WENN MAN DEN BALLKÖNIG HEIRATET …
D reiundsiebzig Namen, davon fünfzig Männer.
Einer von ihnen könnte Owen sein.
Wir eilen über den Campus zur wissenschaftlichen Bibliothek, wo sich laut Cheryl höchstwahrscheinlich die Uni-Jahrbücher befinden. Wenn wir die Jahrbücher aus Owens Zeit an der UT einsehen können, haben wir die beste Chance, so schnell wie möglich den richtigen Namen auf der Liste zu finden. Denn in den Jahrbüchern stehen nicht nur die Namen der Studierenden, sie sind auch mit Fotos abgebildet. Höchstwahrscheinlich finden wir ein Foto des jungen Owen, falls er am College noch etwas anderes gemacht hat, als in Mathematik zu versagen.
Wir betreten die riesige Perry-Castañeda-Bibliothek – sechs Stockwerke voller Bücher, Landkarten und Computerräume – und gehen zur Information. Die Bibliothekarin erklärt uns, dass wir einen schriftlichen Antrag stellen müssen, um die Originaljahrbücher so weit zurückliegender Jahrgänge einsehen zu können, dass wir aber auch per Computer aufs Archiv zugreifen können.
Wir gehen in den Computerraum im ersten Stock, der fast leer ist, und setzen uns an zwei Geräte in der Ecke. Ich rufe die Jahrbücher aus Owens ersten beiden Jahren am College auf, Bailey die aus dem dritten und vierten Jahr. Seite für Seite suchen wir in alphabetischer Reihenfolge nach jedem einzelnen Namen auf Cookmans Liste. Unser erster Kandidat: John Abbot aus Baltimore, Maryland. Ich entdecke ihn auf einem körnigen Foto des Skiclubs. Dicke Brille und Vollbart, kaum Ähnlichkeit mit Owen. Aber es ist heikel, ihn nur auf Grundlage dieser einen Aufnahme auszuschließen. Also googele ich seinen Namen, erhalte aber zu viele potenzielle Treffer. Erst als ich den Namen mit »Ski« kombiniere, finde ich heraus, dass John Abbot (geboren in Baltimore, Studienabschluss an der UT in Austin) heute mit Partnerin und zwei Kindern in Aspen lebt.
Die nächsten Männernamen auf der Liste können wir leichter aussortieren: Einer ist nur knapp über einsfünfzig und hat rote, lockige Haare; ein anderer ist über einsneunzig, Balletttänzer und lebt in Paris; einer ist nach Honolulu, Hawaii, gezogen und kandidiert für den dortigen Senat.
Als wir beim Buchstaben »E« angelangt sind, klingelt mein Handy. Auf dem Display erscheint ZU HAUSE . Eine Sekunde lang denke ich, es könnte Owen sein. Owen ist zurück und ruft an, um uns zu sagen, dass er alles geklärt hat und dass wir sofort zurückkommen sollen. Damit er unsere Fragen beantworten kann. Wo er gewesen ist, wer er war, bevor wir uns kennengelernt haben. Warum er nie darüber gesprochen hat.
Aber nicht Owen ist am Apparat, sondern Jules.
Jules antwortet auf die SMS , die ich ihr von der Hotelbar aus geschickt habe. Auf meine Bitte, das Sparschwein zu suchen.
»Ich bin in Baileys Zimmer«, sagt sie, kaum dass ich mich gemeldet habe.
»Hast du draußen jemanden gesehen?«, frage ich.
»Ich glaube nicht. Keine fremden Gesichter auf dem Parkplatz, und auf den Anlegern war auch niemand.«
»Könntest du die Rollos runterlassen, solange du da bist?«
»Schon erledigt«, sagt sie.
Ich schaue zu Bailey hinüber und hoffe, sie ist zu sehr in die Jahrbücher vertieft, um auf mich und das Gespräch zu achten. Aber ich sehe, dass sie mich aus dem Augenwinkel beobachtet, dass sie wissen will, worum es geht. Vielleicht hofft sie gegen jede Vernunft, dass dies der Anruf ist, der ihr den Vater zurückbringt.
»Du hattest recht«, sagt Jules. »Auf der Seite steht tatsächlich Lady Paul.«
Natürlich spricht sie nicht aus, worum es geht. Sie sagt nicht, dass sie in unserem Haus ist, um ein Sparschwein zu holen – Baileys Sparschwein –, auch wenn es wahrscheinlich ziemlich unverdächtig wirken würde.
Ich hatte es mir nicht eingebildet. Die kleine Notiz unten auf der letzten Seite von Owens Testament, der Name des Testamentsvollstreckers, L. Paul. Dieser Name steht auch auf dem blauen Schwein in Baileys Zimmer – LADY PAUL , in schwarzen Buchstaben, gleich unter der Schleife. Auf dem Sparschwein, das Owen mitgenommen hat, als wir evakuiert wurden, mit dem ich ihn mitten in der Nacht an der Hotelbar gefunden habe. Ich hatte es seiner Sentimentalität zugeschrieben. Aber das war ein Irrtum. Er hatte es mitgenommen, weil es etwas enthielt, das er in Sicherheit bringen wollte.
»Aber es gibt ein Problem«, sagt Jules. »Ich kriege das Ding nicht auf.«
»Was willst du damit sagen? Schlag es mit einem Hammer kaputt.«
»Nein, du verstehst mich nicht. Da drin ist ein Safe«, erklärt sie. »Und der ist aus Stahl. Ich muss jemanden auftreiben, der einen Safe knacken kann. Irgendwelche Vorschläge?«
»Nicht auf Anhieb, nein.«
»Okay, ich kümmere mich darum«, verspricht Jules. »Hast du schon die Nachrichten gesehen? Jordan Maverick wurde angeklagt.«
Jordan ist der Geschäftsführer von The Shop. Avetts Stellvertreter und Owens Gegenstück auf der Verwaltungsebene der Firma. Er ist frisch geschieden und war zu der Zeit häufiger Gast bei uns. Ich habe Jules vor einer Weile zum Essen eingeladen, in der Hoffnung, dass es zwischen ihnen funkt. Was nicht passiert ist. Sie fand ihn langweilig. Meiner Meinung nach gibt es schlimmere Eigenschaften – aber vielleicht habe ich ihn auch einfach nicht so empfunden.
»Nur um es mal gesagt zu haben: Keine Verkupplungsversuche mehr«, sagt sie.
»Okay, ist angekommen.«
Zu einem anderen Zeitpunkt wäre das der Moment gewesen, in dem ich sie nach ihrem Kollegen Max gefragt, scherzhaft angedeutet hätte, dass er ein Grund sein könnte, warum sie sich gegen Verkupplungsversuche wehrt. Aber im Augenblick erinnert es mich nur daran, dass Max eine Insiderquelle hat. Eine, die uns möglicherweise bei der Suche nach Owen helfen könnte.
»Hat Max außer der Sache mit Jordan noch etwas erfahren?«, will ich wissen. »Hat er irgendetwas über Owen gehört?«
Bailey neigt den Kopf und schaut mich fragend an.
»Nicht über Owen selbst«, sagt sie. »Aber seine Quelle beim FBI sagt, die Software sei gerade fertig geworden.«
»Was soll das bedeuten?«, frage ich.
Eigentlich ist mir klar, was es bedeutet. Wahrscheinlich hat Owen geglaubt, er wäre aus dem Schneider. Wahrscheinlich hat er gedacht, er bräuchte keinen Notfallplan mehr. Es bedeutet, dass Owen, als Jules ihn vor der Razzia gewarnt hat, wahrscheinlich aus allen Wolken gefallen ist. Dass er nicht damit gerechnet hat, so kurz vor der Ziellinie noch abgefangen zu werden.
»Max schickt mir gerade eine Nachricht«, sagt Jules. »Ich rufe dich an, sobald ich einen Panzerknacker gefunden habe, okay?«
»Ich wette, du hättest dir nie vorstellen können, mal so einen Satz zu sagen.«
Sie lacht. »Wohl wahr.«
Ich verabschiede mich und wende mich an Bailey. »Das war Jules. Ich hab sie gebeten, im Haus etwas nachzusehen.«
Sie nickt. Sie fragt erst gar nicht, ob ich etwas Neues über ihren Vater erfahren habe. Sie weiß, dass ich es ihr ungefragt sagen würde.
»Kommst du voran?«, frage ich stattdessen.
»Ich bin bei H «, sagt sie. »Bis jetzt kein Treffer.«
»H, das heißt, es geht voran.«
»Ja. Wenn er wirklich auf der Liste steht.«
Wieder klingelt mein Telefon. Ich rechne damit, dass Jules noch etwas erfahren hat, aber es ist eine Nummer, die ich nicht kenne – Vorwahl 512. Texas.
»Wer ist das?«, fragt Bailey.
Ich schüttele den Kopf, um zu zeigen, dass ich keine Ahnung habe, und nehme den Anruf an. Die Frau am anderen Ende der Leitung redet bereits auf mich ein. Sie ist schon mitten in einem Satz und scheint davon auszugehen, dass ich den Anfang mitbekommen habe.
»Trainingsspiele«, sagt sie. »An die hätten wir auch denken müssen. An die Trainingsspiele.«
»Wer ist da?«
»Elenor McGovern«, sagt sie. »Von der Episkopalkirche. Ich glaube, ich habe die Antwort auf die Frage, wessen Hochzeit Ihre Stieftochter besucht hat. Sophie, ein langjähriges Gemeindemitglied, hat einen Sohn, der für die Footballmannschaft der Universität spielt. Sie verpasst kein einziges Spiel. Sie war heute Morgen hier, um mir beim Frühstück für die neuen Gemeindemitglieder zu helfen. Ich dachte, sie ist die richtige Ansprechpartnerin, für den Fall, dass ich etwas übersehen habe. Sie hat mir erklärt, dass die Longhorns während des Sommers mehrere interne Trainingsspiele durchführen.«
Mir bleibt die Luft weg. »Und die finden im Stadion statt? Genau wie die regulären Spiele in der Saison?«
»Genau wie die regulären Spiele. Ich habe Ihre Daten mit den Testspielen abgeglichen, für die Zeit, bevor wir schließen mussten. Es gab eine Hochzeit, die zeitgleich mit dem letzten Trainingsspiel der Saison 2008 stattfand. Eine Hochzeit, die Ihre Stieftochter besucht haben könnte. Haben Sie etwas zum Schreiben? Sie sollten es sich notieren.«
Elenor ist stolz auf sich, und das mit Recht. Sie könnte einen Hinweis auf Owen entdeckt haben – darauf, was er an jenem Wochenende in Austin zu tun hatte, so lange nach seinem Studium. Und zu der Frage, warum Bailey ihn begleitet hat.
»Ich schreibe mit«, erkläre ich.
»Es war die Hochzeit Reyes/Smith«, sagt sie. »Ich habe alle Informationen hier. Die Zeremonie war um zwölf Uhr mittags. Aber der anschließende Empfang hat woanders stattgefunden. Den genauen Ort kann ich Ihnen leider nicht sagen.«
»Elenor, das ist großartig. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
»Gern geschehen, wirklich«, sagt sie.
Ich nehme Baileys Ausdruck der Liste von Cookmans Studenten. Kein Reyes. Aber eine Smith.
Katherine. Katherine Smith. Ich deute auf den Namen, und Bailey fängt schnell an zu tippen und den Index des Jahrbuchs zu durchsuchen. KATHERINE SMITH erscheint auf dem Bildschirm. SMITH , KATHERINE . Hinter ihrem Namen stehen zehn Seitenzahlen.
Vielleicht waren sie befreundet – oder sie war Owens Freundin gewesen, die junge Frau, von der Professor Cookman gesprochen hat. Und Owen war zu ihrer Hochzeit in die Stadt gekommen. Er hatte seine Familie mitgebracht, um mit seiner alten Freundin zu feiern. Vielleicht kann ich sie ausfindig machen und mir von ihr erklären lassen, wer Owen früher war.
»Hieß die Braut mit Vornamen Katherine?«, frage ich Elenor.
»Nein, nicht Katherine. Lassen Sie mich sehen. Hier steht Andrea. Und … Ja, das ist es. Andrea Reyes und Charlie Smith.«
Ich bin ernüchtert, dass es nicht Katherine war, aber vielleicht ist sie ja irgendwie mit Charlie verwandt. Hier könnte trotzdem die Verbindung liegen. Doch bevor ich ein Wort zu Bailey sagen kann, ruft sie die Seite des Debattierclubs auf, dessen Präsidentin Katherine »Kate« Smith war.
Und das Foto erscheint.
Ein Foto des kompletten Debattierclubs. Die Mitglieder sitzen auf Hockern in einer Bar, mehr Cocktail-Lounge als Kneipe: hölzerne Dachbalken, eine lange Backsteinwand, an der Regale mit Bourbonflaschen verlaufen, die wie Geschenke aufgereiht sind. Ebenso wie die darüber aufgereihten Weinflaschen werden sie von hinten durch Windlichter beleuchtet.
Die Bildunterschrift lautet: KATHERINE SMITH , PRÄSIDENTIN DES DEBATTIERCLUBS , FEIERT IM THE NEVER DRY , DER BAR IHRER FAMILIE , DEN 1. PLATZ BEI DEN STAATSMEISTERSCHAFTEN . DIE TEAMMITGLIEDER VON (L) NACH (R) …
»Das gibt’s nicht!«, sagt Bailey. »Das könnte die Bar sein. Wo die Hochzeit gefeiert wurde.«
»Wovon redest du?«
»Ich hab nichts davon gesagt, aber gestern Abend im Magnolia Café , als du mir die ganzen Fragen gestellt hast, konnte ich mich plötzlich erinnern, dass wir die Hochzeit in einer Bar gefeiert haben«, sagt sie. »Oder eher in einem kleinen Restaurant. Aber dann dachte ich mir, es ist spät, und ich versuche bloß, nach einem Strohhalm zu greifen … nach irgendetwas … also hab ich nicht weiter darüber nachgedacht und nichts gesagt. Aber der Raum auf diesem Foto, diese Never-Dry -Bar, kommt mir wirklich bekannt vor.«
Ich lege die Hand über das Mikro des Telefons und schaue zu Bailey hinunter, die fieberhaft und ungläubig auf das Foto deutet. Sie zeigt auf einen Plattenspieler in der Ecke. Ein sonderbares Beweisstück …
»Ohne Scheiß«, sagt sie. »Das ist die Bar. Ich erkenne sie wieder.«
»Sie sieht aus wie eine Million andere Bars.«
»Ich weiß. Aber es gibt zwei Orte in Austin, an die ich mich erinnere. Und diese Bar ist einer davon.«
Dann vergrößert Bailey das Foto. Die Gesichter der Teammitglieder werden deutlicher, Katherines Gesicht ist jetzt zu erkennen. Klar und deutlich.
Wir sagen beide kein Wort. Die Bar spielt plötzlich keine Rolle mehr. Nicht mal Owen spielt im Moment noch eine Rolle.
Nur dieses Gesicht.
Das Foto zeigt nicht die Frau, die ich als Baileys Mutter kenne und die – was entscheidender ist – Bailey als ihre Mutter kennt. Olivia. Olivia mit den roten Haaren und den mädchenhaften Sommersprossen. Olivia, die mir ganz entfernt ähnelt.
Die Frau, die uns von dem Foto ansieht – diese Katherine »Kate« Smith –, sieht genau wie Bailey aus. Exakt wie Bailey. Sie hat die gleichen eher dunklen Haare, dieselben vollen Wangen. Und vor allem hat sie dieselben glühenden Augen – mehr kritisch als sanft.
Die Frau, die uns da von dem Foto entgegenblickt, könnte Bailey sein.
Plötzlich schaltet Bailey den Monitor aus, als sei der Anblick für sie unerträglich. Kates Gesicht, das wie ihr eigenes aussieht. Sie schaut mich an in Erwartung meiner Reaktion.
»Kennst du sie?«, fragt sie.
»Nein«, sage ich. »Du?«
»Nein, ich weiß nicht. Nein!«
»Hallo?«, fragt Elenor. »Sind Sie noch da?«
Ich lasse meine Hand auf dem Mikrofon, aber Bailey kann Elenor hören. Ihre lauten Fragen. Sie wird noch angespannter, zieht die Schultern zusammen, schiebt sich die Haare hinter die Ohren.
Ich bin nicht stolz darauf, aber ich beende das Telefonat ohne ein weiteres Wort.
Dann wende ich mich wieder Bailey zu.
»Wir müssen sofort hingehen«, sagt Bailey. »Ich muss in diese Bar … ins Never Dry …«
Sie ist schon aufgesprungen und schnappt sich ihre Sachen.
»Bailey«, sage ich. »Ich weiß, dass du durcheinander bist, wie sollte es auch anders sein? Ich bin auch durcheinander.«
Wir sprechen noch nicht aus, wer Katherine Smith möglicherweise ist. Bailey fürchtet und hofft gleichermaßen, dass sie es ist.
»Lass es uns einen Moment durchsprechen«, sage ich. »Ich schätze, wir haben die besten Chancen, die Wahrheit zu erfahren, wenn wir die Liste bis zum Ende durchgehen. Wir haben noch sechsundvierzig Namen vor uns, dann wissen wir, wer dein Vater früher war.«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«
»Bailey …«, sage ich.
Sie schüttelt den Kopf. Sie setzt sich nicht wieder hin.
»Dann sage ich es eben so«, erklärt sie energisch. »Ich gehe jetzt auf der Stelle in diese Bar. Du kannst entweder mitkommen oder mich allein gehen lassen.«
Sie steht vor mir und wartet auf meine Reaktion. Sie stürmt nicht einfach los. Sie wartet ab, wie ich mich entscheide. Als ob ich eine Wahl hätte.
»Natürlich komme ich mit«, sage ich.
Ich stehe auf, wir gehen zusammen zur Tür.