DIESES SPIEL KÖNNEN ZWEI LEUTE SPIELEN

I ch warte bis zum Morgen, bevor ich ihn anrufe. Ich warte, bis ich mich so weit beruhigt habe, dass ich mich für die nächsten Schritte bereit fühle.

Dann sammle ich meine Notizen zusammen und werfe ein leichtes Sommerkleid über. Leise schließe ich die Zimmertür, um Bailey nicht zu wecken. Ich gehe hinunter, durchquere die belebte Lobby und trete vor die Tür, um auf dem Bürgersteig zu telefonieren, wo ich besser kontrollieren kann, welche Hintergrundgeräusche er zu hören bekommt.

Draußen ist es noch relativ ruhig, der See liegt still und friedlich da, auch wenn der Berufsverkehr schon in vollem Gange ist und die Pendler über die Congress Avenue Bridge fahren, um zu ihren Büros und den Schulen ihrer Kinder zu kommen und dann in ihren herrlich normalen Alltag zu starten.

Ich greife in die Tasche und ziehe die Serviette von Fred’s heraus, auf der Grady seine Handynummer notiert hat.

Ich schalte mein Handy ein. Vor der eigentlichen Telefonnummer wähle ich *67, in der Hoffnung, dass dadurch die Rückverfolgung meines Anrufs länger dauert – für den Fall, dass er das unbedingt will, dass er wissen will, wo ich mich aufhalte.

»Hier ist Grady«, meldet er sich.

Ich mache mich bereit, ihm eine Lüge aufzutischen. Denn das ist meine letzte Chance. »Hier ist Hannah«, sage ich. »Ich habe von Owen gehört.«

Ohne mich lange mit einem Hallo aufzuhalten.

»Wann?«, fragt Grady.

»Heute Nacht. Gegen zwei Uhr morgens. Er sagte, er könne nicht reden, weil der Anruf möglicherweise mitgehört werde. Wahrscheinlich hat er von einem Münztelefon aus angerufen, jedenfalls war die Nummer unterdrückt. Er hat sehr schnell geredet und wollte wissen, ob es mir gut geht, ob es Bailey gut geht. Er hat ganz entschieden erklärt, er habe mit den Betrügereien bei The Shop nichts zu tun. Er habe das Gefühl gehabt, dass Avett irgendwas vorhätte, aber nichts Konkretes gewusst.«

Ich höre, wie Grady am anderen Ende der Leitung herumkramt. Vielleicht sucht er nach einem Notizblock, nach etwas, worauf er die Hinweise notieren kann, von denen er glaubt, ich würde sie ihm jetzt geben.

»Sagen Sie mir, wie er sich genau ausgedrückt hat …«

»Er hat gesagt, es wäre für ihn nicht sicher, länger zu telefonieren, aber ich solle Sie anrufen«, behaupte ich. »Sie würden mir die Wahrheit sagen.«

Plötzlich wird es still. »Die Wahrheit? Worüber?«

»Ich weiß es nicht, Grady. Bei Owen hat es geklungen, als könnten Sie mir das beantworten.«

Grady legt eine Pause ein. »In Kalifornien ist es noch früh«, sagt er. »Warum sind Sie um diese Zeit schon auf?«

»Würden Sie wieder einschlafen, wenn Ihr Mann um zwei Uhr morgens anruft und Ihnen erklärt, dass er in Schwierigkeiten ist?«

»Ich habe einen ziemlich guten Schlaf, also …«

»Ich muss wissen, was los ist, Grady. Was wirklich los ist«, sage ich. »Warum kommt ein U.S. Marshal den ganzen Weg von Austin, Texas, nach San Francisco, um jemanden zu suchen, der nicht mal zu den Verdächtigen gehört?«

»Und ich muss wissen, warum Sie mir dieses Märchen über einen Anruf von Owen erzählen, den es eindeutig nicht gegeben hat.«

»Warum gibt es keinerlei Spuren von Owen Michaels, bevor er nach Sausalito gezogen ist?«, frage ich.

»Wer hat Ihnen das gesagt?«, will er wissen.

»Ein Freund.«

»Ein Freund? Dann versorgt Ihr Freund Sie mit falschen Informationen.«

»Das glaube ich nicht«, sage ich.

»Okay, vielleicht erinnern Sie sich, dass eine der wichtigsten Funktionen der neuen Software von The Shop darin besteht, den Kunden zu ermöglichen, ihre Online-Spuren zu korrigieren. Dinge zu löschen, die Rückschlüsse auf die eigene Identität zulassen. Das schließt auch die Online-Datenbanken von Universitäten, frühere Adressen und Ähnliches ein …«

»Ich weiß, wofür die Software gedacht ist.«

»Warum ist Ihnen dann nicht der Gedanke gekommen, dass Daten über Owens Vergangenheit von dem Mann gelöscht worden sein könnten, der bisher als Einziger über die nötigen Fähigkeiten verfügt?«

Owen. Er behauptet, dass Owen seine Spuren verwischt hat.

»Warum sollte er so etwas tun?«

»Vielleicht hat er seine eigene Software getestet«, sagt er. »Ich weiß es nicht. Ich sage nur, dass Sie mit einer ziemlich komplizierten Geschichte ankommen, obwohl es verschiedenste Gründe geben könnte, warum Ihr Freund nichts über Owens Vergangenheit gefunden hat.«

»Warum hat er das getan, Grady? Vor dieser ganzen Sache? Vor The Shop? Warum hat er eine neue Identität angenommen? Warum hat er seinen Namen geändert?«

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«

»Ich glaube doch«, beharre ich. »Ich glaube, es erklärt auch, warum Sie den ganzen Weg nach San Francisco gekommen sind, obwohl Sie für die Ermittlung überhaupt nicht zuständig sind.«

Er lacht. »Nicht zuständig? Ich bin praktisch derjenige, der die Ermittlung leitet. Statt sich darüber Gedanken zu machen, sollten Sie vielleicht eher über ein paar andere Punkte nachdenken.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel darüber, dass Ihre Freundin Naomi Wu vom FBI in Erwägung zieht, Owen offiziell zum Verdächtigen zu erklären.«

Ich halte einen Moment inne. Ich habe den Namen ihm gegenüber nicht genannt. Trotzdem weiß er Bescheid. Er scheint alles zu wissen.

»Wir haben nicht mehr viel Zeit, bevor ihr Team mit einem Durchsuchungsbeschluss bei Ihnen auftaucht. Ich tue mein Bestes, um sie noch eine Weile zurückzuhalten, aber ich kann nicht garantieren, dass es noch lange funktioniert.«

Ich stelle mir vor, wie Bailey nach Hause kommt und sieht, dass ihr Zimmer auf den Kopf gestellt wurde – dass ihre Welt auf den Kopf gestellt wurde.

»Warum, Grady?«

»Was meinen Sie?«

»Warum geben Sie sich solche Mühe, es zu verhindern?«

»Weil es mein Job ist«, erklärt er.

Seine Stimme klingt fest, aber ich bin nicht überzeugt. Denn ich werde ein bestimmtes Gefühl nicht los: Grady will Owen beschützen, vielleicht so sehr wie ich. Er will nicht, dass Owen ins Visier des FBI gerät. Aber warum? Wenn es Grady nur darum ginge, Owen aufzuspüren, wenn er die ganze Sache nur hinter sich bringen und ihn vernehmen wollte, würde er sich nicht so engagieren. Aber hier spielt noch etwas anderes hinein – etwas Schwerwiegenderes als bloß Owens mögliche Verwicklung in einen Betrug. Plötzlich habe ich Angst, dass es um etwas weit Schlimmeres gehen könnte, als ich es mir in meinen düstersten Vorstellungen ausgemalt habe.

Beschütze sie.

»Owen hat uns eine Tasche voller Geld zurückgelassen«, sage ich.

»Wie bitte?«

»Genau genommen hat er es für Bailey zurückgelassen. Es ist eine Menge Geld, und ich will nicht, dass es entdeckt wird, falls jemand mit dem Durchsuchungsbeschluss auftaucht, mit dem Sie drohen. Ich will nicht, dass es gegen mich verwendet oder als Vorwand benutzt wird, mir Bailey wegzunehmen.«

»So funktioniert das hier nicht.«

»Ich weiß noch nicht, wie das hier funktioniert. Und deshalb erzähle ich Ihnen von dem Geld. Es ist unter meinem Spülbecken versteckt. Ich will nichts damit zu tun haben.«

Eine Weile sagt er nichts, dann erklärt er: »Nun, ich weiß das zu schätzen. Wahrscheinlich ist es besser, ich nehme es an mich, bevor das FBI es findet. Ich kann jemanden aus dem Büro in San Francisco zu Ihnen schicken.«

Ich schaue über den Lady Bird Lake hinweg auf das Stadtzentrum von Austin. Durch die Bäume dringt das Morgenlicht. Wahrscheinlich sitzt Grady in einem der Gebäude dort drüben und hat gerade seinen Arbeitstag begonnen. Plötzlich will ich ihn nicht so dicht in meiner Nähe haben.

»Jetzt passt es gerade nicht.«

»Warum nicht?«

Mit jeder Faser meines Körpers möchte ich ihm die Wahrheit sagen. Dass wir in Austin sind. Aber ich weiß noch immer nicht, ob er Freund oder Feind ist. Oder beides. Vielleicht ist jeder ein bisschen von beidem, auch Owen.

»Ich habe noch einiges zu erledigen, bevor Bailey aufsteht«, sage ich. »Und ich denke darüber nach … Vielleicht sollte ich Bailey woanders hinbringen, bis sich alles ein bisschen beruhigt hat.«

»Zum Beispiel?«

Ich denke an Jakes Angebot. Ich denke an New York.

»Ich weiß nicht genau«, sage ich. »Aber wir müssen uns nicht in Sausalito aufhalten, oder? Ich meine, es gibt doch keine juristischen Gründe, dass wir dortbleiben müssten, oder?«

»Offiziell nicht, aber es würde keinen guten Eindruck machen, wenn Sie die Stadt verlassen«, sagt er. Dann hält er inne, als hätte er etwas gehört.

»Moment. Warum haben Sie gerade ›dort‹ gesagt?«

»Wie bitte?«

»Sie haben gesagt ›dass wir dortbleiben müssen‹. Als Sie über Ihr Haus und über Sausalito gesprochen haben. Wenn Sie zu Hause wären, hätten Sie ›hier‹ gesagt. Dass wir hierbleiben müssen.«

Ich antworte nicht.

»Hannah, ich schicke einen Kollegen vorbei, um zu sehen, ob Sie im Haus sind«, sagt er.

»Dann mache ich schon mal Kaffee«, sage ich.

»Das ist nicht lustig.«

»Finde ich auch.«

»Also, wo sind Sie?«, fragt Grady.

Wenn Grady herausfinden will, von wo ich anrufe, wird ihm das gelingen, das ist mir klar. Ich weiß, dass er schon dabei ist, es zu versuchen. Ich sehe Gradys Heimatstadt vor mir und frage mich, was sie meinem Mann bedeutet hat.

»Was befürchten Sie denn, wo ich sein könnte, Grady?«, frage ich.

Bevor er antworten kann, lege ich auf.