In dieser Nacht um 11 Uhr 7 erreichten in einem Nissan Sentra zwei Männer – man identifizierte sie viel später als Xerxes Basilio und Christopher Pawid, wohnhaft in Tagung, Rizal beziehungsweise. Cabuyan, Laguna, verheiratet mit Frauen, die beide mit Vornamen Annabele hießen – das Lagerhaus in Pasig, das früher der Eng See Chiong Trading Company gehörte, und entdeckten einen blau-grauen Toyota Tamaraw mit dem Kennzeichen SFC-483; die Hecktür stand offen, und weit und breit war niemand zu sehen, der ihn dorthin gefahren haben könnte. Sie durchstreiften das Gelände etwa fünfzehn Minuten lang und pfiffen leise, um den Mann, den sie als Boy Alambre kannten, aus der Dunkelheit zu locken für den Fall, dass er sich versteckt hatte vor Leuten, die er nicht unbedingt treffen wollte, aber es tauchte niemand auf. Sie standen auf dem Anleger, leuchteten mit einer Taschenlampe auf das Wasser und sahen etwas, das darauf hindeutete, dass da irgendwas nicht stimmte – eine auffällige Verfärbung, die nichts Gutes bedeutete. Es war Xerxes, der die Theorie aufstellte, dass Boy Alambre vielleicht die Nerven verloren oder aus einem anderen, ganz persönlichen Grund, den nur er selbst kannte, plötzlich abgehauen sei. Und dass die Verfärbung auf dem Wasser vielleicht nur eine optische Täuschung sei. Sie gingen ein paar Meter nach links, leuchteten wieder mit der Taschenlampe, und nach kurzer Diskussion waren sich beide einig, dass der Fluss tatsächlich viele solcher merkwürdigen Farbspiegelungen zeigte. Wie auch immer, sie hatten den Van, wenn auch keinen Schlüssel, aber Christopher sah sich als würdigen Vertreter von Boy Alambre, der, um der Wahrheit die Ehre zu geben, längst nicht so einmalig war, wie die Leute es von ihm behaupteten. Warum sonst wohnte er mit fünf Kindern – zwei davon stammten vom Cousin seiner Frau – und seiner Frau in einer Bruchbude in Pasay? Ohne Respekt vor ihrem Komplizen wollten die beiden Gauner Boy Alambres Geld für sechsunddreißig Stunden aufbewahren – vierundzwanzig Stunden reichten auch, meinte Xerxes – und danach, nach diesem Zeichen mangelnden Interesses, würden sie alles durch zwei teilen. Warum eigentlich, sie könnten es doch gleich so machen und würden, falls Boy Alambre wieder auftauchte, und nur dann, ihm ein Handgeld zahlen. Bevor sie verschwanden, blickten sie noch einmal auf das modrige Wasser und stießen inbrünstig ihre Wünsche und verlogenen Gebete aus. Christopher schraubte die Nummernschilder des Tamaraw ab, ersetzte sie durch andere und ließ mit einem Draht den Motor an. Xerxes ging zurück zum Nissan und fuhr, gefolgt vom Tamaraw, vom Grundstück. Er fragte sich, wie und warum Boy Alambre einfach so verschwunden war; wenn Leute freiwillig verschwanden, taten sie es meist zum eigenem Vorteil.
Ungefähr zweihundert Kilometer entfernt und ungefähr zur selben Zeit war das Flame Tree in Paez in hellster Aufregung wegen der Nachricht, dass der Van des Vizebürgermeisters in Manila gestohlen worden war und Rory Cabahug deswegen wohl nicht rechtzeitig zu ihrer nächtlichen Show zurück wäre. Diese Neuigkeiten brachten Francine ganz durcheinander, nicht weil sie sich um Rorys Wohl Sorgen machte, sondern weil dadurch ihre eigene Karriere einen gewaltigen Schub bekommen könnte. Sie hatte gerade am Mikrophon gestanden und ihre Version von Mariah Careys »I Don’t Wanna Cry« zum besten gegeben, als SPO3 Valdemar Duterte höchstselbst mit der Neuigkeit hereinplatzte. Mamma Merry erbleichte, aber um die fröhliche Stimmung nicht zu dämpfen, bestellte sie eine Runde für alle aufs Haus – und wies darauf hin, dass sie schon eine Spende für das Begräbnis von Rorys armer Schwester gegeben habe. Tennyson Yip schob seinen Gin Tonic zur Seite und nahm den Bericht des Sergeants mit ernstem Nicken zur Kenntnis, erklärte von der Bar aus, dass Autos verloren gehen, aber auch ersetzt werden könnten, was für echte Freundschaften nicht gelte, dass die Kriminalität in Manila ein weiterer Grund sei, einen Ort himmlischen Friedens wie Paez zu lieben, und kündigte eine weitere Runde an, diesmal auf seine Kosten, begleitet, so seine Bitte, von einem stillen Gebet. Dann klappte er sein Nokia auf und verzog sich in eine Ecke, vermutlich um mitten in der Nacht einige seiner wichtigsten Freunde anzurufen, und sei es nur, um ihnen etwas mitzuteilen, was für einen Ort wie Paez ein Ereignis biblischen Ausmaßes war. Von einem der Mädchen informiert, was passiert war, sprang der einzige Koreaner unter den Gästen – ein Buchhalter aus Busan, der aufpassen sollte, dass bei dem Brückenbauprojekt niemand mehr als fünfzehn Prozent von dem genehmigten PR-Etat abbekam – auf seine Füße, erklärte seine Verbundenheit mit der Stadtregierung und gab eine weitere Runde aus. Francine gab dem DJ ein Zeichen, eine fröhliche Melodie aufzulegen und nach wenigen Sekunden startete einer von Rorys typischen Songs, den nun Francine mit dem rosigsten Lächeln sang: »Such a feelin’s comin’ over me / There is wonder in most everything I see / Not a cloud in the Sky, got the Sun in my eye / And I won’t be surprised if it’s a dream…« Sie hauchte einen Kuss in die Ecke, wo Tenny Yip gerade telefonierte, und betete, dass die Nacht nie enden würde, dass das verschwundene Auto und dessen Inhalt nie gefunden würden, jedenfalls nicht so schnell.
Während Francine Geschäfte abschloss mit Herren, die mächtiger waren als der gekreuzigte Christus, saßen SPO2 Walter Zamora und Aurora Cabahug in einem Taxi, das von Magdaleno Nuqui, fünfundvierzig, nierenkrank, gesteuert wurde, der nur dank des Einsatzes einer Radiostation durch Spenden dutzender Unterstützer geheilt worden war. Er predigte seinen Passagieren von der Freundlichkeit Fremder und den Belohnungen für aufrichtige Gebete, aber er verstand den glasigen Augenausdruck seiner Fahrgäste falsch – sie hörten gar nicht zu. Walter saß vorne, Rory auf der Rückbank, aber sie hätten ebenso nebeneinander sitzen und Händchen halten können, so nahe waren sie sich in ihren Gedanken und Gefühlen. In seiner Faust hielt Walter die Adresse in San Mateo, die ihm der Sergeant durchgegeben hatte; sie hätten auch früher dahin fahren können, wenn nicht weitere Formalitäten von Walter und dem glücklosen Aniceto verlangt worden wären, der auf einer Bank in der Polizeistation eingeschlafen war, den Regenschirm auf seiner Brust wie das Schwert eines ehrenhaft gefallenen Ritters. Es gab noch keine Telefonnummer für diese neue Adresse; sie konnten also nicht wissen, dass er kam, aber das machte auch nichts. Seine Mutter würde schlafen, aber das tat sie immer. Gayla hatte einen Brief von Paolo erwähnt; Walter schwor sich, ihn sofort zu öffnen, sobald er ihn in den Händen halten würde. Rory verstand Walters Sorgen und wünschte ihm nur Gutes. Sie dachte an die Spieluhr, und fragte sich, ob manches anders gelaufen wäre, wenn Soledad sie bekommen und sie glücklich gemacht hätte und nicht mit dem Feuer gespielt und sie verlassen hätte. Wenn Solis Leiche gefunden werden sollte, dann würde sie für ein ordentliches Begräbnis sorgen in Gottes Erde, das schwor sie. Sie spürte, dass Kraft in ihre Knochen zurückkam. Je mehr sie nachdachte, umso mehr Antworten fand sie auf jede denkbare Frage: Wer würde sich um Nathan kümmern? (Sie würde jemanden finden, in Paez tummelten sich Arbeitslose genug). Wie konnte sie das Land verlassen, ohne einen ordentlichen Pass auf ihren Namen zu besitzen – und was war mit ihrem Namen überhaupt, wo er doch jetzt nicht mehr ihrer war, jedenfalls was die Bürokratie betraf. (Dieselbe Antwort: Es gab immer ein Mädchen, dessen Identität sie mieten oder ausleihen konnte; in bestimmter Hinsicht waren sie alle gleich, und die Besonderheiten von Namen und Gesichtern waren allen egal, mit Ausnahme von kleinkarierten Beamten). Was würde sie in Saipan erwarten? (Jede Menge Kokosnüsse und ein endloser Ozean, stellte sie sich vor, nicht viel anders als zu Hause, außer dass die Preise in Dollars waren, von denen sie aber jede Menge verdienen würde.) Und wie konnte sie weggehen nach dem, was mit Soledad passiert war? (Ich bin ihre Schwester – und sie bat den Herrn und ihre verstorbenen Eltern um Verständnis –, aber ich bin nicht meine Schwester, egal, welche Ähnlichkeiten wir haben und was zwischen uns war. Ich bin nicht meine Schwester; was sie versäumt hat, werde ich machen. Und ich werde es besser machen.)
Mittlerweile blubberten im aufgewühlten Wasser im nördlichen Pasig Luftblasen hoch von einer auseinander gebrochenen Kiste, die von einem anderen schweren Gegenstand unter Wasser gehalten wurde. Es dauerte drei weitere Tage, bis die Leichen aus dem Schilf nach oben stiegen. Zuerst die von Jose Maria, bleich und aufgedunsen wie ein aufgeblasener Ballon, und dann, verschnürt mit einer Art Nylon-Nabelschnur, der von Gasen hochgetriebene Sarg, befreit vom seinem hölzernen Käfig und dem ewigen Schlamm.