DAS IST WISSENSCHAFT, STIMMT’S?
D iesmal nehmen wir ein Taxi.
Bailey starrt auf ihre Hände, blinzelt nicht und wirkt mehr als nur ein bisschen aus der Fassung gebracht. Auch ich bin durcheinander, versuche aber, mich zu beruhigen. Es ist eine Sache, wenn ein Privatdetektiv darauf stößt, dass der eigene Mann einen falschen Namen benutzt und wesentliche Details seines Lebenslaufs nicht stimmen. Aber wenn ich tatsächlich richtig vermute – wenn Owen in der Vorlesung von diesem Professor Cookman war –, dann haben wir den ersten Beweis, den ersten handfesten Beweis, dass Owen über seine Vergangenheit gelogen hat. Den ersten Beweis, dass ich den richtigen Instinkt hatte. Dass seine – Owens – Geschichte in Austin begonnen haben und hier enden könnte. Wir kommen der Wahrheit anscheinend näher, was ich einerseits als Triumph empfinde. Dass diese Wahrheit andererseits zu Erkenntnissen führt, auf die ich lieber verzichten würde, macht das Vergnügen zweifelhaft. Ich bin nicht sicher, ob ich auf einen solchen Triumph wirklich Wert lege.
Das Taxi fährt am College of Natural Sciences vor – einer Ansammlung von Gebäuden, die mir größer und ausgedehnter vorkommt als mein ganzes geisteswissenschaftliches College einschließlich Campus und Studentenwohnheimen.
Ich drehe mich zu Bailey um. Sie mustert die Gebäude und das wohltuende Grün ringsum.
Selbst angesichts der Umstände fällt es schwer, nicht beeindruckt zu sein, vor allem als wir aussteigen und durch die Grünanlagen zu einer kleinen Brücke gehen, die uns zum Department of Mathematics führt.
In diesem Gebäude sind die Fachbereiche Mathematik, Physik und Astronomie untergebracht. Eine Wand im Eingangsbereich weist stolz darauf hin, dass hier jedes Jahr Hunderte herausragende Studenten ihren Abschluss in Naturwissenschaften oder Mathematik machen. Von hier kommen Nobelpreisträger und Frauen und Männer, die mit dem Wolf-Preis, dem Abel-Preis, dem Turing Award und der Fields-Medaille ausgezeichnet wurden.
Letztere wurde, wie wir feststellen, auch Professor Cookman verliehen.
Wir nehmen die Rolltreppe zu seinem Büro und fahren auf ein großes Poster mit Cookmans Gesicht zu. Dieselbe gefurchte Stirn, dieselben zusammengekniffenen Augenbrauen.
Auf dem Poster steht: TEXANISCHE WISSENSCHAFTLER VERÄNDERN DIE WELT . Außerdem werden Professor Cookmans herausragende wissenschaftliche Leistungen und einige seiner Auszeichnungen aufgelistet. Gewinner der Fields-Medaille. In der engeren Auswahl für den Wolf-Preis.
Wir stehen vor seinem Büro, wo Bailey auf ihrem Handy ein Foto von Owen auswählt, die älteste Aufnahme, die wir hier in Texas bei uns haben, in der Hoffnung, dass Professor Cookman bereit ist, einen Blick darauf zu werfen.
Das Foto ist zehn Jahre alt. Owen nimmt Bailey nach ihrem ersten Auftritt in einer Schulaufführung in den Arm. Bailey trägt noch ihr Kostüm, und Owen legt ihr stolz die Arme um die Schultern. Baileys Gesicht ist zum größten Teil von den Blumen verdeckt, die er ihr mitgebracht hat – Gerbera und Nelken und Lilien, der Strauß ist größer als Bailey. Sie schaut mit breitem Grinsen zwischen den Blumen hervor. Owen sieht in die Kamera. Glücklich. Lachend.
Es ist fast zu viel für mich, dieses Foto zu sehen, vor allem, als ich Owen heranzoome. Seine Augen strahlen lebendig. Fast als wäre er hier. Fast als könnte er hier sein.
Ich bemühe mich um ein aufmunterndes Lächeln, dann gehen wir hinein. Hinter einem Schreibtisch im Vorraum sitzt eine studentische Hilfskraft. Sie trägt eine Brille mit schwarzem Drahtgestell und ist damit beschäftigt, einen dicken Stapel Hausarbeiten zu sortieren.
Sie sieht weder auf noch legt sie den Rotstift weg. Aber sie räuspert sich.
»Kann ich Ihnen helfen?«, sagt sie in einem Ton, der klarmacht, dass sie nicht die geringste Lust dazu hat.
»Wir würden gern mit Professor Cookman sprechen«, erkläre ich.
»Das dachte ich mir schon«, sagt sie. »Warum?«
»Mein Vater hat früher bei ihm studiert«, sagt Bailey.
»Er hält gerade eine Vorlesung. Davon abgesehen brauchen Sie einen Termin.«
»Natürlich, aber was Bailey Ihnen gerade zu erklären versucht, ist, dass sie ebenfalls Interesse an einem Studium hat. An der UT . Wie ihr Vater. Nielon Simonson vom Zulassungsamt hat ihr vorgeschlagen, sich heute in Professor Cookmans Vorlesung zu setzen.«
Sie schaut auf. »Wer vom Zulassungsamt?«
»Nielon.« Ich gebe mir Mühe, den Namen, den ich mir gerade ausgedacht habe, möglichst glaubhaft klingen zu lassen.
»Na ja. Die Vorlesung ist schon halb vorbei, aber wenn Sie sich für die restliche Zeit dazusetzen wollen, bringe ich Sie hin …«
»Das wäre toll«, sagt Bailey. »Danke.«
Die junge Frau verdreht gelangweilt die Augen. »Dann los.«
Wir folgen ihr aus dem Büro hinaus und gehen mehrere Treppen hinunter, bis wir einen großen Vorlesungssaal erreichen.
»Wenn Sie reingehen, sind Sie ganz vorn im Saal«, erklärt sie. »Bleiben Sie nicht stehen. Schauen Sie Professor Cookman nicht an. Gehen Sie einfach die Treppe rauf in den hinteren Teil des Saals. Verstanden?«
Ich nicke. »Alles klar.«
»Wenn Sie seine Vorlesung in irgendeiner Weise stören, wird er Sie auffordern zu gehen«, sagt sie. »Das können Sie mir glauben.«
Sie öffnet die Tür, ich will mich bedanken, aber sie legt den Finger auf den Mund.
»Was habe ich gerade gesagt?«
Sie lässt uns hinein und schließt die Tür.
Wir werfen einen Blick zurück. Dann machen wir es so, wie sie gesagt hat. Auf dem Weg die Treppe hinauf schaue ich starr nach vorn. Wir gehen in den hinteren Teil des Saals, vorbei an gut achtzig Studenten.
Ich deute auf einen Platz an der Rückwand, wo wir uns unsichtbar zu machen versuchen. Jetzt erst drehen wir uns zum Saal um.
Professor Cookman steht hinter einem kleinen Podium. Er scheint um die sechzig zu sein und ist keine einssiebzig groß, trotz der zusätzlichen Zentimeter durch die roten Cowboystiefel.
Sämtliche Augen sind auf ihn gerichtet. Alle hier sind konzentriert. Niemand flüstert mit dem Nachbarn oder der Nachbarin. Niemand checkt seine E-Mails, niemand verschickt SMS .
Als Professor Cookman sich umdreht, um etwas auf die große Tafel zu schreiben, beugt Bailey sich zu mir herüber.
»Nielon Simonson?«, flüstert sie. »Hast du dir das ausgedacht?«
»Sind wir hier oder nicht?«, frage ich zurück.
»Ja.«
»Was spielt das dann für eine Rolle?«
Ich dachte, dass wir leise sind, aber vor uns dreht sich jemand um und schaut zu uns hoch.
Was noch schlimmer ist: Professor Cookman hält an der Tafel inne und dreht sich ebenfalls um. Er sieht uns böse an, und der ganze Saal tut es ihm nach.
Ich spüre, wie mir die Röte ins Gesicht steigt, und schaue zu Boden. Er sagt nichts, wendet den Blick aber nicht von uns ab. Eine ganze Minute lang. Eine Minute, die mir wesentlich länger vorkommt.
Zum Glück dreht er sich irgendwann wieder zur Tafel um und fährt mit seiner Vorlesung fort.
Wir beobachten die Studentinnen und Studenten. Es ist leicht nachzuvollziehen, warum alle dermaßen auf Professor Cookman fokussiert sind. Trotz seiner Statur wirkt er eindrucksvoll. Seine Vorlesung ist eine Art Show, er fesselt sein Publikum. Und vielleicht macht er ihm auch ein bisschen Angst. Er ruft nur diejenigen auf, die nicht die Hand heben. Wenn sie die Antwort wissen, wendet er sich kommentarlos ab. Wenn nicht, durchbohrt er den Übeltäter mit Blicken. Und zwar so lange, bis es sich richtig ungemütlich anfühlt, ein bisschen wie eben mit uns. Dann erst ruft er jemand anderen auf.
Nachdem er eine letzte Gleichung an die Tafel geschrieben hat, verkündet er das Ende der Vorlesung und entlässt alle für den heutigen Tag. Alle strömen nach draußen, während wir die Stufen hinunter zu seinem Pult gehen, wo er gerade die Tasche packt.
Er scheint uns nicht wahrzunehmen und widmet sich weiter seinen Unterlagen. Dann plötzlich fragt er ohne Vorwarnung: »Ist es Ihr Hobby, Vorlesungen zu stören? Oder darf ich mir etwas darauf einbilden?«
»Professor Cookman«, sage ich. »Es tut mir leid. Wir wollten nicht, dass Sie uns hören.«
»Macht es das besser oder schlechter? Wer sind Sie eigentlich? Und was machen Sie in meiner Vorlesung?«
»Mein Name ist Hannah Hall. Und das ist Bailey Michaels«, sage ich.
Erst sieht er mich an, dann Bailey, und wartet, ob noch etwas kommt. »Aha.«
»Wir suchen nach Informationen über einen Ihrer früheren Studenten und hoffen, Sie können uns helfen.«
»Warum sollte ich das tun?«, fragt er. »Vor allem für junge Frauen, die meine Vorlesung stören.«
»Sie sind vielleicht der Einzige, der uns helfen kann«, sage ich.
Er sieht mir in die Augen, als nehme er mich zum ersten Mal richtig wahr. Ich gebe Bailey ein Zeichen, auf dem Display erscheint das Foto von ihr und ihrem Vater.
Er greift in die Hemdtasche, zieht eine Lesebrille hervor und betrachtet das Display.
»Der Mann neben dir auf dem Foto?«, fragt er. »Ist das der ehemalige Student?«
Sie nickt, sagt aber kein Wort.
Er neigt den Kopf und betrachtet die Aufnahme, als gebe er sich wirklich Mühe, sich zu erinnern. Ich versuche, ihm auf die Sprünge zu helfen.
»Wenn wir den Jahrgang richtig rekonstruiert haben, hat er vor sechsundzwanzig Jahren bei Ihnen studiert. Wir haben gehofft, Sie würden sich an seinen Namen erinnern.«
»Sie wissen, dass er vor sechsundzwanzig Jahren bei mir studiert hat? Aber seinen Namen wissen Sie nicht?«
»Wir kennen den Namen, den er heute benutzt, aber nicht seinen ursprünglichen Namen«, sage ich. »Das ist eine lange Geschichte.«
»Ich habe für die Kurzfassung Zeit«, erklärt er.
»Er ist mein Vater«, sagt Bailey.
Es sind die ersten Worte aus ihrem Mund, und sie lösen etwas bei ihm aus. Er mustert sie aufmerksam.
»Wie hast du ihn mit mir in Verbindung gebracht?«, fragt er.
Ich schaue zu Bailey hinüber, um zu sehen, ob sie antworten will. Aber sie schweigt wieder. Und sie wirkt müde. Sie erwidert meinen Blick und gibt mir ein Zeichen. Ich soll für sie einspringen.
»Es hat sich herausgestellt, dass mein Mann eine Menge Einzelheiten über sein Leben … erfunden hat. Aber über Sie hat er immer wieder gesprochen, über den Einfluss, den Sie auf ihn hatten. Er hat Sie in sehr guter Erinnerung.«
Noch einmal sieht er sich das Foto an, und mir scheint, dass in seinen Augen etwas aufblitzt. Ich schaue zu Bailey und weiß im selben Moment, dass sie es auch bemerkt hat. Aber vielleicht sehen wir nur, was wir sehen wollen.
»Er nennt sich heute Owen Michaels«, sage ich. »Aber als er bei Ihnen studiert hat, dürfte er einen anderen Namen gehabt haben.«
»Warum hat er ihn geändert?«, fragt er.
»Genau das wollen wir herausfinden.«
»Nun ja, ich habe im Laufe der Jahre viele Studenten gehabt, aber an ihn erinnere ich mich nicht.«
»Könnte es helfen, wenn ich Ihnen sage, dass es höchstwahrscheinlich in Ihrem zweiten Jahr als Dozent war?«
»Vielleicht funktioniert Ihr Gedächtnis anders, aber nach meiner Erfahrung erinnert man sich immer schlechter, je weiter etwas zurückliegt.«
»In letzter Zeit habe ich den Eindruck, dass es keine Rolle spielt, wie lange etwas her ist.«
Er lächelt und mustert mich aufmerksam. Vielleicht sieht er mir an, was wir gerade durchmachen, denn sein Ton wird sanfter.
»Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht besser helfen kann …«, sagt er. »Vielleicht versuchen Sie es im Archiv. Dort könnte man Sie auf die richtige Spur bringen.«
»Und was sollen wir fragen?«, mischt Bailey sich ein.
Sie versucht, sich unter Kontrolle zu halten. Aber ich sehe die Wut, die in ihr hochkocht.
»Wie bitte?«, fragt er.
»Ich meine nur, was sollen wir im Archiv fragen? Ob sie eine Akte über jemanden haben, der heute Owen Michaels heißt, früher aber einen anderen Namen hatte? Und dass diese frühere Person sich mehr oder weniger in Luft aufgelöst hat?«
»Na ja, da hast du nicht unrecht. Wahrscheinlich können sie dazu wirklich nichts sagen …«, räumt er ein. »Trotzdem kann ich leider nicht helfen.«
Er reicht Bailey ihr Handy zurück.
»Ich wünsche Ihnen beiden viel Glück.«
Dann hängt er sich die Tasche über die Schulter und geht Richtung Ausgang.
Bailey starrt auf ihr Handy. Sie wirkt verängstigt – verängstigt und verzweifelt. Professor Cookman macht sich davon, ohne dass wir Owen einen Schritt näher gekommen wären. Wir dachten, wir hätten eine Spur. Wir haben Owens Professor ausfindig gemacht. Wir sind hierhergekommen. Aber plötzlich scheint Owen weiter weg als zuvor. Vielleicht ist das der Grund, warum ich dem Professor hinterherrufe, warum ich mich weigere, ihn einfach gehen zu lassen.
»Mein Mann war der schlechteste Student, den Sie je hatten«, sage ich.
Professor Cookman bleibt stehen. Er bleibt stehen, dreht sich um und sieht uns wieder an.
»Was haben Sie da gesagt?«
»Er erzählt immer wieder, dass er solche Schwierigkeiten mit Ihrem Stoff hatte und dass Sie ihm, nachdem er höllisch für die Zwischenprüfung geschuftet hatte, gesagt haben, Sie würden seine Klausur rahmen und in Ihr Büro hängen. Als Lektion für zukünftige Studenten. Nicht als leuchtendes Vorbild, sondern eher im Sinne von: Wenigstens bin ich nicht so schlecht wie der.«
Er schweigt. Ich rede weiter, um die Stille zu überbrücken.
»Vielleicht picken Sie sich ja jedes Jahr einen Studenten heraus. Und wo Sie als Dozent gerade frisch angefangen hatten, hatten Sie wahrscheinlich sowieso nicht viele Vergleichsmöglichkeiten. Aber wie auch immer, bei ihm hat es funktioniert. Er hat Ihnen geglaubt. Und anstatt sich frustrieren zu lassen, hat er noch härter gearbeitet. Um Ihnen etwas zu beweisen.«
Er sagt noch immer nichts.
Bailey greift nach meinem Arm, als wäre es zwischen uns häufiger so, dass sie mich zurückhalten muss. Als müsste sie mich von ihm wegziehen.
»Er kann sich nicht erinnern«, sagt sie. »Lass uns gehen.«
Sie ist auf unheimliche Weise ruhig, was sich irgendwie schlimmer anfühlt als vor ein paar Minuten, als ich dachte, sie verliert die Beherrschung.
Trotzdem macht Professor Cookman keine Anstalten zu gehen.
»Ich habe sie gerahmt«, sagt er.
»Was?«, fragt Bailey.
»Seine Klausur. Ich habe sie gerahmt.«
Er tritt einen Schritt auf uns zu.
»Es war in meinem zweiten Jahr, und ich war kaum älter als die Studierenden. Ich dachte, ich muss meine Autorität demonstrieren. Meine Frau hat mich irgendwann dazu gebracht, die Klausur abzuhängen. Sie meinte, es wäre schäbig, einen Studenten auf eine schlechte Klausur zu reduzieren. Zuerst habe ich es nicht so gesehen. Aber sie ist klüger als ich. Ich habe das Ding tatsächlich eine ganze Weile hängen lassen. Meine anderen Studenten haben sich vor Angst in die Hose gemacht, was genau der Sinn der Sache war.«
»Dass niemand so schlecht sein wollte?«, frage ich.
»Obwohl ich ihnen auch gesagt habe, wie gut dieser Student später geworden ist.«
Er lässt sich von Bailey noch einmal das Handy geben. Beide betrachten das Foto, er kramt in seinen Erinnerungen.
»Was hat er gemacht? Dein Vater?«
Er wendet sich direkt an Bailey. Ich rechne damit, dass sie ihm eine Kurzversion der Geschichte um The Shop und Avett Thompson erzählt – und dann erklärt, dass wir den Rest der Geschichte noch nicht wissen. Dass wir nicht wissen, was er mit dem Betrug zu tun hat und was ihn dazu gebracht hat, uns alleinzulassen, sodass wir die Puzzleteile mühsam zusammensetzen müssen. All diese unmöglichen Teile. Stattdessen schüttelt sie den Kopf und sagt ihm das Schlimmste, was Owen getan hat.
»Er hat mich angelogen.«
Er nickt, als reiche ihm das aus. Professor Cookman. Vorname Tobias. Spitzname Cook. Preisgekrönter Mathematiker. Unser neuer Freund.
»Kommt mit«, sagt er.