MANCHE STUDENTEN SIND KLÜGER ALS ANDERE

W ir begleiten Professor Cookman zurück in sein Büro, wo er Kaffee aufsetzt. Cheryl, die Studentin im Vorzimmer, ist jetzt viel aufmerksamer als zuvor. Sie schaltet mehrere Geräte an Cooks Arbeitsplatz ein, während ein zweiter Student, Scott, sich am Aktenschrank zu schaffen macht. Beide legen ein beachtliches Tempo vor.

Cheryl kopiert das Foto von Owen auf den Laptop des Professors, Scott zieht einen übervollen Ordner aus dem Schrank, schlägt die Tür zu und geht hinüber zum Schreibtisch.

»Die Prüfungsarbeiten, die Sie hier haben, reichen nur bis 2001 zurück. Diese hier sind von 2001/2002.«

»Warum bringen Sie sie mir dann?«, fragt Cookman. »Was soll ich damit anfangen?« Scott verschlägt es für einen Moment die Sprache, Cheryl stellt den Laptop auf Professor Cookmans Schreibtisch.

»Gehen Sie ins Archiv und suchen Sie dort«, sagt er. »Und dann besorgen Sie mir eine Liste des Jahrgangs 1995. Bringen Sie 1994 und 1996 auch gleich mit, damit wir auf der sicheren Seite sind.«

Scott und Cheryl verschwinden aus dem Büro. Cook wendet sich seinem Laptop zu, das Foto von Owen füllt den Monitor aus.

»In welchen Schwierigkeiten steckt dein Vater, wenn ich fragen darf?«

»Er arbeitet für The Shop«, sagt Bailey.

»The Shop? Die Firma von Avett Thompson?«

»Genau«, sage ich. »Er ist der Hauptverantwortliche für die Programmierung.«

Der Professor wirkt verwirrt. »Programmierung? Das überrascht mich. Wenn dein Vater tatsächlich der ehemalige Student ist, den ich meine, war er vor allem an Theoretischer Mathematik interessiert. Er wollte an der Universität arbeiten. In der Forschung. Programmierung hat damit nicht viel zu tun.«

Vielleicht hat er sich umentschieden, liegt mir auf der Zunge. Vielleicht wollte er sich in einem Bereich verstecken, der mit seinem eigentlichen Interesse zwar verwandt, aber weit genug entfernt war, dass man ihn dort nicht vermuten würde.

»Steht er offiziell unter Verdacht?«, fragt Cook.

»Nein«, sage ich. »Offiziell nicht.«

Er deutet auf Bailey. »Ich kann mir vorstellen, dass es dir einfach darum geht, deinen Vater zu finden, so oder so.«

Sie nickt. Cook wendet sich mir zu.

»Und was hat der Namenswechsel mit alldem zu tun?«

»Das versuchen wir herauszufinden«, sage ich. »Vielleicht hatte er schon vor The Shop irgendwelche Schwierigkeiten. Wir wissen es nicht. Wir sind gerade erst auf all die Widersprüche zwischen dem gestoßen, was er uns erzählt hat, und …«

»Der Wahrheit?«

»Ja«, sage ich.

Ich schaue zu Bailey hinüber, um zu sehen, wie sie diese Worte aufnimmt. Sie erwidert meinen Blick, als wolle sie sagen, Schon okay . Natürlich ist nicht die Sache an sich okay, aber der Umstand, dass ich dem allen auf den Grund gehen will.

Professor Cookman starrt eine Weile schweigend auf den Computermonitor. Schließlich fragt er: »Ich erinnere mich nicht an alle, aber an ihn schon. Allerdings hatte er längere Haare. Und er war viel kräftiger. Er hat sich ziemlich verändert.«

»Aber nicht völlig?«, frage ich.

»Nein«, sagt er. »Nicht völlig.«

Ich versuche, mir Owen so vorzustellen, wie Professor Cookman ihn beschreibt. Ich stelle mir vor, wie er als andere Person durchs Leben geht. Ein kurzer Blick auf Baileys gerunzelte Stirn verrät mir, dass es ihr genauso geht.

Professor Cookman klappt den Laptop zu und beugt sich über den Schreibtisch.

»Schauen Sie, ich will nicht so tun, als könnte ich mich in Ihre Lage hineinversetzen. Aber ich möchte anmerken, dass mir in all den Jahren des Unterrichtens etwas Entscheidendes klargeworden ist, das mir in Situationen wie dieser die Ruhe bewahren hilft. Letztlich ist es ein Satz von Einstein, der auf Deutsch besser klingt.«

»Für uns bitte die englische Übersetzung«, sagt Bailey.

»Einstein hat gesagt: Insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen, sind sie nicht sicher, und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit.«

Bailey neigt den Kopf. »Ich warte immer noch auf die Übersetzung, Professor«, sagt sie.

»Im Grunde heißt es, wir haben nicht die geringste Ahnung«, sagt er.

Bailey lacht – leise, aber von Herzen. Es ist ihr erstes Lachen seit Tagen, das erste, seit diese ganze Geschichte angefangen hat.

Ich bin so dankbar, dass ich am liebsten über den Schreibtisch hechten und Professor Cookman in den Arm nehmen würde.

Bevor ich das tun kann, tauchen Scott und Cheryl wieder auf.

»Hier ist die Liste vom Sommersemester 1995. Im Jahr davor haben Sie zwei verschiedene Hauptseminare gehalten. Und 1996 haben Sie nur Doktoranden unterrichtet. Mit Studierenden aus den unteren Jahrgängen hatten Sie im Sommersemester 1995 zu tun. Also müsste der Student, den Sie suchen, hier draufstehen.«

Mit triumphierendem Blick reicht Cheryl ihm die Liste.

»Es sind dreiundsiebzig Namen. Ursprünglich dreiundachtzig, aber zehn sind zwischendurch ausgestiegen. Das bewegt sich im üblichen Rahmen. Ich nehme an, die Namen der zehn Aussteiger brauchen Sie nicht?«

»Nein«, sagt er.

»Das habe ich mir gedacht, deshalb sind sie schon durchgestrichen«, sagt sie mit einer Miene, als hätte sie gerade die kleinsten Bauteilchen des Universums entdeckt. Was mich betrifft, kommt das sogar hin.

Während Professor Cookman die Liste durchgeht, wendet Cheryl sich an uns. »Auf der Liste steht kein Owen. Und auch kein Michaels.«

»Das überrascht mich nicht«, sagt Cookman kopfschüttelnd, ohne den Blick von der Liste zu nehmen.

»Es tut mir leid, aber ich erinnere mich nicht an den Namen«, sagt er schließlich. »Man sollte denken, es wäre kein Problem, wo ich die gerahmte Klausur so lange im Büro hängen hatte.«

»Es ist lange her«, sage ich.

»Trotzdem. Es wäre schon hilfreich, wenn ich mich erinnern könnte, aber diese Namen sagen mir nichts.«

Professor Cookman reicht mir die Liste. Ich nehme sie schnell und dankbar an, bevor er es sich anders überlegen kann.

»Dreiundsiebzig Namen sind schon besser als eine Milliarde. Und viel besser, als wenn wir überhaupt keinen Anhaltspunkt hätten.«

»Vorausgesetzt, er steht auf dieser Liste«, gibt Professor Cookman zu bedenken.

»Richtig.«

Ich nehme den Ausdruck. Dreiundsiebzig Namen, und fünfzig davon sind Männer. Bailey schaut mir über die Schulter, um auch einen Blick darauf werfen zu können. Wir müssen einen Weg finden, sie so schnell wie möglich abzuarbeiten. Jedenfalls bin ich ein Stück optimistischer als zuvor. Wir haben eine Liste, auf der Owen irgendwo steht, da bin ich mir sicher.

»Sie glauben nicht, wie dankbar wir Ihnen sind«, sage ich. »Vielen, vielen Dank.«

»Es war mir ein Vergnügen«, sagt er. »Ich hoffe, die Liste hilft Ihnen weiter.«

Wir stehen auf, auch Cookman erhebt sich. Er scheint es nicht besonders eilig zu haben, sich wieder seinen alltäglichen Pflichten zuzuwenden. Jetzt, wo er sich persönlich engagiert hat, will er mehr erfahren. Er scheint die Frage, wer Owen früher war und wie er in die jetzige Situation geraten ist, spannend zu finden.

Als wir uns auf den Weg zur Tür machen, hält Cookman uns auf.

»Ich möchte noch sagen … Ich weiß nicht, was er jetzt treibt, aber ich kann Ihnen sagen, dass er damals ein netter Kerl war. Und clever. Viele Gesichter aus der langen Zeit verschwimmen in meiner Erinnerung, aber einige aus den frühen Jahren sehe ich doch noch vor mir. Vielleicht weil man am Anfang besonders engagiert ist. Ich sehe ihn vor mir. Und ich weiß, dass er ein guter Junge war.«

Ich drehe mich zu ihm um, dankbar, etwas über Owen zu hören, das nach dem Mann klingt, den ich kenne.

Lächelnd zuckt er die Achseln. »Es war nicht nur seine Schuld. Die miese Klausur, meine ich. Er war einfach zu sehr auf eine junge Frau in seinem Semester konzentriert. Und er war nicht der Einzige. In einem Kurs voller Männer stach sie wirklich heraus.«

Mein Herz setzt aus. Auch Bailey dreht sich zu Cookman um. Ich spüre, wie sie das Atmen vergisst.

Zu den wenigen Dingen, die Owen uns immer wieder über Olivia erzählt hat, zu den wenigen Dingen, die Bailey sicher über ihre Mutter wusste, gehörte die Tatsache, dass ihr Vater sich auf dem College in sie verliebt hatte. Angeblich war es im letzten Studienjahr passiert – sie hatte in dem Apartment neben seinem gewohnt. Ist auch das eine Lüge gewesen? Hat er ein kleines Detail verändert, um jede Spur in die tatsächliche Vergangenheit zu verwischen?

»War sie … seine Freundin?«, fragt Bailey.

»Dazu kann ich nichts sagen. Ich kann mich nur deshalb an sie erinnern, weil er behauptet hat, seine Arbeit hätte ihretwegen gelitten. Weil er verliebt gewesen wäre. Das hat er mir in einem langen Brief erklärt, und ich habe ihm angedroht, diesen Brief neben seine schreckliche Klausur zu hängen, wenn seine Arbeit nicht besser würde.«

»So etwas ist demütigend«, sagt Bailey.

»Aber offenbar hat es funktioniert«, sagt er.

Ich schaue auf die Liste, überfliege die Namen der Frauen, es sind dreizehn. Eine Olivia finde ich nicht.

»Ich weiß, dass es viel verlangt ist, aber Sie erinnern sich nicht zufällig an ihren Namen? An den Namen der Frau?«, frage ich.

»Ich weiß nur, dass sie eine bessere Studentin war als Ihr Mann«, entgegnet er.

»Galt das nicht für alle?«, frage ich.

Professor Cookman nickt. »Da haben Sie natürlich recht.«