jomar sich am liebsten selbst applaudieren. Der Boden des Vans war von dem kreischenden Holz zerkratzt, aber das tat nichts zur Sache; er würde noch mehr strapaziert werden, was auch immer sie später aufzuladen planten, mit diesem Teil der Operation hatte er zum Glück nichts mehr weiter zu tun. Er war Spezialist, engagiert für eine bestimmte Sache und nur dafür, und er hatte geliefert. Zumindest fast.
Die Kiste lag am Rand der Anlegestelle, ungefähr zwei Meter über dem dunklen Wasser, dessen Oberfläche ebenso glänzend wie trübe und brackig war. Hier und da ein paar kleine Luftblasen, wenn ein Lurch seine Augen in die sternenklare Nacht reckte, Schlammfische schossen durch das Schilf. Nicht einmal mit seiner verschmutzten Brille konnte Jomar etwas von diesen kleinen Bewegungen sehen. Er dachte in größeren Dimensionen, und die größte verlangte von ihm, die Kiste über die Kante zu schieben. Da er alleine war, beanspruchte das jeden Muskel und jede Sehne seines kleinen, aber drahtigen Körpers, und ließ seine Tätowierungen zu unverhältnismäßiger Größe anwachsen. Er benutzte immer noch das Seil, zog an einem Knoten da und einer Schlaufe dort. Er stellte sich die Erbauer der Pyramiden vor – er hatte sie im Fernsehen gesehen, zwischen den Rennen im Wettbüro –, und er wünschte, er hätte Holzstämme, um einen Schlitten zu bauen, aber manchmal brauchte man allein die Ausdauer gebündelter Kraft; die Ecke jetzt, die Ecke danach. Er trat auf das gewundene Seil und merkte, dass es ihm Halt gab auf dem glatten Beton. Er schob weiter. Auf der anderen Flussseite öffnete sich ein Fenster und etwas Licht strahlte in die Dunkelheit hinaus, eine kurze Ablenkung. Er hoffte fast, dass jemand zuguckte, um dieses kleine, aber wahnsinnig aufregende Stück der Ingenieurskunst zu bezeugen. Er schob weiter – und auf einmal, leise und ohne sich zu beschweren, gab die Last nach und die hölzerne Kiste stürzte hinunter. Jomar fühlte, wie sich das Seil um sein Bein schwang, zuerst sanft, dann fest, sehr fest, und dann kam das Wasser sehr nahe und öffnete sich wie eine schwarze, vielblättrige Blume. »Oh, Cosme«, war das letzte, was Jose Maria Pulumbarit sagte, auch wenn das niemand hörte, nicht mal er selbst.