WER BRAUCHT EINEN FREMDENFÜHRER?
I ch kringele die Kirchen auf der Karte ein, und wir verlassen das Stadion durch einen anderen Ausgang. Wir gehen die Treppe hinunter und kommen an einer Statue zu Ehren der Longhorn Band vorbei – der im Jahr 1900 gegründeten Showband der Universität. Gleich dahinter liegt das Ehemaligenzentrum.
»Warte mal«, sagt Bailey. »Einen Moment …«
Ich drehe mich um. »Was ist?«
Sie schaut am Gebäude hoch, mustert die Aufschrift: THE HOME OF THE TEXAS -EXES .
Dann dreht sie sich zum Stadion um. »Das kommt mir bekannt vor«, sagt sie.
»Ja, es sieht fast genauso aus wie am anderen Eingang …«
»Nein, das alles hier, meine ich. Dieser Teil des Campus kommt mir bekannt vor. Als wäre ich schon mehrmals hier gewesen. Es fühlt sich vertraut an.«
Aufmerksam schaut sie sich um.
»Ich muss mich orientieren«, erklärt sie. »Ich muss rauskriegen, warum es mir hier bekannt vorkommt. Sind wir nicht deswegen hier? Um etwas zu finden, was mir bekannt vorkommt?«
»Okay«, sage ich. »Lass dir Zeit.«
Ich versuche, sie zu ermutigen, auch wenn ich hier lieber keine Zeit verlieren würde. Ich will in die Kirchen, bevor sie für heute schließen. Ich will jemanden finden, mit dem wir reden können.
Doch ich bin still und konzentriere mich auf mein Handy. Falls Bailey tatsächlich einer Erinnerung auf der Spur ist und wir nicht aufs völlig falsche Pferd gesetzt haben, muss sie im Jahr 2008 hier gewesen sein, als Olivia noch gelebt hat. Im Jahr darauf sind Bailey und Owen nach Sausalito gezogen. Und in der Zeit vor 2008 war sie einfach zu klein, um sich noch erinnern zu können, an was auch immer.
Alles spricht für 2008, es sei denn, Bailey liegt völlig daneben. Ich suche nach dem Football-Spielplan. Nach den Heimspielen, die vor zwölf Jahren stattgefunden haben.
Gerade als ich die alten Spielpläne aufrufen will, klingelt mein Handy. Auf dem Display erscheint NUMMER UNTERDRÜCKT . Unsicher halte ich das Gerät in der Hand. Es könnte Owen sein. Aber Jake hat mir dringend geraten, keinen Anruf von einer unbekannten Nummer anzunehmen. Es kommt mir riskant vor. Wer weiß, wer der Anrufer ist und welche Schwierigkeiten mir drohen.
Bailey deutet auf mein Handy. »Gehst du ran? Oder starrst du es nur an?«
»Ich weiß noch nicht.«
Wenn es nun Owen ist? Wenn. Ich nehme das Gespräch an. Aber ich sage kein Wort, erst will ich hören, was der Anrufer zu sagen hat.
»Hallo? Hannah?«
Die Frau am anderen Ende hat eine hohe, leicht lispelnde, nervige Stimme. Ich erkenne sie.
»Belle«, sage ich.
»Oh, was für ein Schlamassel«, sagt sie. »Was für ein Skandal. Alles in Ordnung mit dir? Und wie geht es Owens Tochter?«
Belle versucht, nett zu sein, aber ich registriere, dass sie nicht »Bailey« sagt. Sie sagt »Owens Tochter«, weil sie sich an den Namen nicht erinnert. Sie hat sich nie die Mühe gemacht, ihn zu behalten.
»Sie haben das nicht gemacht, weißt du …«, sagt sie.
Sie.
»Belle, ich hab versucht, dich zu erreichen.«
»Ich weiß, ich weiß, du musst völlig neben dir stehen. Ich stehe selbst neben mir. Ich muss mich hier in St. Helena verkriechen wie eine gewöhnliche Kriminelle. Vor meiner Haustür kampieren die Kamerateams. Ich kann nicht mal raus. Meine Assistentin musste mir Brathühnchen und Schokoladensoufflés von Bouchon vorbeibringen, damit ich irgendwas zu essen habe. Wo bist du?«
Ich will ihr eine ausweichende Antwort geben, aber das ist nicht nötig. Belle will keine Antwort, sie will weiterreden.
»Ich meine, die ganze Sache ist doch lächerlich«, erklärt sie. »Avett ist Unternehmer, kein Verbrecher. Und Owen ist ein Genie, aber wem sage ich das. Ich meine, Herrgott noch mal, warum sollte Avett so etwas tun? Seine eigene Firma bestehlen? Das ist – was? – sein achtes Start-up. So spät in seiner beruflichen Laufbahn soll er plötzlich anfangen, den Börsenwert künstlich aufzublähen und zu lügen und zu stehlen? Oder was immer sie ihm vorwerfen? Also wirklich. Wir haben jetzt schon mehr Geld, als wir ausgeben können.«
Sie kämpft entschlossen und argumentiert mit Nachdruck. Aber das ändert nichts daran, dass sie etwas auslässt, dass sie sich weigert, bestimmte Dinge zu sehen. Avetts frühere Erfolge, verbunden mit einer gewissen Überheblichkeit, könnten genau der Grund sein, warum er ein Scheitern nicht akzeptieren will.
»Das Ganze ist ein abgekartetes Spiel, ich sag’s dir.«
»Und wer soll dahinterstecken, Belle?«
»Was weiß ich denn? Die Regierung? Ein Konkurrent? Vielleicht irgendein Dilettant, der sein Produkt als Erster auf den Markt bringen will. Das ist zumindest Avetts Theorie. Jedenfalls werden wir dagegen vorgehen. Avett hat zu lange zu hart gearbeitet, um sich am Ende wegen einer Buchhaltungspanne fertigmachen zu lassen.«
In diesem Moment höre ich in ihrer Stimme das, was andere Menschen – Patty, Carl, Naomi – wahrscheinlich in meiner hören. Das Durchgeknallte. Sie klingt durchgeknallt. Vielleicht ist das unausweichlich, wenn man den Boden unter den Füßen verliert: Man verliert die Orientierung, man schafft es nicht mehr, in den Ohren der anderen rational zu klingen.
»Sprichst du jetzt von einem abgekarteten Spiel oder von einem Buchhaltungsproblem?« Nach einer kurzen Pause fahre ich fort: »Oder willst du mir sagen, dass alle Schuld haben, nur Avett nicht?«
»Wie bitte?«
Sie ist wütend. Mir ist es egal. Ich habe keine Zeit für sie, denn inzwischen ist mir klar, dass sie irgendetwas von mir will. Und ich habe ihr nichts anzubieten.
Ich schaue zu Bailey hinüber, die mich mit fragendem Blick mustert: Warum klinge ich mit jedem Satz ärgerlicher? Was bedeutet das alles für ihren Vater?
»Ich muss Schluss machen«, sage ich.
»Warte einen Moment.« Jetzt ist der Punkt gekommen, an dem sie endlich über die Lippen bringt, was sie wirklich braucht.
»Avetts Anwälte können Owen nicht erreichen«, sagt sie. »Und wir wollen nur sichergehen, wir wollen nur Klarheit darüber haben … dass er nicht mit den Behörden spricht. Denn das wäre nicht besonders klug, für keinen von uns.«
»Wenn Avett nichts falsch gemacht hat, dürfte es doch egal sein, was Owen den Behörden sagt, oder?«
»Sei nicht naiv. So funktioniert es nicht«, sagt sie.
Ich sehe Belle beinahe vor mir, wie sie auf dem Hocker, den ich für sie gemacht habe, an ihrer Kücheninsel sitzt, ungläubig den Kopf schüttelt, wobei ihr die goldenen Creolen, die sie nie abnimmt, gegen die Kieferknochen schlagen.
»Wie funktioniert es denn?«
»Ähm … mit Tricks, mit erzwungenen Geständnissen. Ist Owen so dumm?« Nach kurzem Zögern fragt sie: »Spricht er mit der Polizei?«
Am liebsten würde ich sagen, ich weiß nur, dass er nicht mit mir spricht. Aber das geht Belle nichts an. Nichts geht sie etwas an. Wir sitzen nicht im selben Boot. Sie muss sich keine Sorgen um Avetts Sicherheit machen. Und in Wahrheit fragt sie sich auch nicht, ob die Behörden bei ihren Ermittlungen arglistig vorgehen oder ob Avett schuldig ist. Belle weiß, dass ihr Mann schuldig ist. Ihr geht es nur darum, alles Mögliche zu versuchen, damit er nicht dafür bezahlen muss.
Während meine Sorge darin besteht, wie ich verhindern kann, dass Bailey dafür bezahlt.
»Avetts Anwälte müssen sich so schnell wie möglich mit Owen besprechen, damit alle dieselbe Geschichte erzählen«, sagt Belle. »Wir hatten gehofft, du könntest uns dabei helfen. Wir müssen doch alle zusammenhalten.«
Ich antworte nicht.
»Hannah? Bist du noch dran?«
»Nein«, sage ich. »Bin ich nicht.«
Dann beende ich das Gespräch. Ich konzentriere mich wieder auf den alten Spielplan der UT -Austin-Footballmannschaft.
»Wer war das?«, fragt Bailey.
»Falsch verbunden.«
»Nennst du Belle neuerdings so?«
Ich hebe den Blick.
»Was soll das Versteckspiel?«, blafft sie mich an.
Sie ist wütend und hat Angst. Offenbar verstärkt mein Verhalten diese Gefühle noch, statt Bailey zu beruhigen.
»Ich versuche nur, dich wenigstens vor einem Teil dieser Geschichte zu beschützen«, sage ich.
»Aber das kannst du nicht. Das ist es ja. Keiner kann mich davor beschützen. Was hältst du davon, wenn du der Mensch bist, der mir die Wahrheit sagt?«
Plötzlich wirkt sie älter, als sie ist. Ihr Blick ist fest, die Lippen zusammengekniffen. Beschütze sie. Um diese eine Sache hat Owen mich gebeten. Um etwas absolut Unmögliches.
Ich nicke und weiche ihrem Blick nicht aus. Sie will, dass ich die Wahrheit sage, als wäre das so einfach. Aber vielleicht ist es tatsächlich nicht so kompliziert, wie ich glaube.
»Es war Belle. Im Prinzip hat sie mir bestätigt, dass Avett schuldig ist. Oder dass er zumindest etwas zu verbergen hat. Sie wirkt überrascht, dass Owen sich aus dem Staub gemacht hat, statt Avett dabei zu helfen, es zu vertuschen. Was mich wieder zu der Frage bringt, welche Geheimnisse dein Vater hat. Und warum.« Nach kurzer Pause füge ich hinzu: »Deshalb würde ich gern zu diesen Kirchen gehen und schauen, ob es irgendeinen Hinweis darauf gibt, warum er keine andere Wahl hatte, als uns zu verlassen. Ich möchte herausfinden, ob es nur um The Shop geht. Ich habe nämlich noch einen anderen Verdacht.«
»Und der wäre?«
»Dass er vor etwas wegläuft, das weiter in der Vergangenheit liegt«, sage ich. »Dass es dabei um ihn geht. Und um dich.«
Schweigend steht sie vor mir und verschränkt die Arme vor der Brust. Dann plötzlich lässt sie die Arme fallen und kommt ein kleines Stück näher.
»Also … Als ich dich gebeten hab, mir die Wahrheit zu sagen, meinte ich, dass du mir nichts darüber vorlügen sollst, wer dich gerade angerufen hast.«
»Bin ich zu weit gegangen?«
»Auf eine gute Art«, sagt sie.
Wahrscheinlich hat sie mir noch nie etwas Netteres gesagt.
»Na ja, ich wollte deinen Wunsch respektieren.«
»Danke.«
Dann nimmt sie mir die Karte aus der Hand und betrachtet sie konzentriert.
»Also los«, sagt sie.