DIE SPUR DES GELDES

J ules geht erst um zwei Uhr morgens.

Sie bietet mir an, bei mir zu übernachten, und vielleicht hätte ich Ja sagen sollen, denn ich finde kaum Schlaf.

Den größten Teil der Nacht liege ich hellwach auf dem Sofa im Wohnzimmer. Ich bringe es nicht über mich, ohne Owen ins Schlafzimmer zu gehen. Stattdessen wickele ich mich in eine alte Decke und gehe im Kopf immer wieder durch, was Jules vor ihrem Aufbruch als Letztes gesagt hat.

Wir standen an der Haustür, und sie beugte sich vor, um mich in den Arm zu nehmen. »Eine Sache noch«, sagte sie. »Hast du dein eigenes Girokonto behalten?«

»Ja«, sagte ich.

»Das ist gut«, sagte sie. »Es ist wichtig.«

Sie lächelte zufrieden, sodass ich nicht hinzufügte, dass ich es behalten habe, weil Owen darauf bestanden hat. Owen wollte, dass wir einen Teil unserer Finanzen getrennt halten, ohne dass er mir die Gründe näher erklärt hätte. Ich dachte, es ginge dabei irgendwie um Bailey. Aber vielleicht habe ich mich getäuscht. Vielleicht sollte mein Geld einfach unantastbar bleiben.

»Ich frage deshalb, weil sie wahrscheinlich sein ganzes Kapital einfrieren«, sagte Jules. »Das ist das Erste, was sie tun, solange sie noch nicht wissen, wo er ist und was er gewusst hat. Sie nehmen die Spur des Geldes auf.«

Sie nehmen die Spur des Geldes auf.

Noch immer wird mir ein bisschen mulmig, sobald ich an die Sporttasche unter der Spüle denke. Sie ist voll mit Geld, von dem Owen wahrscheinlich weiß, dass seine Spur nicht verfolgt werden kann. Von der Sporttasche habe ich Jules nichts gesagt, mir ist klar, wonach das für jeden vernünftigen Menschen aussehen würde. Wonach das für mich aussehen sollte. Danach, dass Owen schuldig ist. Das hat Jules auch so schon durchblicken lassen. Eine geheimnisvolle Tasche mit Geld würde sie in dieser Überzeugung nur bestärken. Wie sollte es auch anders sein? Sie liebt Owen wie einen Bruder, aber hier geht es nicht um Gefühle, sondern um deutliche Indizien für Owens Verwicklung in diesen Schlamassel: dass er auf der Flucht ist, dass er sich am Telefon verdächtig verhalten hat.

Aber da ist noch ein anderer wichtiger Punkt. Ich kenne Owen.

Owen würde nicht weglaufen, weil er schuldig ist. Er würde nicht abhauen, um sich in Sicherheit zu bringen. Er würde nicht fliehen, bloß um nicht ins Gefängnis oder mir nicht in die Augen schauen und einräumen zu müssen, was er getan hat. Er würde Bailey nicht alleinlassen. Er würde Bailey niemals alleinlassen, solange es sich irgendwie vermeiden ließe. Woher nehme ich diese Sicherheit? Wie kann ich meinem eigenen Urteil trauen, wo ich doch offensichtlich befangen bin?

Vielleicht liegt es daran, dass ich mein Leben lang gezwungen war, gut hinzusehen. Dass ich mein Leben lang unglaublich aufmerksam sein musste. Als meine Mutter endgültig verschwand, habe ich es nicht kommen sehen. Es ist mir entgangen. Ich habe nicht mitgekriegt, wie endgültig ihre Entscheidung war. Das hätte mir nicht passieren dürfen. Es hatte vorher so viele überhastete Abgänge gegeben, so viele Nächte, in denen sie sich aus dem Staub gemacht und mich mit meinem Großvater alleingelassen hatte, ohne sich auch nur zu verabschieden. So viele Male, bei denen sie tage- oder wochenlang nicht zurückgekommen war und nur gelegentlich angerufen oder kurz vorbeigeschaut hatte.

Als sie endgültig ging, hat sie nicht gesagt, dass sie nicht zurückkommen würde. Sie hat sich auf mein Bett gesetzt, mir die Haare aus dem Gesicht gestrichen und gesagt, sie müsse nach New York – mein Vater brauche sie an seiner Seite. Aber sie wolle mich bald wiedersehen. Ich habe es so verstanden, dass sie bald zurückkommen würde – denn mit ihr war es immer ein Kommen und Gehen gewesen. Aber ich habe mich geirrt, habe ihre Ausdrucksweise nicht richtig gedeutet. »Mich bald wiedersehen« bedeutete, dass sie nie zurückkommen würde, jedenfalls nicht richtig. Es bedeutete, dass ich zweimal im Jahr einen Nachmittag oder Abend (keine einzige Nacht) mit ihr verbringen würde.

Es bedeutete, dass ich sie verloren hatte.

Das war es, was ich übersehen hatte: Meiner Mutter machte es nichts aus, dass ich sie verlor.

Später habe ich mir geschworen, so etwas nie wieder zu übersehen.

Ich weiß nicht, ob Owen schuldig ist. Und ich bin wütend, weil er mich mit dieser Sache alleinlässt. Aber ich weiß, dass ich ihm etwas bedeute. Dass er mich liebt. Vor allem weiß ich, dass er Bailey liebt.

Er würde nur um ihretwillen weggehen. So muss es sein. Er ist auf diese Weise verschwunden, um sie zu beschützen. Vor etwas oder vor jemandem.

Am Ende geht es um Bailey.

Der Rest ist nur eine Geschichte.

*

Das Sonnenlicht fällt weich und gelb durch die nicht verhängten Wohnzimmerfenster, draußen liegt die Kulisse des Hafens.

Ich starre hinaus. Ich schalte weder den Fernseher ein noch klappe ich meinen Laptop auf, um mir den Newsfeed anzusehen. Das Wichtigste weiß ich sowieso: Owen ist immer noch weg.

Ich gehe zum Duschen nach oben. Baileys Tür steht untypischerweise offen, sie sitzt in ihrem Bett.

»Hallo«, sage ich.

»Hi.«

Sie zieht die Knie an die Brust. Sie wirkt so verängstigt. Und als würde sie sich alle Mühe geben, das zu verbergen.

»Kann ich einen Moment reinkommen?«

»Klar«, sagt sie. »Passt schon.«

Ich trete ins Zimmer und setze mich auf ihre Bettkante – als wäre es nichts Besonderes, als wäre es nicht das erste Mal.

»Konntest du ein bisschen schlafen?«, frage ich.

»Nicht viel«, sagt sie.

Durch das Laken sind die Umrisse ihrer Zehen zu erkennen. Sie krampft sie fest zusammen, wie eine Faust. Unwillkürlich will ich ihren Fuß berühren, kann mich aber gerade noch bremsen. Ich falte die Hände im Schoß und sehe mich in ihrem Zimmer um. Auf dem Nachttisch stapeln sich Theaterbücher und Dramen. Obendrauf steht ihr blaues Sparschwein – das Sparschwein, das Owen kurz nach ihrem Umzug nach Sausalito bei einem Schulfest für sie gewonnen hat. Es ist ein weibliches Schwein, mit roten Wangen und einer Schleife auf dem Kopf.

»Ich kann nur an nichts anderes denken«, sagt sie. »Ich meine … Mein Vater ist keiner, der es kompliziert macht. Jedenfalls nicht mit mir. Also erklär mir, was er mit dieser Nachricht gemeint hat.«

»Was meinst du genau?«

»Du weißt, worauf es mir ankommt … Was soll das überhaupt bedeuten?«

»Ich glaube, er meint, dass du weißt, wie sehr er dich liebt«, sage ich. »Und dass er ein guter Mann ist, egal, was die Leute über ihn sagen.«

»Nein, das ist es nicht«, sagt sie. »Er hat etwas anderes gemeint. Ich kenne ihn. Ich weiß, dass er damit irgendetwas sagen wollte.«

»Okay …« Ich hole tief Luft. »Zum Beispiel?«

Aber sie schüttelt den Kopf. Sie ist schon beim nächsten Punkt.

»Und was soll ich mit dem ganzen Geld anfangen? Dem Geld, das er mir dagelassen hat?«, fragt sie. »Solche Summen lassen Leute zurück, die nie wieder auftauchen.«

Sie erwischt mich auf dem falschen Fuß. »Dein Vater kommt zurück!«, platzt es aus mir heraus.

Ihre Miene verrät Zweifel. »Woher willst du das wissen?«

Ich suche nach einer tröstlichen Antwort. Zum Glück fühlen sich meine Worte wie die Wahrheit an. »Weil du hier bist.«

»Warum ist er dann nicht hier? Warum ist er einfach so abgehauen?«

Ich habe das Gefühl, dass sie eigentlich keine Antwort erwartet. Sie wirkt, als warte sie nur darauf, dass ich etwas sage, für das sie mich angreifen kann. Es macht mich wütend, dass Owen mich in diese Situation gebracht hat, aus welchem Grund auch immer. Natürlich kann ich mir einreden, dass er letztlich gute Absichten hatte, dass er – wo immer er sein mag – nur versucht, Bailey zu schützen. Trotzdem hocke ich hier ohne ihn. Macht mich das nicht zu einer ebenso lächerlichen Figur wie meine Mutter? Bin ich jetzt nicht genauso wie sie? Wir beide setzen alles auf eine einzige Person – und nennen es dann Liebe. Aber welchen Sinn hat die Liebe, wenn man am Ende so dasteht?

»Hör mal«, sage ich. »Wir können gern später darüber reden, aber jetzt solltest du dich wohl für die Schule fertig machen.«

»Für die Schule?« Sie schaut mich ungläubig an. »Ist das dein Ernst?«

Wahrscheinlich hat sie recht. Was für eine beschissene Bemerkung. Aber wie kann ich ihr sagen, was mir wirklich durch den Kopf geht? Dass ich ihren Vater Dutzende Male angerufen habe, dass ich nicht weiß, wo er ist. Und dass ich nicht die leiseste Ahnung habe, wann er zu uns zurückkommt.

Bailey steigt aus dem Bett, geht ins Bad und macht sich für den schrecklichen Tag bereit, der ihr bevorsteht. Der uns bevorsteht. Ich bin kurz davor, sie zurückzuhalten und ihr zu sagen, sie soll wieder ins Bett kommen. Aber dabei ginge es mehr um meine Bedürfnisse. Ist es für sie nicht am besten, aus dem Haus zu kommen? Zur Schule zu gehen? Für fünf Minuten nicht an ihren Vater zu denken?

Beschütze sie.

»Ich fahre dich hin«, sage ich. »Ich will nicht, dass du heute allein zur Schule gehst.«

»Wie du willst«, sagt sie.

Anscheinend ist sie zu müde zum Streiten. Wenigstens etwas.

»Ich bin sicher, dass wir bald von deinem Vater hören«, sage ich. »Und dann wird alles ein bisschen klarer werden.«

»Oh, du bist dir sicher? Wow, da bin ich erleichtert.«

Ihr Sarkasmus kann nicht verbergen, wie fertig sie ist, wie allein sie sich fühlt. In diesem Moment vermisse ich meinen Großvater, der genau wüsste, was zu tun wäre, damit Bailey sich ein bisschen besser fühlt. Er wüsste, was sie braucht, würde ihr das Gefühl geben, in einer Situation wie dieser geliebt zu sein. Vertrauen haben zu können. So wie er es mir vermittelt hat. Wie viele Monate war meine Mutter schon verschwunden, als er mich oben in meinem Zimmer bei dem Versuch entdeckte, ihr einen Brief zu schreiben? Um sie zu fragen, warum sie mich alleingelassen hatte.

Ich war traurig und wütend und verängstigt. Und ich werde nie vergessen, was er getan hat. Er trug seinen Overall und seine dicken Arbeitshandschuhe – lila und robust. Er hatte sie erst kürzlich gekauft und extra in Lila anfertigen lassen, weil das meine Lieblingsfarbe war. Er zog sie aus, setzte sich zu mir auf den Boden und half mir, den Brief zu Ende zu schreiben, genau nach meinen Vorstellungen. Ohne sich einzumischen. Er half mir beim Buchstabieren von Wörtern, bei denen ich Schwierigkeiten hatte. Er wartete, während ich nach einem passenden Ende suchte. Dann las er den ganzen Brief laut vor, damit ich ihn hören konnte, und hielt inne, als er zu dem Satz kam, in dem ich meine Mutter fragte, warum sie mich verlassen hatte. Vielleicht ist das nicht die Frage, die wir stellen sollten, sagte er. Vielleicht sollten wir uns auch fragen, ob wir es tatsächlich anders wollen würden. Wir sollten uns fragen, ob sie uns auf ihre Art vielleicht einen Gefallen getan hat … Ich sah ihn an und begriff langsam, worauf er auf seine sanfte Art hinauswollte. Denn letztlich hat das, was deine Mutter getan hat, mir dich beschert.

Etwas Großmütigeres hätte er gar nicht sagen können. Etwas Großmütigeres und Tröstlicheres. Was würde er in diesem Moment zu Bailey sagen? Und wann lerne ich es, auch solche Dinge zu sagen?

»Na ja, ich gebe mir Mühe, Bailey«, sage ich. »Es tut mir leid. Ich weiß, dass ich ständig die falschen Sachen zu dir sage.«

»Gut«, sagt sie, als sie die Badezimmertür hinter sich schließt. »Wenigstens kriegst du es mit.«