I ch gehe nur kurz ins Haus, um mir Owens Laptop zu schnappen.
Ich werde nicht hier herumsitzen und mir über alles den Kopf zerbrechen, was Brady gesagt hat. Über all die Dinge, die er wahrscheinlich nicht gesagt hat und die mir noch größere Sorgen bereiten. Woher weiß er so viel über Owen? Vielleicht war Avett nicht der Einzige, den sie ein gutes Jahr lang im Auge behalten haben. Vielleicht hat Grady auch nur deshalb den netten Kerl gespielt – mir Hilfe angeboten und Unterstützung bei Baileys Sorgerecht zugesichert –, um mich aufs Glatteis zu führen und mich dazu zu bringen, etwas zu verraten, von dem Owen nicht will, dass er es erfährt.
Habe ich mich von Grady um den Finger wickeln lassen? Ich glaube nicht. Aber ich will es auch in Zukunft nicht riskieren, weder bei Grady noch bei jemand anderem. Zuerst muss ich rausfinden, was mit Owen ist.
Am Kai halte ich mich nach links, in Richtung meiner Werkstatt.
Unterwegs muss ich bei Owens Freund vorbeischauen. Nicht, dass ich besondere Lust dazu hätte, aber wenn irgendjemand weiß, wie Owen tickt und was mir möglicherweise entgangen ist, dann Carl.
Carl Conrad: Owens engster Freund in Sausalito. Und einer der wenigen Menschen, über den Owen und ich unterschiedlicher Meinung sind. Owen meint, ich gebe ihm keine faire Chance, und vielleicht hat er recht. Carl ist witzig und klug und hat mich gleich nach meinem Umzug nach Sausalito mit offenen Armen empfangen. Allerdings betrügt er auch regelmäßig seine Frau Patricia, und das ist mir unsympathisch. Es ist auch Owen unsympathisch, aber er sagt, er sei in der Lage, darüber hinwegzusehen, weil Carl ihm ein guter Freund ist.
So ist Owen. Er schaut bei dem ersten Freund, den er in Sausalito gewonnen hat, nur auf das Positive. So tickt mein Mann. Aber vielleicht hat er bei Carl auch aus anderen Gründen über die negativen Seiten hinweggesehen. Vielleicht hat Carl ihm auch einen Gefallen getan und über ein Geheimnis hinweggesehen, das Owen ihm anvertraut hat.
Selbst wenn ich mit dieser Theorie danebenliege, muss ich mit Carl reden.
Denn Carl ist auch der einzige Anwalt in der Stadt, den ich kenne.
Ich klopfe an die Haustür, aber niemand macht auf. Weder Carl noch Patty.
Das ist seltsam, weil Carl zu Hause arbeitet. Er ist wegen der Kinder gern zu Hause – sie haben zwei kleine Kinder, die um diese Zeit normalerweise schlafen. Carl und Patty achten pedantisch auf den Tagesplan ihres Nachwuchses. Patty hat mir einen Vortrag darüber gehalten, als wir das erste Mal zusammen ausgegangen sind. Patty hatte gerade ihren achtundzwanzigsten Geburtstag gefeiert, was den Vortrag noch vergnüglicher machte. Falls ich noch in der Lage wäre, Kinder zu bekommen – so hat sie sich ausgedrückt –, müsste ich gut darauf aufpassen, mich nicht von ihnen herumkommandieren zu lassen. Ich müsste ihnen zeigen, wer das Sagen hat. Und das ginge nur mit einem festen Tagesplan. Für sie hieß das unter anderem: täglicher Mittagsschlaf um 12:30 Uhr.
Es ist 12:45 Uhr. Falls Carl nicht zu Hause ist, müsste doch zumindest Patty hier sein.
Ich schaue durch das Rollo im Wohnzimmer und entdecke Carl. Ich sehe ihn dort stehen, er versteckt sich hinter dem Rollo und wartet, dass ich gehe.
Wieder klopfe ich, dann drücke ich ausgiebig auf die Klingel. Wenn er nicht aufmacht, klingele ich den ganzen Nachmittag. Zum Teufel mit dem Mittagsschlaf.
Carl reißt die Tür auf. Er hält ein Bier in der Hand und ist ordentlich gekämmt. Zwei Indikatoren dafür, dass etwas nicht stimmt. Normalerweise ist er ungekämmt, vermutlich glaubt er, dadurch sexy zu wirken. In seinem Blick entdecke ich eine seltsame Mischung aus Unruhe, Angst und noch etwas anderem, das ich nicht benennen kann. Wahrscheinlich bin ich zu schockiert darüber, dass er sich vor mir versteckt hat.
»Was soll das, Carl?«, sage ich.
»Hannah, du musst gehen«, erwidert er.
Er ist wütend. Warum ist er wütend?
»Es dauert nicht lange.«
»Jetzt nicht, ich kann jetzt nicht reden«, sagt er.
Er will die Tür schließen, aber ich drücke dagegen. Meine Kraft überrascht uns beide, er lässt die Tür los, sie öffnet sich noch weiter.
In diesem Moment entdecke ich Patty. Sie steht in der Wohnzimmertür und hält ihre Tochter Sarah auf dem Arm. Beide tragen zueinander passende Paisley-Kleider, beide haben ihre dunklen Haare zu lockeren Zöpfen geflochten. Die identischen Kleider und Frisuren unterstreichen, was Patty den Leuten vorführen will, wenn sie Sarah sehen: eine vorzeigbare, kleinere Kopie von sich selbst.
Hinter ihnen im Wohnzimmer sehen ein Dutzend Eltern und Kleinkinder dabei zu, wie ein Clown aus Ballons Tiere macht. Ein HAPPY -BIRTHDAY -SARAH -Banner hängt über ihren Köpfen.
Sie feiern Sarahs zweiten Geburtstag, ich hatte es total vergessen. Owen und ich waren eingeladen. Und jetzt macht Carl nicht mal die Tür auf.
Patty begrüßt mich mit einem fahrigen Winken. »Hallo …«
Ich winke zurück. »Hi.«
Carl wendet sich mit kontrollierter, aber fester Stimme an mich. »Wir reden später«, sagt er.
»Ich hab’s vergessen, Carl. Es tut mir so leid.« Ich schüttele den Kopf. »Ich wollte nicht während ihrer Party kommen.«
»Vergiss es. Geh einfach.«
»Das tue ich, aber … Könntest du bitte kurz nach draußen kommen und ein paar Minuten mit mir reden? Ich würde dich nicht darum bitten, wenn es nicht dringend wäre. Ich glaube, ich brauche einen Anwalt. Bei The Shop ist etwas passiert.«
»Meinst du, das weiß ich nicht?«, fragt er.
»Warum willst du dann nicht mit mir sprechen?«
Ehe er antworten kann, tritt Patty auf uns zu und drückt Carl das Mädchen in die Arme. Dann küsst sie ihren Mann auf die Wange. Eine einzige Show. Für ihn. Für mich. Für die Gäste.
»Hi«, sagt sie und küsst auch mich auf die Wange. »Schön, dass du kommen konntest.«
Ich spreche mit leiser Stimme. »Patty, tut mir leid, dass ich in die Party reinplatze, aber mit Owen ist etwas passiert.«
»Carl«, sagt Patty. »Lass alle in den Garten gehen, okay? Es ist Zeit für die Eisbecher!«
Sie schaut zu den Gästen hinüber und schenkt ihnen ein strahlendes Lächeln.
»Geht alle mit Carl nach draußen. Sie auch, Mr. Silly«, sagt sie zu dem Clown. »Es gibt Eis!«
Dann erst dreht sie sich wieder zu mir um. »Lass uns hier draußen reden, ja?«
Ich setze zu einer Erklärung an, dass Carl derjenige ist, mit dem ich sprechen muss, Carl, der gerade mit Sarah auf dem Arm in den Garten verschwindet. Aber Patty drängt mich auf die Veranda vor dem Haus. Sie schließt die dicke rote Tür, und ich fühle mich schon wieder abgewiesen.
Jetzt, wo wir allein auf der Veranda stehen, wirft Patty mir einen flammenden Blick zu. Ihr Lächeln ist wie weggewischt.
»Wie kannst du es wagen, hier aufzutauchen?«, sagt sie.
»Ich hatte die Party vergessen.«
»Scheiß auf die Party«, sagt sie. »Owen hat Carl das Herz gebrochen.«
»Das Herz gebrochen … wie denn das?«
»Tja, keine Ahnung. Vielleicht hat es damit zu tun, dass er unser ganzes verdammtes Geld gestohlen hat?«
»Wovon redest du eigentlich?«, frage ich.
»Hat Owen dir nicht gesagt, dass er uns davon überzeugt hat, Aktien von The Shop zu zeichnen? Er hat Carl vom Potenzial der Software vorgeschwärmt und von den riesigen Gewinnen. Leider hat er vergessen zu erwähnen, dass die Software nicht funktioniert.«
»Patty, ich …«
»Unser ganzes Geld ist jetzt in The-Shop-Aktien angelegt. Der Rest unseres Geldes, sollte ich sagen, denn als ich das letzte Mal nachgesehen habe, stand der Aktienkurs bei dreizehn Cent.«
»Wir haben auch darin investiert. Hätte Owen das wohl gemacht, wenn er Bescheid gewusst hätte?«
»Vielleicht hat er geglaubt, er würde nicht erwischt. Vielleicht ist er auch ein dämlicher Volltrottel, dazu kann ich nichts sagen. Aber ich kann dir versprechen, dass ich die Polizei rufe, wenn du nicht auf der Stelle mein Grundstück verlässt. Das ist kein Witz, du bist hier nicht willkommen.«
»Ich verstehe, dass du wütend auf Owen bist, wirklich. Aber Carl könnte mir helfen, ihn zu finden, und das wäre der schnellste Weg, die ganze Sache zu klären.«
»Solange du nicht kommst, um das College für unsere Kinder zu finanzieren, haben wir nichts mit dir zu besprechen.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, aber irgendwas muss ich sagen, bevor sie wieder ins Haus geht. Nachdem ich Carl gesehen habe, diesen seltsamen Blick eben, werde ich das Gefühl nicht los, dass er vermutlich etwas weiß.
»Patty, kannst du bitte einen Moment die Luft anhalten?«, sage ich. »Ich tappe auch im Dunkeln. Genau wie du.«
»Dein Mann hat bei einem Fünfhundert-Millionen-Dollar-Betrug geholfen«, sagt sie. »Ich bin nicht so sicher, ob ich dir glauben kann. Aber wenn du die Wahrheit sagst, bist du die größte Idiotin aller Zeiten, weil du deinen Mann kein bisschen kennst.«
Wahrscheinlich wäre es nicht der richtige Zeitpunkt, ihr zu sagen, dass sie in dieser Disziplin mühelos mithalten kann. Ihr Mann geht in regelmäßigen Abständen mit seiner Kollegin ins Bett, seit Pattys Schwangerschaft mit dem Kind, das Mr. Silly gerade zum Lachen bringt. Vielleicht sind wir auf die eine oder andere Art alle Idioten, wenn es darum geht, die Menschen, die uns lieben, mit allen Facetten zu erkennen – die Menschen, die wir zu lieben versuchen.
»Erwartest du wirklich, dass ich glaube, du hättest keine Ahnung gehabt?« Sie wirft mir einen zweifelnden Blick zu.
»Warum müsste ich sonst herkommen, um nach Erklärungen zu suchen?«
Nachdenklich neigt sie den Kopf. Vielleicht dringen meine Worte zu ihr durch, vielleicht kommt sie aber auch zu dem Schluss, dass es nicht ihr Problem ist. Immerhin wird ihre Miene weicher.
»Geh nach Hause zu Bailey«, sagt sie. »Geh einfach. Sie wird dich jetzt brauchen.«
Sie geht zur Haustür, dreht sich aber noch einmal um.
»Oh. Und wenn du mit Owen sprichst, sag ihm, er kann mich mal.«
Dann schließt sie die Tür.
*
Auf dem Weg zu meiner Werkstatt beeile ich mich.
Mit gesenktem Kopf biege ich in die Litho Street und gehe an LeAnn Sullivans Haus vorbei. Ich registriere, dass sie und ihr Mann auf der Veranda sitzen und ihre nachmittägliche Limonade trinken. Aber ich tue so, als wäre ich mit meinem Handy beschäftigt. Ich bleibe nicht wie sonst einen Moment stehen, um Hallo zu sagen. Um ein Glas mit ihnen zu trinken.
Als Werkstatt benutze ich ein Haus gleich nebenan. Es hat zweihundertsechzig Quadratmeter und einen riesigen Garten. Von so etwas hätte ich in New York nur träumen können. Jedes Mal, wenn ich mit der U-Bahn zum Lagerhaus meiner Freundin in die Bronx gefahren bin, um an Objekten zu arbeiten, die zu groß für meine Werkstatt in der Greene Street waren, habe ich tatsächlich von so etwas geträumt.
Sobald ich durch das Tor zum Vorgarten trete und es hinter mir schließe, entspanne ich mich ein wenig. Aber statt direkt ins Haus zu gehen, nehme ich den Weg seitlich herum in den Garten. Ich betrete die schmale Terrasse, auf der ich am liebsten meinen Bürokram erledige. Dort klappe ich Owens Laptop auf und schiebe jeden Gedanken an Grady Bradford beiseite. Ich schiebe Pattys Zorn beiseite. Und ignoriere, dass Carl mich nicht mal ansehen, geschweige denn mir irgendetwas verraten wollte. Auf gewisse Weise hilft mir das Wissen, dass ich mich ganz allein darum kümmern muss, mich zu sammeln. Und es beruhigt mich, von meinen Gegenständen, von meiner Arbeit umgeben zu sein. An meinem Lieblingsplatz in Sausalito. Fast kommt es mir normal vor, dass ich mich am privaten Computer meines Mannes zu schaffen mache.
Der Laptop fährt hoch, und ich gebe Owens Passwort ein. So weit entdecke ich nichts Ungewöhnliches. Ich klicke auf seinen BILDER -Ordner, in dem sich alles um Bailey dreht. Hunderte Fotos aus ihrer Grund- und Mittelschulzeit. Bilder von jeder einzelnen Familienfeier, angefangen mit Baileys fünftem Geburtstag in Sausalito. Ich habe sie alle schon oft gesehen. Owen konnte gar nicht mit Erzählungen aus den Phasen ihres Lebens aufhören, die ich verpasst habe: die kleine Bailey bei ihrem ersten Fußballspiel, in dem sie keine gute Figur gemacht hat; die kleine Bailey in ihrer ersten Rolle bei einer Schulaufführung (Anything Goes ), in der sie toll war.
Viele Fotos aus der Zeit, als Bailey noch ganz klein war und sie in Seattle wohnten, finde ich nicht, jedenfalls nicht im Hauptordner.
Also klicke ich auf einen kleinen Unterordner mit dem Namen O. M.
Hier liegen die Fotos von Olivia Michaels, Owens erster Frau. Baileys Mutter.
Olivia Michaels, geborene Nelson: Biologielehrerin an einer Highschool, Synchronschwimmerin, die wie Owen in Princeton studiert hat. Auch in diesem Ordner gibt es nur eine Handvoll Bilder. Owen hat einmal gesagt, Olivia habe es gehasst, fotografiert zu werden. Die wenigen Aufnahmen, die er von ihr hat, sind allerdings wunderschön, wahrscheinlich deshalb, weil sie wunderschön war. Groß und schlank, rote, bis zur Mitte des Rückens fallende Haare und ein auffälliges Grübchen, mit dem sie aussah, als wäre sie immer noch sechzehn.
Wir sehen uns nicht besonders ähnlich – vor allem war sie hübscher, wirkte interessanter. Aber wenn man einige Details außer Acht lässt, kann man von einem gemeinsamen Typ sprechen. Die Größe, die langen Haare (meine sind blond, nicht rot), vielleicht sogar das Lächeln. Als Owen mir zum ersten Mal ein Foto von ihr gezeigt hat, habe ich eine Bemerkung über die Ähnlichkeiten gemacht. Owen behauptete, er würde sie nicht sehen. Er reagierte nicht direkt abweisend, erklärte aber, dass ich, wenn ich seiner ersten Frau je persönlich begegnet wäre, keine großen Übereinstimmungen festgestellt hätte.
Ich wunderte mich damals auch, dass ich auf den Fotos von Olivia so wenige Züge von Bailey entdeckt habe – mit Ausnahme meines Lieblingsbilds von Olivia: Sie sitzt auf einem Pier, trägt Jeans und ein weißes Button-down-Hemd. Ihre Hand liegt an der Wange, sie wirft beim Lachen den Kopf zurück. Die Gesichtsfarbe ist anders, aber ihr Lachen erinnert deutlich an das ihrer Tochter – vielleicht sogar an Bailey als Person. Nichts bringt deutlicher als dieses Bild zum Ausdruck, dass es in Baileys Leben außer Owen noch jemanden gegeben hat.
Ich strecke die Hand aus und berühre den Bildschirm. Ich würde sie gern fragen, was ich bei ihrer Tochter übersehe, bei unserem Ehemann. Mit großer Wahrscheinlichkeit wüsste sie es besser als ich, was mir ungerecht vorkommt.
Ich atme tief ein und klicke auf einen Ordner mit der Bezeichnung THE SHOP . Er enthält fünfundfünfzig Dokumente voller Programmiersprache und HTML -Codes. Falls in diesen Codes ein weiterer Code verborgen ist, werde ich ihn sicher nicht finden. Ich notiere mir, dass ich jemanden fragen muss.
Merkwürdigerweise enthält der Ordner auch ein Dokument mit dem Titel AKTUELLSTES TESTAMENT . Es ist kein schönes Gefühl, es hier zu finden, aber als ich es öffne, entspanne ich mich. Das Testament ist mit einem Datum kurz nach unserer Hochzeit versehen. Er hat es mir einmal gezeigt. Und nichts hat sich geändert. Fast nichts. Auf der letzten Seite, gleich über Owens Unterschrift, entdecke ich eine kleine Notiz. War sie schon immer da, und ich habe sie nur übersehen? Sie benennt seinen Testamentsvollstrecker, einen oder eine L. Paul, keine Adresse oder Telefonnummer. Ich habe den Namen noch nie gehört.
L. Paul. Wer ist diese Person – und wo ist mir der Name schon einmal untergekommen?
Ich notiere mir den Namen L. Paul, als ich plötzlich eine Frauenstimme hinter mir höre.
»Haben Sie etwas Interessantes entdeckt?«
Ich drehe mich um und sehe eine ältere Frau und einen Mann am Rand meines Gartens stehen. Sie trägt einen marineblauen Hosenanzug und hat die grauen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Der Mann ist weniger förmlich gekleidet, er trägt ein knittriges Hawaiihemd, hat schwere Lider und einen dichten Bart, der ihn älter als die Frau aussehen lässt, obwohl ich das Gefühl habe, er ist eher in meinem Alter.
»Was machen Sie hier?«, frage ich.
»Wir haben an der Haustür geklingelt«, sagt der Mann. »Sind Sie Hannah Hall?«
»Ich hätte gern eine bessere Antwort auf die Frage, warum Sie ohne Erlaubnis mein Grundstück betreten«, sage ich.
»Ich bin Special Agent Jeremy O’Mackey vom Federal Bureau of Investigation. Meine Kollegin hier ist Special Agent Naomi Wu«, erklärt er.
»Nennen Sie mich Naomi. Wir haben gehofft, mit Ihnen reden zu können.«
Instinktiv klappe ich den Laptop zu. »Eigentlich passt es jetzt nicht«, sage ich.
Sie schenkt mir ein zuckersüßes Lächeln. »Es dauert nur ein paar Minuten«, erwidert sie. »Dann sind Sie uns los.«
Sie kommen bereits die Stufen zur Terrasse hoch und setzen sich auf die Stühle auf der anderen Seite des kleinen Tischs.
Naomi schiebt mir ihre Dienstmarke herüber, Agent O’Mackey folgt ihrem Beispiel.
»Ich hoffe, wir stören Sie nicht bei etwas Wichtigem«, sagt Naomi.
»Ich hoffe, Sie sind mir nicht hierhergefolgt, das hoffe ich wirklich«, entgegne ich.
Naomi mustert mich und wirkt mehr als nur ein bisschen überrascht angesichts meines Tons. Ich bin zu gereizt, um mich darum zu scheren. Ich bin gereizt und habe Angst, sie könnten mir Owens Computer wegnehmen, bevor ich ihm seine möglichen Geheimnisse entlockt habe.
Und da ist noch etwas anderes. Ich denke an Grady Bradfords Warnung: Beantworten Sie keine Fragen, von denen Sie denken, Sie sollten lieber nichts dazu sagen. Ich nehme mir vor, seinen Hinweis zu beherzigen.
Jeremy O’Mackey beugt sich vor und nimmt seine Marke an sich.
»Ich nehme an, Sie wissen, dass wir gegen die Technologiefirma ermitteln, in der Ihr Mann arbeitet?«, sagt er. »Wir dachten, Sie könnten uns vielleicht etwas über seinen derzeitigen Aufenthaltsort sagen.«
Ich nehme den Computer auf meinen Schoß, will ihn beschützen.
»Das würde ich gern, aber ich habe keine Ahnung, wo mein Mann gerade ist. Ich habe ihn seit gestern nicht gesehen.«
»Ist das nicht seltsam?«, sagt Naomi, als wäre ihr der Gedanke gerade erst gekommen. »Dass Sie ihn die ganze Zeit nicht gesehen haben?«
Ich sehe ihr in die Augen. »Doch, sehr.«
»Würde es Sie überraschen, wenn ich Ihnen sage, dass Ihr Mann seit gestern weder sein Mobiltelefon noch eine seiner Kreditkarten benutzt hat? Er ist völlig abgetaucht.«
Darauf sage ich nichts.
»Können Sie sich einen Grund dafür vorstellen?«, fragt O’Mackey.
Es gefällt mir nicht, wie sie mich anschauen – als seien sie bereits zu dem Schluss gelangt, dass ich ihnen etwas verschweige. Was mich unnötigerweise einmal mehr daran erinnert, dass es leider nicht so ist.
Naomi zieht ein Notizbuch aus der Tasche und schlägt es auf.
»Ist es richtig, dass Sie in einer geschäftlichen Beziehung zu Avett und Belle Thompson stehen?«, fragt sie. »Die beiden haben über die letzten fünf Jahre verteilt für insgesamt einhundertfünfundfünzigtausend Dollar Möbelstücke von Ihnen gekauft?«
»Ich kann Ihnen nicht aus dem Kopf sagen, ob die Summe stimmt, aber sie gehören zu meinen Kunden, ja.«
»Haben Sie nach Avetts gestriger Festnahme mit Belle gesprochen?«, fragt Naomi.
Ich muss an die Nachrichten denken, die ich auf ihrer Mailbox hinterlassen habe und auf die sie nicht reagiert hat. Verneinend schüttele ich den Kopf.
»Sie hat Sie also nicht angerufen?«, fragt O’Mackey.
»Nein«, sage ich.
Nachdenklich neigt Naomi den Kopf. »Sind Sie da sicher?«
»Ja, ich weiß durchaus, mit wem ich gesprochen habe und mit wem nicht.«
Sie beugt sich vertraulich vor, als wäre sie meine Freundin. »Wir wollen nur sicher sein, dass Sie uns alles sagen. Im Gegensatz zu Ihrer Freundin Belle.«
»Was soll das heißen?«
»Sagen wir einfach, ihre Unschuldsbeteuerungen klangen nicht besonders glaubhaft, nachdem sie vorher vier Flüge von verschiedenen kalifornischen Flughäfen nach Sydney gebucht hatte, um das Land unbemerkt zu verlassen. So etwas klingt nicht nach Ich weiß von nichts , oder?«
Ich gebe mir Mühe, keine Reaktion zu zeigen. Was läuft hier? Avett sitzt im Gefängnis, Belle versucht, in ihre frühere Heimat zu flüchten, und Owen ist spurlos verschwunden. Der kluge Owen, der praktisch immer den Durchblick hat. Kann ich wirklich glauben, dass er nichts von alldem bemerkt hat?
»Hat Belle mit Ihnen über die Firma ihres Mannes gesprochen?«, fragt Naomi.
»Sie hat mir gegenüber kein Wort über Avetts Arbeit verloren«, sage ich. »Es hat sie einfach nicht interessiert.«
»Genau das hat sie uns auch gesagt.«
»Wo ist Belle jetzt?«
»In ihrem Haus in St. Helena. Ihr Reisepass liegt bei ihrem Anwalt. Sie bleibt dabei, dass die Vorstellung, ihr Mann könne diese Verbrechen begangen haben, sie schockiert«, sagt O’Mackey. Nach einer kurzen Pause fährt er fort: »Aber nach unserer Erfahrung weiß die Ehefrau normalerweise Bescheid.«
»Diese Ehefrau hier nicht.«
Naomi wischt meinen Einwand beiseite. »Wenn Sie ganz sicher sind … Jedenfalls muss sich jemand um Owens Tochter kümmern.«
»Das tue ich.«
»Gut«, sagt sie. »Gut.«
Es klingt nach einer Drohung. Und ich höre, was sie demonstrativ nicht ausspricht. Höre die Andeutung, dass man mir Bailey wegnehmen könnte. Hat Grady mir nicht zugesichert, dass es nicht dazu kommt?
»Mit Bailey müssen wir auch sprechen«, sagt O’Mackey. »Wenn sie heute aus der Schule kommt.«
»Das werden Sie nicht«, erwidere ich. »Sie weiß nicht, wo ihr Vater ist. Ich will, dass sie in Ruhe gelassen wird.«
»Ich fürchte, das haben Sie nicht zu entscheiden«, gibt O’Mackey im selben aggressiven Ton zurück. »Wir können uns jetzt auf eine Uhrzeit einigen oder einfach heute Abend bei Ihnen vor der Tür stehen.«
»Wir haben uns einen Rechtsbeistand genommen«, sage ich. »Wenn Sie mit Bailey sprechen wollen, müssen Sie erst Kontakt mit unserem Anwalt aufnehmen.«
»Wie heißt Ihr Anwalt?«, fragt Naomi.
Ich spreche den Namen aus, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. »Jake Anderson. Seine Kanzlei ist in New York.«
»Prima. Bitten Sie ihn, sich bei uns zu melden«, sagt sie.
Ich nicke und suche nach einer Möglichkeit, die Situation zu entschärfen. Ich will auf keinen Fall riskieren, Gradys Versprechen von heute Morgen aufs Spiel zu setzen. Das ist das Wichtigste.
»Hören Sie, ich weiß, dass Sie nur Ihre Arbeit machen«, sage ich. »Aber ich bin müde. Und wie ich schon dem U.S. Marshal heute Morgen erklärt habe, kann ich Ihnen nicht viel sagen.«
»Langsam … langsam. Wie bitte?«, fährt O’Mackey auf.
Ich sehe ihn und die nicht mehr lächelnde Naomi an.
»Der U.S. Marshal, der mich heute Morgen besucht hat. Wir sind das alles schon durchgegangen.«
Sie tauschen einen Blick. »Wie hieß er?«, fragt O’Mackey.
»Der U.S. Marshal?«
»Ja«, sagt er. »Wie hieß der U.S. Marshal?«
Naomi schaut mich mit zusammengekniffenem Mund an, als habe das Spiel eine Wendung genommen, auf die sie nicht vorbereitet war. Deshalb beschließe ich, nicht die Wahrheit zu sagen.
»Ich weiß nicht mehr.«
»Sie erinnern sich nicht an seinen Namen?«
Ich schweige.
»Sie erinnern sich nicht an den Namen des U.S. Marshals, der heute Morgen bei Ihnen vor der Tür stand. Und das soll ich Ihnen glauben?«
»Ich habe letzte Nacht kaum geschlafen und bin ein bisschen durcheinander.«
»Aber Sie wissen noch, ob er Ihnen seine Dienstmarke gezeigt hat?«
»Ja, das hat er.«
»Wissen Sie, wie die Dienstmarke eines U.S. Marshals aussieht?«, fragt Naomi.
»Sollte ich das? Ich weiß auch nicht, wie eine FBI -Dienstmarke aussieht, wenn wir schon dabei sind. Wahrscheinlich sollte ich mich vergewissern, dass Sie beide diejenigen sind, für die Sie sich ausgeben. Danach können wir das Gespräch gern fortsetzen.«
»Wir sind nur ein bisschen verwirrt, weil dieser Fall nicht im Zuständigkeitsbereich des U.S. Marshals Service liegt«, sagt sie. »Deshalb müssen wir erfahren, mit wem genau Sie heute Morgen gesprochen haben. Ohne unsere Einwilligung hätte niemand mit Ihnen reden dürfen. Hat er irgendwelche Drohungen gegen Owen ausgesprochen? Denn Sie sollten wissen, dass Owen, falls seine Beteiligung nur geringfügig war, seine Lage verbessern könnte, wenn er gegen Avett aussagt.«
»Das ist richtig«, sagt O’Mackey. »Noch gilt er nicht mal als Verdächtiger.«
»Noch?«, hake ich nach.
»Er hat nicht ›noch‹ gemeint«, sagt Naomi.
»Ich habe nicht ›noch‹ gemeint«, versichert O’Mackey. »Ich wollte sagen, dass es keinen Grund gibt, warum Sie mit einem U.S. Marshal sprechen sollten.«
»Schon komisch, Agent O’Mackey, er hat über Sie dasselbe gesagt.«
»Tatsächlich?«
Naomi zwingt sich zu einem Lächeln. »Lassen Sie uns noch mal von vorn beginnen«, sagt sie. »Wir gehören alle zum selben Team. Aber in Zukunft sollten Sie vielleicht Ihren Anwalt hinzuziehen, wenn plötzlich jemand bei Ihnen vor der Tür steht.«
Ich erwidere ihr Lächeln. »Eine sehr gute Idee, Naomi. Und damit werde ich sofort anfangen.«
Dann deute ich zu den Stufen und warte, bis sie verschwunden sind.