Über Jeddah und über ihren Tod – was hätte Soledad darüber wissen und erzählen können? Von der Minute an, als ihr Flugzeug auf dem Abdul Aziz International Airport landete, war Jeddah ein einziger schwindelerregender Strom flirrend bunter Bilder und schriller Töne – ähnlich wie Hongkong, aber die Geräusche und Gerüche unterschieden sich grundlegend, und dann natürlich die Wüste, die von fast überall zu sehen war. So wie die Hauptstraße in Kowloon in Hongkong, nach der sie ihren Sohn aus einer Laune heraus genannt hatte, schienen Jeddah und dieser Teil des King’s Highway eine einzige lange Straße zu sein, die sich in viele weitere verzweigte, von den bröckelnden, korallenroten Häusern in al-Balad bis zu den schicken Hotels in North Corniche, in dem Viertel, wo auch ihr neuer Arbeitgeber und seine Familie wohnten: eine eingezäunte Anlage, bewacht von einer privaten Security mit halbautomatischen Gewehren, an deren rhythmisches Bap-Bap-Bap sie sich bald gewöhnte, wenn die Wachen sich mal wieder danach fühlten ein paar Schüsse abzugeben oder an streunenden Mantelpavianen zu üben, jener Spezies, die fast ganz Südwest-Arabien heimsuchte, nachdem sie jede Angst vor Menschen verloren hatte. Hinter den Toren stand ein grellweißer Palast, mit Torbögen und gerillten Säulen, die die Sicht freigaben auf einen Brunnen im Innenhof und auf einen strahlend blauen Pool weiter hinten. Soledad konnte Kinder im Wasser herumtollen hören; sie sprachen eine universelle Sprache, die Soledad verstand und in der sie verstanden wurde.
Trotz dieser fremden Umgebung freute sie sich auf ihren neuen Job. In Hongkong, wenn sie sonntagmittags Reis, saures Schweinefleisch oder Huhn in einer der vielen Garküchen aß, hörte sie all die furchterregenden und traurigen Geschichten über das Königreich, von Mädchen, die gerade da gewesen waren oder welche kannten, die da gewesen waren, von Vergewaltigungen, Schlägen, Enthauptungen und Verstümmelungen, drastischen Lohnsenkungen von sechshundert Riyals auf knapp hundert, über die gefängnisartigen Unterkünfte, in die sie eingeschlossen wurden, die knochenbrechenden Sprünge über Mauern und Zäune in den Straßendschungel oder die unsichere Zuflucht in die Botschaft, wo man es mit schmierigen Beamten zu tun bekam. Tatsächlich konnte das nicht nur in Saudi-Arabien, sondern auch in Deutschland, Singapur und sogar in Hongkong passieren. Warum also waren sie alle dort, trotz aller Vorwarnungen und der fast schon ermüdenden Berichte über Misshandlungen und Missbrauch? Weil, soweit Soledad das betraf, sie sich glücklicher und stärker fühlten als ihre Vorgängerinnen. Nicht, dass eine oder einer von ihnen das schreckliche Schicksal verdient hätte, obwohl bestimmt nicht jeder, der die Tiere seines Bauernhofs verkaufte – oder den Bauernhof selber – oder ihren Ehemann und ihre Kinder verließ, um im Ausland zu arbeiten, ganz und gar ein Heiliger oder eine Heilige war. Und war es nicht so, dass Menschen, die ihre Herren ausraubten oder sogar umbrachten, zu Recht den Verlust einer Hand oder ihres Kopfes erlitten? Solche Gedanken schwirrten durch Soledads Kopf, als sie zusammen mit einem anderen Mädchen namens Meenakshi aus Kerala in Indien im Hausflur wartete. Mit ihren achtzehn Jahren war sie eine Schönheit, wenn auch etwas pummelig. Ihr Teint und ihr Körperbau waren dem Soledads ziemlich ähnlich, aber sie machte einen so verängstigten Eindruck, dass Soledad sich fragte, wie lange sie es wohl aushalten würde als »Allrounderin«, von der alles erwartet wurde, was im Haushalt so anfiel, vom Kochen, Saubermachen bis zu Massagen, wer auch immer sie gerade brauchte, ob Frau oder Mann. Soledad stand ruhig da, ihre Hände auf dem Rücken verschränkt; ihr fiel auf, dass Meenakshi nervös ihre Füße aneinander rieb und ihre Augen auf den schön gefliesten Fußboden richtete, als ob in dessen Mustern eine geheime Botschaft verborgen wäre. Soledad selber hatte über die arabischen Schriftzeichen gestaunt, die sie an Weinblätter erinnerten; aber jetzt war sie erst einmal überwältigt von der Pracht dieses Ortes, der nichts mit dem Apartment der Laus in Tuen Wan gemein hatte. Aufwändige Messingverzierungen schmückten jede Tür, und Vasen, größer als sie selbst, standen in jeder Ecke. Taubenblaue und gelbe Vögel zwitscherten in einem Käfig aus Bambus und Rattan, der in der Mitte eines Rundbogens hing; ein goldbesticktes, rotes Samttuch bedeckte ihn zur Hälfte, um die Vögel vor dem starken Sonnenlicht zu schützen. Zwischen den Kinderstimmen konnte sie Musik von Trommeln und Saiteninstrumenten hören – zweifellos aus einer sehr teuren Stereoanlage in einem Raum oberhalb des Innenhofs. Das Lachen der Kinder wurde lauter, und von dem Brunnen näherte sich jetzt ein ziemlich durchnässter Junge von vielleicht sechs Jahren, der eine Wasserpistole in seiner Hand schwenkte, und ein dreijähriges Mädchen mit lockigem Haar und einem geblümten Badeanzug. Und dann ihre Mutter – eine Frau in den Dreißigern mit glänzend braunem Haar und einer riesigen Sonnenbrille. Ihr Gesicht war eingerahmt von einem lila-weißem Schal, der gut zu dem tiefgrünen Kaftan passte, unter dem Stonewashed-Jeans herausschauten. Die Prinzessin trug keinen Schleier, und Soledad fand daran nichts Ungewöhnliches, bis sie all die anderen Frauen sah, vier oder fünf, die langsam aus den verschiedenen Ecken des Hofs auftauchten, um sich die Neuankömmlinge anzuschauen – sie alle von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt. Die größte dieser Frauen zeigte nicht mehr als ihre stählernen Augen. Soledad und Meenakshi würden lernen, sich genauso anzuziehen, besonders dann, wenn sie aus dem Haus dorthin gingen, wo Männer ihren Weg kreuzen könnten. In diesem Moment aber machte sich Soledad nur darüber Sorgen, dass die große Frau über sich selbst stolpern könnte; sie hatte noch nie so viel Stoff an einer einzigen Frau gesehen.
Der Junge blieb verblüfft vor den beiden neuen Dienstmädchen stehen, und seine Schwester versuchte nach seiner Pistole zu greifen, aber er nahm sie schnell in die andere Hand.
»Das ist mein Sohn Fouad«, sagte die Prinzessin auf Englisch, »und das ist Amina. Sie ist gerade drei geworden. Ihr müsstet die neuen Mädchen sein, nicht wahr?«
Meenakshi brachte kein Wort heraus, zitterte nur.
»Mein Name ist Aurora. Guten Tag, Madam«, sagte Soledad, senkte ihre Augen, unsicher, ob sie vor ihr knien sollte, eine Geste, die sie aus britischen Filmen kannte, oder sich tief verbeugen sollte. Dann fügte sie hinzu: »Eure Hoheit«.
Loulwa lachte. »Danke, das ist sehr freundlich, aber Madam reicht, vor allem, wenn wir unter uns sind wie jetzt und kein Mann in der Nähe ist.« Sie klopfte leicht auf Fouads Kopf, was dem gar nicht gefiel. »Er ist ein Junge, und er gehört zur Familie, zählt also nicht.« Fouad drehte den Erwachsenen den Rücken zu und bespritzte Amina mit Wasser; dem Mädchen schien das zu gefallen, und sie versuchte, den Wasserstrahl mit ihren dicken Fingern zu greifen. »Und du musst Meenakshi sein«, sprach die Prinzessin das andere Dienstmädchen an. »Ich habe mir eure Pässe angeschaut, das mache ich immer so.« Ein Mann namens Rashid hatte ihnen ihre Pässe abgenommen, nachdem sie am Flughafen alles mit der Einreise geklärt hatten, und sie hatten weder den Mann noch ihre Pässe seitdem wiedergesehen. »Alles in Ordnung. Ihr werdet euch an mich gewöhnen, und ich hoffe, ich mich an euch. Ich ging in Amerika zur Schule, in Washington D.C.« Soledad nickte. »Aber Amerika ist Amerika, und Jeddah, ja, ist eben Jeddah…« Ihre Stimme wurde leiser, als sie niederkniete, um einen Marienkäfer vom Saum ihres Kaftans aufzulesen, er thronte auf ihrer Fingerkuppe und flog dann zurück zu den Topfpflanzen. »Man kann hier gut leben. Habt ihr vorhin auf dem Weg hierher die Fontäne gesehen? Sie ist wahrscheinlich mit ihren mehr als dreihundert Metern Höhe die größte der Welt. Als ich aus Amerika zurückkam, war sie mit das erste, was ich sah. Und ich dachte, eine märchenhafte Fontäne und die Liebe eines Mannes werden mich glücklich machen… Aurora, welch ein schöner Name, ein Glück verheißender Name.«
»Danke, Madam«, antwortete Soledad.
»Ich hoffe, ihr werdet euch hier wohlfühlen. Aurora, befolge einfach nur die Anweisungen, und alles wird gut sein. Als erstes werden wir euch beide in eine Abaya kleiden so wie die anderen Frauen – ich trage sie manchmal auch –, und dann werdet ihr Khaled treffen, den Prinzen. Und seid nicht allzu beeindruckt, es gibt hier über fünftausend Prinzen! Dieser kleine Junge, Fouad, ist einer von ihnen, und er weiß das. Fouad! Das ist Aurora, sie wird sich um dich kümmern. Meenakshi wird dem älteren Prinzen dienen, ich weiß nicht, was schwieriger ist«, scherzte Loulwa.
Es war ein ungewöhnlicher Empfang, so freundlich, dass er all ihre Befürchtungen über diesen Ort und dessen Bewohner zerstreute. Der Prinz, den sie schließlich drei Tage später trafen, erwies sich als großer, korpulenter Mann, wesentlich älter als Loulwa, und er wirkte in seiner weißen Thobe* und seiner karierten Gutra* wie ein strenger Santa Claus. Er sprach nicht direkt mit ihnen, nur über seinen Hausdiener Yusuf, der dann dessen Wünsche an die Dienstmädchen weitergab. Prinz Khaled war – so hörten sie von anderen – ein Statik-Ingenieur, der für größere Projekte arbeitete wie riesige Pumpanlagen, die Meerwasser weit ins Landesinnere pumpten, und Anlagen zur Urananreicherung. Er war beruflich so aktiv, dass er sich um Hausangelegenheiten nicht kümmern konnte, und die Küsse, die er beim Weggehen seiner Frau und seinen Kindern gab, wirkten eher flüchtig, selbst dann, wenn er im Gefolge eines der Königssöhne mit einer besonderen Mission nach Washington oder London abflog.
Ungefähr sieben Monate nach Soledads Ankunft brach von Osten ein Sandsturm los, eine dunkle, gewaltige, rotbraune Wolke, die heulend über die ganze Stadt hinwegfegte und alles verdunkelte und erhitzte, was in ihrem Weg lag. Sie war gerade, nachdem sie Amina gebadet hatte, in die Dienstmädchen-Unterkunft zurückgekommen, und alle Mädchen beeilten sich, Türen und Fenster mit Tüchern abzudecken. Immer noch nicht an die schwere Abaya gewöhnt, kämpfte Soledad mit sich selbst, um schnell bei den anderen zu sein. Meenakshi, inzwischen eingewöhnt, machte sich über Soledad lustig und ihr Kichern erinnerte Soledad an Rory, an die sie schon zweimal geschrieben hatte, aber frühestens in einem Monat eine Antwort erwartete. Prinz Khaled war in Brüssel, um mit der EU zu verhandeln, und Meenakshi war in bester Laune, weil die Abwesenheit ihres Herrn mehr freie Zeit für sie bedeutete, zum Beispiel für ihr Haar, wo ihr die anderen Mädchen beim Flechten halfen. Sie hatte bemerkt, dass Yusuf verstohlene Blicke auf sie warf – das hatte sie Soli eine Woche vorher erzählt –, sie hatte seine Blicke nicht erwidert; er hatte sie aber ein- oder zweimal abgefangen. Während der Sandsturm um sie herum tobte, der das Glas in den Fenstern zum Singen brachte, was die ausländischen Dienstmädchen und Arbeiter im Palast in Angst und Schrecken versetzte, schien Meenakshis Fröhlichkeit noch deplatzierter. Als Soli sich neben ihrem Bett hinkauerte, kroch Meenakshi zu ihr hin und flüsterte: »Er möchte sich heute Abend mit mir treffen, am Hafen, in der Nähe der Fontäne.«
»Was?«, presste Soledad hervor. »Wie kannst du das tun? Das ist uns verboten.«
»Aber du wirst mich begleiten! Sie werden uns durchlassen, wir sagen, dass wir was für den Herrn besorgen müssen. Yusuf hat das mit den Wachen arrangiert, und dann können wir einen Bus nehmen und eine Stunde oder zwei in der Stadt sein. Er wird da auf uns warten.«
»Und dann was?«
Meenakshi lachte über Soledads Naivität. »Und dann kannst du machen, was du willst. Alles, was ich brauche, ist eine Stunde. Bitte, Soledad, die Kinder schlafen dann schon, niemand wird nach dir suchen, aber du musst mitkommen, ich brauche dich.«
»Wofür? Du brauchst mich für das, was du mit Yusuf vorhast?«
Der Wind um sie herum war wunderbarerweise abgeflaut; der Sandsturm war so schnell verschwunden wie er gekommen war, tobte jetzt über dem Meer, und die Leute öffneten wieder vorsichtig ihre Fenster, schauten auf den Himmel, der immer noch trüb und braun aussah, aber schon einige blaue Flecken zeigte.
»Da gibt es eine Menge Interessantes zu sehen und zu unternehmen. Beim letzten Mal…«
»Du warst schon mal da?«
»Still!«
Die anderen Mädchen liefen an ihnen vorbei, um zu ihrer Arbeit zurückzukehren. »Oh ja, aber nur einmal. Ich schwöre, Soledad, nur einmal.« Meenakshis Augen schossen durch den Raum, in dem sich Koje an Koje reihte wie in der Billigklasse eines alten Passagierdampfers. Jede Koje hatte eine Schaumstoffmatratze, ein Kissen, ein Laken und eine Art Stirnwand, an die die Frauen Fotos ihrer Familien in Indien, Bangladesh, Thailand oder den Philippinen heften konnten – schmale, dunkle Gesichter in den verschiedensten bunten Umgebungen. Die beiden Ventilatoren an jedem Ende des Raumes konnten wenig gegen die Hitze ausrichten; die Frauen, die schon länger da waren, hatten etwas von Klimaanlagen gehört und dass die Prinzessin selber diese Idee gut fand, der Verwalter hatte diesen Plan aber abgelehnt aus Furcht davor, dass dieser zusätzliche Komfort bei den Angestellten zu längerem Schlaf und damit zum Verlust wertvoller Arbeitszeit führen könnte. Im Moment waren sie hier vierzehn Frauen, und Soledads und Meenakshis Ankunft war – nach dem üblichen Gezerre um die Kojen und die Verteilung der Aufgaben – von allen begrüßt worden, weil sie drei Mädchen ersetzten – zwei aus Bangladesh und eine Filipina namens Marta –, die neun Monate vorher verschwunden waren und deren Aufgaben die Zurückgebliebenen zeitweise mit zu erledigen hatten. Soledad hatte davon gehört und sich gefragt, warum sie weggelaufen waren – natürlich lebten sie ganz und gar nicht im Paradies, aber nach allem, was sie erlebt hatte, schien diese Familie, für die sie arbeiteten, anständig zu sein, abgesehen von den gern verbreiteten Gerüchten über eine Mätresse des Prinzen in Paris und über die Prinzessin, die darüber tief, tief unglücklich war und eines Tages ihrem Leben mit einem juwelenbesetzten Messer ein Ende setzen wollte, daran aber durch das rechtzeitige Eingreifen einer Dienerin aus Sri Lanka gehindert worden war, die wiederum dann – das wussten die Mädchen ganz genau – mit einem Batzen Geld nach Hause geschickt wurde, um sich da eine eigene Existenz aufzubauen, allerdings unter der Bedingung, dass nichts von dem, was sie gesehen hatte, an die Presse weitergegeben würde. Gut, überall hörte man solche Geschichten, weitererzählt als verbale Erbschaft von einer Dienerin zur nächsten, allerdings wurde alles, was mit Blut zu tun hatte, zwangsläufig auch zu einer Geschichte, und jede Geschichte blieb zwangsläufig irgendwo hängen wie ein blutgetränkter Wandteppich.
Soledads Leben war größtenteils auf den Palast begrenzt – mit zwei Ausnahmen, einmal, als sie die Prinzessin und die zwei Kinder in eine vornehme Einkaufsgegend an der Thalia Street begleiten durfte, wo neue Schuhe gekauft und eine sechshundert Dollar teure Bottega Veneta-Sonnenbrille anprobiert wurde, das zweite Mal, als Amina zum Zahnarzt musste. Das war auch der Grund, weshalb sie hier nie mit einer Filipina oder einem Filipino in Kontakt gekommen war. Nur einmal hatte sie belanglose Worte mit einem Lastwagenfahrer namens Roger gewechselt, der dann aber schnell wieder zu seinem Lastwagen gelaufen war. Die Muttawa* würde es nie wagen, das Haus eines Prinzen zu betreten, aber Soledad hatte davon gehört, zu was die fähig waren, wenn sie einen unverheirateten Mann und eine unverheiratete Frau miteinander in der Öffentlichkeit sprechen sahen, und hatte beschlossen, lieber auf Nummer Sicher zu gehen, auch Nathan zuliebe. Wenn sie an ihren Sohn, viele tausend Meilen von ihr entfernt, dachte, wie er wuchs und das Wort »Ma-ma« mit seinen Lippen formte, musste sie gegen einen stechenden Schmerz ankämpfen und sich daran erinnern, warum sie hergekommen war, suchte dann in den Tiefen ihrer Abaya nach ihrem Rosenkranz, der aber nicht da war – sie wollte einen ins Königreich schmuggeln, und hatte ihn im Koffer zwischen den Büstenhaltern und der Unterwäsche versteckt. Am Flughafen aber hatte die Polizei ihre Habseligkeiten durchwühlt, den Rosenkranz gefunden und beschlagnahmt, ebenso wie eine kleine Bibel und drei Reader’s Digest-Hefte. Einen Augenblick hatte sie befürchtet, dass man sie wieder nach Hause schicken würde, aber nach der Überprüfung des Namens ihres Arbeitgebers hatte die Polizei sie durchgewinkt. Sie nahm das als Zeichen von Gottes Gnade und seiner schützenden Hand über sie im Land der Heiden. Alles, was geschehen war oder geschehen würde, ob Gutes oder Schlechtes, geschah nach seinem Plan.
»Nur einmal.« Meenakshi sagte es nochmal, als ob eine Wiederholung Soledads Meinung ändern könnte. Sie hielt Soledad am Ärmel fest, rückte noch näher an sie heran: »Yusuf hat Freunde, die sich bestimmt gern mit dir treffen würden!«
Soledad errötete. Natürlich dachte sie manchmal an Männer, und manchmal raubte ihr der Gedanke an Hedison, wie er seine Hände um ihre Hüfte legte, den Schlaf, aber diese Episode war Vergangenheit und hatte ihre Bestimmung, Gottes Bestimmung, erfüllt. Und jetzt, wo Nathan in ihr Leben getreten war, hatte sie das Gefühl, nichts mehr erwarten zu dürfen; jedes Vergnügen hatte seinen Preis: eine neue Verpflichtung gegenüber Gott.
Andererseits, so wie der Sand, der sich immer mal wieder als tobende Wolke über der glühenden Wüste auftürmte, zogen Soledads Sehnsüchte sie heraus aus ihrer Ecke, aus ihrem Zimmer, aus diesem umzäunten Gelände, weit über ihr zusammengekauertes Selbst hinaus in das lebendige, pochende Herz der Stadt, in enge Gassen, in denen Arme aus den Fenstern herausragten, Hände sie berührten, mal roh, mal sanft, mal zudringlich, um sie von Süßigkeiten aus Milch und Reis kosten zu lassen, sie in farbenprächtige Seide zu kleiden, Messingringe über ihre Handgelenke und Knöchel zu streifen und mit trommelnden Fingerspitzen den Rhythmus von Gedichten oder Gebeten auf ihrer Schulter zu begleiten.
»Ich muss gehen«, sagte Soledad mit heiserer Stimme und stand auf.
Meenakshi zog an ihrer Abaya; sie hatte eine Veränderung in Soledads Gesichtsausdruck bemerkt, und sagte mit leicht zittriger Stimme: »Wir treffen uns hier um acht. Alles ist vorbereitet. Lass uns einfach ein bisschen Spaß haben.«
Soledad eilte aus der Dienstmädchen-Unterkunft und sah nach den Kindern; es war gerade mal halb fünf, und sie müssten jetzt eigentlich ihr Nickerchen machen, aber sie war sich sicher, dass sie mit ihrer Mutter während des Sandsturms wach geblieben waren. In dem Fall würden sie bald wieder spielen; sie würde ihnen eine neue Variante von Himmel und Hölle beibringen, sie nach dem Abendessen ins Bett bringen, ihnen ein Lied vorsingen, was sie so noch nicht kannten. Sie würde ihre Pflicht tun, und erst danach kam alles andere.
Niemand konnte genau sagen, was später an diesem Abend passiert war. Als die Polizei alle Aussagen auswertete – insbesondere jene von Yusuf Mahmoud, einem persönlichen Diener des Prinzen Khaled al-Mansur –, trat zutage, dass zwei Dienstmädchen der Familie am Tor erschienen waren mit einer erfundenen Geschichte. Demnach waren sie von der Prinzessin zu einer dringenden Besorgung geschickt worden, ein einfältiger Wärter hatte ihnen geglaubt, sie konnten den Palast verlassen und hatten einen Bus zum Hafen genommen. (Yusuf präsentierte auch eine Liste von Gegenständen, die seit dem Verschwinden im Haus vermisst wurden – darunter eine goldener Montblanc-Füllfederhalter, der nach einem berühmten westlichen Komponisten benannt war.) Yusufs Aussage führte zu drei oder vier weiteren Zeugen, die zwei Frauen, die der Beschreibung nach Soledad und Meenakshi gewesen sein konnten, gesehen hatten – als Ausländerinnen mussten sie nur einen Schal tragen und keinen Schleier wie saudische Frauen –, wie sie vor einem Eisladen gestanden hatten, ohne reinzugehen, als ob sie auf etwas gewartet hätten, und von Weitem beobachtet hatten, wie die King Fahd-Fontäne goldene Wassersäulen in den Himmel schoss. Und dann – berichtete der Ladenbesitzer selbst, der darauf wartete, den beiden Frauen den Geschmack von Orangensorbet näher bringen zu können – fuhr ein Taxi heran, hielt mit laufendem Motor, und dann, nach einem scheinbar hektischen Austausch von Handzeichen und Begrüßungsgesten mit dem Fahrer und einem Fahrgast, den der Ladenbesitzer nicht erkennen konnte, stiegen die zwei Frauen ins Taxi, das nach Süden lospreschte in Richtung eines Viertels namens Karantina – eine Verfälschung, wie manche sagten, des Wortes »Quarantäne«.
Ab diesem Zeitpunkt verschwanden Soledad und Meenakshi im Nichts, auch wenn ein Körper – und nur einer – drei Tage später wieder im Hafen auftauchen würde kurz vor Sonnenuntergang, im Schatten der kristallenen Wassertropfen der Fontäne. Ein Verkäufer von selbstgemachtem Kinderspielzeug – rote und gelbe Plastikvögel, kunstvoll gefertigt aus alten Motoröl-Kanistern – hatte das Bündel im Wasser gesehen. Ein Schrei erscholl und mischte sich unter die Menge, die sich sogleich um den Verkäufer sammelte und ihre Köpfe in Richtung des ausgestreckten Fingers des Händlers reckte. Als sie die Leiche mithilfe von zusammen gesteckten Holzlatten herausgeholt und umgedreht hatten, schnappten die Schaulustigen nach Luft, das Salzwasser, die Sonne und kleine Fischzähne hatten das Gesicht der Frau stark verunstaltet. Wenn einer sie gekannt hatte, hätte er sie jetzt nicht wiedererkannt. Wenn sie einen Namen gehabt hatte, müsste der erst herausgefunden werden. Wenn sie geliebt worden war, würde es Zeit brauchen – ein Telegramm, eine SMS, eine E-Mail, eine Eilmeldung –, bis derjenige seinen Verlust realisiert hätte und in die Knie gegangen wäre, Flüche in den Himmel sendend.
Der Spielzeugverkäufer beugte sich vor, um die malträtierte Leiche genauer betrachten zu können, seine Plastikvögel saßen auf Stangen, die aus einer Tasche herausguckten. »Sie ist nicht von hier«, brummelte er zu dem Mann neben ihm, einem Händler aus dem Jemen. »Ich bin auch nicht von hier«, sagte der. Eine Gruppe Frauen, schwarz wie Raben, steckte ihre Köpfe neugierig zusammen, sie waren ohne männliche Begleitung, sie konnten das, weil sie so viele waren.
Ein anderer Mann, ein Tourist aus Stuttgart, fragte in weinerlichem, übertrieben akzentuiertem Englisch: »Who is she? What happened? How did she die?« Er packte seine Leica D-Lux 3 aus der ledernen Tasche und brachte sich in Stellung.
»Ich kann kein Blut sehen«, sagte der Spielzeugverkäufer und beugte sich noch tiefer, unberührt von dem Geruch, den die Leiche verströmte.
»Was ist das, wer ist sie«, schrie eine Frau.
»Wieder eine, die hier angespült wird, wieder an derselben Stelle, wie schon vor ungefähr einem Jahr«, sagte der Spielzeugverkäufer und schüttelte sich. Dann richtete er sich auf und präsentierte der Menge eine seiner farbenfrohen Kreationen. Im Handumdrehen begann der Vogel am Ende der Schnur zu flattern. »Vögel«, schrie der Mann. »Vögel für eure Kinder, Vögel für eure Fenster! Diese Vögel flattern beim leichtesten Lufthauch, eine ganz natürliche Bewegung!«
»Does anyone speak English? Or German? What happened? Who is she? Somebody tell me!«
Aus der Ferne ertönte das Pfeifen eines Polizisten, und die Leute drängten zurück, außer dem Deutschen, der das Foto mit dem Gesicht der Toten auf verschiedene Websites hoch laden würde, die spezialisiert waren auf Zugwracks, Bombenanschläge und Enthauptungen.
»Wer ist sie, die hervorglänzt wie das Morgenrot, schön wie der Mond, klar wie die Sonne, furchtgebietend wie Heerscharen mit Kriegsbannern?« Eine Legende besagt, dass Eva, die Mutter aller Menschenkinder, in Jeddah beerdigt wurde, nahe am Roten Meer. Sie war angeblich drei Meter fünfzig groß, eine Riesin. Ihre und Adams Wege trennten sich, er fand den Weg nach Ceylon; Eva wählte Jeddah, wo sie nach ihrem Tod in einer einhundertzwanzig Meter langen Gruft beerdigt wurde.
Der aufgedunsene Körper der unbekannten Frau landete bei Einbruch der Nacht im Leichenschauhaus von Jeddah. Es war Aufgabe des Assistenten eines Gerichtsmediziners namens Ahmed, das Aufnahmeformular auszufüllen, die wesentlichen Merkmale der Leiche festzuhalten, und noch ein weiteres Formular, das den Umfang der notwendigen polizeilichen Ermittlungen definierte. Er beeilte sich, weil er mit Freunden in einem neu eröffneten Laden namens Java Lounge verabredet war, wo Frauen angeblich ihre Schleier lüfteten und vorsichtige Flirts, über Frucht-Cocktails gebeugt, möglich waren. Er versuchte sich ein paar Details dieses Falles einzuprägen, um damit die spätere Unterhaltung aufzupeppen – er wusste, dass sie ihn wegen dieser düsteren Geschichten mitnahmen, nach denen die Leute mit ihren eintönigen Leben anscheinend gierten –, dann fuhr er den Computer runter.
»Also, was ist passiert? Wer war sie? War sie eine Nutte? Eine Ausreißerin?«, fragte ihn eine Soziologin namens Nadja später in dieser Nacht, während sie mit dem Daumen über die Tasten ihres Handys strich. Sie lehnte sich vor. »Wurde sie vergewaltigt, Ahmed? Was haben sie mit ihr angestellt?«
»Keine Ahnung«, sagte Ahmed und versuchte, so entschieden wie nur möglich zu klingen. »In solchen Fällen – außer sie sind Mitglieder der königlichen Familie oder Leute mit Einfluss – behalten wir die Leiche drei Tage, dann lassen wir sie wegbringen.«
»Einfach so?«, fragte Nadja und sah hoch.
Ahmed seufzte und machte eine ausladende Bewegung, mit der er Nadjas Haarspitzen streifte. »Einfach so.«