A uf der Taxifahrt zum The Never Dry zupft Bailey unaufhörlich an ihrer Unterlippe, als hätte sie plötzlich einen nervösen Tic entwickelt. Ihre Augen huschen hektisch und verängstigt hin und her.
Ich höre die Fragen, die sie mir nicht laut stellt, aber ich will sie nicht drängen. Genauso wenig schaffe ich es, bloß dazusitzen und zuzusehen, wie sie leidet. Also nehme ich mein Handy und suche wie eine Verrückte nach Informationen über Katherine »Kate« Smith, über Charlie Smith. Ich möchte ihr irgendetwas Neues bieten können, irgendwelche Informationen, um sie zu beruhigen.
Aber ich finde zu viel. Der Name Smith ist einfach zu verbreitet, selbst wenn ich zusammen mit anderen Begriffen suche (UT -Austin, in Austin geboren, Champion im Debattieren). Ich bekomme Hunderte Treffer. Und Bilder – darunter keins von der Katherine, die wir in der Bibliothek entdeckt haben.
Plötzlich kommt mir eine Idee. Ich beziehe Andrea Reyes und Charlie Smith in die Suche mit ein. Endlich finde ich etwas, das uns möglicherweise hilft.
Ich stoße auf ein Facebook-Profil des richtigen Charlie Smith. Er hat im Jahr 2002 an der University of Texas seinen Bachelor in Kunstgeschichte gemacht, dann zwei Semester Architektur im Aufbaustudium angehängt und ein Praktikum bei einem Landschaftsarchitekten im Zentrum von Austin absolviert.
Über seinen beruflichen Werdegang danach gibt es keine Informationen.
Kein Status-Update und keine Fotos seit 2009.
Aber das Profil nennt Andrea Reyes als seine Ehefrau.
»Da ist es«, sagt Bailey.
Sie deutet durchs Fenster auf eine blaue, von Weinreben gerahmte Tür. Man könnte sie leicht übersehen, wäre da nicht die kleine goldene Tafel mit der Aufschrift THE NEVER DRY . Die Bar liegt schräg gegenüber der West Sixth Street, zwischen einem Café und einer schmalen Gasse.
Wir springen aus dem Taxi. Als ich mich umdrehe, um den Fahrer zu bezahlen, bemerke ich, dass auf der anderen Seite des Lady Bird Lake unser Hotel zu sehen ist. Plötzlich verspüre ich den Drang, die Sache hier abzublasen und zurückzufahren.
Aber Bailey geht bereits auf die blaue Tür zu.
Nun geschieht etwas, das nie zuvor geschehen ist. Nennen wir es mütterlichen Instinkt. Ohne nachzudenken, greife ich nach ihrem Arm.
»Was soll das?«, protestiert sie.
»Du wartest hier.«
»Was? Auf keinen Fall.«
Ich denke fieberhaft nach. Die Wahrheit würde ich niemals über die Lippen bringen. Was ist, wenn wir reingehen und plötzlich vor ihr stehen? Vor dieser Katherine Smith. Was ist, wenn dein Vater dich ihr weggenommen hat? Wenn sie versucht, dich mir wegzunehmen? Die Möglichkeit erscheint mir nicht so abwegig.
»Ich will nicht, dass du mit reingehst«, sage ich stattdessen. »Wenn du nicht dabei bist, sind sie wahrscheinlich eher bereit, meine Fragen zu beantworten.«
»Das überzeugt mich nicht, Hannah«, entgegnet sie.
»Okay, wie ist es damit: Wir wissen nicht, wer in der Bar ist. Wir wissen nicht, wer diese Leute sind und ob sie gefährlich sind. Es hat nur immer mehr den Anschein, als hätte dein Vater dich bewusst von hier weggebracht. Und so wie wir ihn kennen, wahrscheinlich deswegen, weil er dich vor etwas beschützen wollte. Vielleicht vor jemandem . Du kannst nicht mit rein, bis ich mir Klarheit verschafft habe.«
Sie sagt nichts. Sie starrt mich unglücklich an, aber sie sagt nichts.
Ich deute auf das Café nebenan. Es scheint nicht viel los zu sein, vielleicht ist der nachmittägliche Ansturm schon vorbei.
»Geh da rein und bestell dir ein Stück Kuchen, okay?«
»Kuchen ist das Letzte, was ich jetzt will.«
»Dann nimm einen Kaffee und mach mit Professor Cookmans Liste weiter. Schau nach, ob du jemanden googeln kannst. Wir haben noch eine Menge Namen vor uns.«
»Der Plan gefällt mir nicht«, sagt sie.
Ich ziehe die Liste aus meiner Tasche und strecke sie ihr entgegen. »Ich komme dich holen, wenn da drin alles klar ist.«
»Alles klar? Warum sprichst du es nicht aus?«, fragt sie. »Warum sagst du nicht, was du da drin erwartest?«
»Vielleicht aus demselben Grund, warum du es nicht aussprichst, Bailey.«
Endlich dringe ich zu ihr durch. Sie nickt widerwillig.
Dann nimmt sie die Liste aus meiner Hand und wendet sich in Richtung Café. »Lass dir nicht zu viel Zeit, okay?«
Sie geht zur Eingangstür, öffnet sie und verschwindet. Das Letzte, was ich von ihr sehe, sind die lilafarbenen Haare.
Erleichtert atme ich durch und öffne die blaue Tür zum The Never Dry . Ich stehe vor einer gewundenen Treppe, die ich hinaufsteige. Dort komme ich in einen von Kerzen beleuchteten Gang, vor eine zweite blaue Tür, die ebenfalls nicht verschlossen ist.
Ich öffne auch diese Tür und betrete eine kleine Cocktail-Lounge. Eine menschenleere Cocktail-Lounge mit Dachbalken aus Ahornholz und einem dunklen Mahagonitresen. Um kleine Bartische herum stehen samtbezogene Zweiersofas. Keine typische Bar für eine Studentenstadt. Der diskrete Eingang, der intime Raum. Ich muss an die heimlichen Bars der Prohibitionszeit denken – geschützt, sexy, privat.
Der Tresen ist verwaist. Die einzigen Hinweise darauf, dass überhaupt jemand hier ist, sind die angezündeten Teelichter auf den Cocktailtischen. Und die Billie-Holiday-LP , die sich auf einem alten Plattenspieler dreht.
Ich trete an den Tresen und betrachte die Regale dahinter. Sie sind mit dunklen Likören und allem möglichen Hochprozentigen gefüllt. Auf einem Regalbrett stehen Fotos in dicken silbernen Rahmen und einzelne gerahmte Zeitungsartikel. Kate Smith taucht auf mehreren Bildern auf, meist zusammen mit einem hoch aufgeschossenen, dunkelhaarigen Typen, der nicht Owen ist. Es gibt auch mehrere Fotos, auf denen der dunkelhaarige Mann allein zu sehen ist. Ich beuge mich über den Tresen, um einen der Zeitungsausschnitte besser sehen zu können. Zu dem Artikel gehört eine Aufnahme von Kate in einem Abendkleid und dem groß gewachsenen Mann im Smoking. Sie stehen zwischen einem älteren Paar. Ich lese die Namen unter dem Bild. Meredith Smith, Kate Smith. Charlie Smith …
Dann höre ich Schritte. »Hallo.«
Ich drehe mich um, und vor mir steht Charlie Smith. Der hoch aufgeschossene Kerl auf den Fotos. Er trägt ein frisches Button-down-Hemd und hält eine Kiste mit Champagnerflaschen in den Händen. Er wirkt älter als auf den Fotos, nicht mehr ganz so schlank. Sein Haar ist ergraut, seine Haut wettergegerbt, aber es besteht kein Zweifel. Wieder frage ich mich, in welchem Verhältnis er zu Bailey steht. Und Bailey zu Kate.
»Wir haben noch geschlossen«, sagt er. »Normalerweise fangen wir erst gegen sechs an …«
Ich deute hinter mich. »Tut mir leid, die Tür war offen. Ich wollte mich nicht heimlich reinschleichen.«
»Kein Problem, setzen Sie sich einfach an die Bar und werfen Sie einen Blick auf die Cocktailkarte«, sagt er. »Ich muss nur noch ein paar Kleinigkeiten erledigen.«
»Klingt gut«, sage ich.
Er stellt den Champagner auf den Tresen und lächelt mich an. Ich zwinge mich, sein Lächeln zu erwidern. Es ist nicht so einfach, mit diesem Fremden, der denselben Teint wie Bailey hat, in einem Raum zu sein, und dessen Lächeln, wenn er sich mir direkt zuwendet, mich ebenfalls an Bailey erinnert, die leicht hochgezogenen Mundwinkel, sogar das Grübchen.
Ich setze mich auf einen Hocker, er geht hinter den Tresen und packt den Champagner aus.
»Darf ich Sie kurz etwas fragen? Ich bin noch nicht lange in Austin und habe ein bisschen die Orientierung verloren. Ich will zum Campus. Ist er von hier aus zu Fuß zu erreichen?«
»Klar, wenn es Ihnen nichts ausmacht, eine Dreiviertelstunde zu gehen. Aber wenn Sie es eilig haben, ist ein Uber wahrscheinlich einfacher. Wo genau wollen Sie hin?«
Ich muss daran denken, was ich gerade über seine Biografie erfahren habe. »Zur Hochschule für Architektur«, antworte ich.
Ich bin keine gute Schauspielerin, es fällt mir schwer, ihn anzulügen und dabei möglichst locker zu bleiben. Aber es gelingt.
»Ach, wirklich?«, sagt er. Wie ich gehofft hatte, wirkt er plötzlich interessiert. Charlie Smith: Ende dreißig, Beinahe-Architekt, mit Andrea Reyes verheiratet. Seit einer Hochzeit, die Bailey und Owen besucht haben.
»Vor langer Zeit hab ich da auch ein paar Kurse besucht«, sagt er.
»Die Welt ist klein.« Ich schaue mich um, will mich von meinem klopfenden Herzen ablenken und ein bisschen ruhiger werden. »Haben Sie die Bar eingerichtet? Sie ist toll.«
»Das ist leider nicht mein Verdienst. Ich habe ein paar Kleinigkeiten verändert, als ich sie übernommen habe. Aber im Wesentlichen habe ich es belassen, wie es war.«
Er räumt die letzte Champagnerflasche ein und beugt sich über den Tresen. »Sind Sie Architektin?«
»Landschaftsarchitektin. Ich habe mich als Dozentin beworben«, behaupte ich. »Nur vertretungsweise, während eine Professorin in Mutterschaftsurlaub ist. Aber ich bin zum Abendessen mit einigen der Dozenten eingeladen, also kann ich wohl hoffen.«
»Wie wäre es mit einem kleinen flüssigen Mutmacher?«, schlägt er vor. »Was möchten Sie trinken?«
»Wählen Sie aus«, sage ich.
»Das ist gefährlich. Vor allem, wenn ich mir ein bisschen Zeit nehmen kann.«
Charlie dreht sich um, mustert das Angebot und greift nach einer Flasche Bourbon aus einer kleinen Destillerie. Ich sehe zu, wie er ein Martini-Glas mit Eis, einem Cocktailbitter und Zucker füllt. Dann gießt er langsam den Bourbon dazu. Und krönt sein Werk mit einem Stück Orangenschale.
Er schiebt mir den Drink herüber. »Die Spezialität des Hauses«, sagt er. »Ein Bourbon Old Fashioned.«
»Der sieht zu schön zum Trinken aus«, sage ich.
»Mein Großvater hat die Cocktailbitters selbst hergestellt. Jetzt mache ich es meistens. Ich bin nicht so gut wie er, aber sie geben die entscheidende Note.«
Ich nippe an dem Drink, er ist weich und eiskalt und stark. Ich spüre ihn sofort im Kopf.
»Dann gehört die Bar also Ihrer Familie?«
»Ja, mein Großvater hat sie eröffnet. Er brauchte einen Ort, an dem er mit seinen Kumpels Karten spielen konnte.«
Er deutet auf eine mit Samt bezogene Nische in der Ecke, auf deren Tisch ein RESERVIERT -Schild steht. An der Wand hängen mehrere Schwarz-Weiß-Fotos, darunter eins mit mehreren Männern, die genau in dieser Nische sitzen.
»Er hat fünfzig Jahre hinter dem Tresen verbracht, bevor ich den Laden übernommen habe.«
»Wow«, sage ich. »Unglaublich. Und Ihr Vater?«
»Was ist mit ihm?«
Ich registriere sofort, wie unwohl er sich bei der Erwähnung seines Vaters fühlt.
»Ich hab mich nur gefragt, warum Sie eine Generation übersprungen haben … Hatte er kein Interesse?«
Seine Miene entspannt sich. Offenbar ist meine Frage harmlos genug.
»Nein, es war nicht sein Ding. Der Laden gehörte dem Vater meiner Mutter, sie hatte null Interesse daran …« Er zuckt die Achseln. »Und ich brauchte einen Job. Meine Frau, heute Ex-Frau, hatte gerade erfahren, dass sie mit unseren Zwillingen schwanger war, also war Schluss mit dem Studentenleben.«
Ich zwinge mich zu einem Lachen und versuche, keine Reaktion auf die Erwähnung seiner Kinder zu zeigen. Plural. Ich überlege, wie ich diesen Strang weiterverfolgen kann, wie ich das Gespräch auf seine Frau, auf die Hochzeit bringen kann. Dorthin, wohin ich es steuern muss: auf Kate.
»Vielleicht kommen Sie mir deshalb bekannt vor«, sage ich. »Es mag verrückt klingen, aber ich glaube, wir sind uns vor langer Zeit schon mal begegnet.«
Er neigt den Kopf und lächelt. »Tatsächlich?«
»Nein, ich meine … Ich glaube, ich war schon einmal hier, in der Bar, als ich noch auf dem College war.«
»Dann … ist es das Never Dry , das Ihnen bekannt vorkommt, nicht ich?«
»Ja, das wäre wohl die präzisere Formulierung«, sage ich. »Ich war mit einer Freundin in der Stadt, die für eine Lokalzeitung beim Hot-Sauce-Wettbewerb fotografiert hat …«
Ich denke mal, ein paar wahre Details können nicht schaden.
»Jedenfalls bin ich ziemlich sicher, dass wir an dem Wochenende hier waren. Wahrscheinlich gibt es in Austin nicht viele Bars, die so aussehen.«
»Möglich wäre es … Das Festival findet nicht allzu weit von hier statt.« Er dreht sich um und nimmt eine Flasche Shonky Sauce Co. Purple Hot Sauce aus dem Regal. »Diese hier war 2019 unter den Gewinnern. Ich benutze sie für eine ziemlich temperamentvolle Bloody Mary …«
»Das klingt nach einer echten Herausforderung«, sage ich.
»Nichts für Leute mit schwachen Nerven, ganz klar«, erklärt er.
Er lacht, und ich wappne mich für meinen nächsten Schritt.
»Wenn ich mich richtig erinnere, war die Barfrau, die an dem Abend hier gearbeitet hat, ein echter Schatz. Sie hat uns alle möglichen Restauranttipps gegeben. Ich sehe sie noch vor mir. Lange dunkle Haare. Sie sah Ihnen ein bisschen ähnlich.«
»Sie haben ein ziemlich gutes Gedächtnis«, stellt er fest.
»Ich bekomme aber auch ein bisschen Unterstützung.«
Ich deute auf das Regalbord mit den silbern gerahmten Fotos. Auf einem scheint Kate mich direkt anzusehen.
»Sie könnte es gewesen sein«, sage ich.
Er folgt meinem Blick und schüttelt den Kopf. »Nein, unmöglich«, widerspricht er.
Er fängt an, über den Tresen zu wischen. Plötzlich wirkt er angespannt. Das ist der Moment, in dem ich die Maskerade beenden sollte – in dem ich sie beenden würde –, wenn ich nicht auf seine Hilfe angewiesen wäre.
»Seltsam. Ich hätte geschworen, dass sie es war. Sind Sie verwandt?«, frage ich.
Er sieht zu mir auf, seine Miene wirkt nicht mehr ausweichend, sondern gereizt. »Sie stellen eine Menge Fragen«, sagt er.
»Ich weiß. Tut mir leid. Sie müssen nicht antworten«, sage ich. »Das ist eine schlechte Angewohnheit von mir.«
»Zu viele Fragen zu stellen?«
»Mir einzubilden, dass die Leute Lust haben, sie zu beantworten.«
Sein Gesichtsausdruck wird weicher. »Nein, schon gut. Sie ist meine Schwester. Und ich bin nur ein bisschen empfindlich, weil sie nicht mehr unter uns ist …«
Seine Schwester. Er sagt, sie ist seine Schwester. Und sie lebt nicht mehr. In mir zerbricht etwas. Falls sie Baileys Mutter ist, hat Bailey sie verloren. Bailey hat fast ihr komplettes Leben in dem Bewusstsein verbracht, ihre Mutter verloren zu haben, trotzdem wäre es jetzt etwas ganz anderes. Sie würde sie wiederfinden und im gleichen Moment verlieren. Deshalb kommt mein nächster Satz von Herzen.
»Das tut mir leid«, sage ich. »Es tut mir wirklich leid.«
»Ja …«, sagt er. »Mir auch.«
Ich will ihn nicht weiter bedrängen, jedenfalls nicht jetzt. Ich kann nach der Sterbeurkunde suchen, sobald ich hier raus bin. Ich kann woanders Informationen einholen.
Ich stehe auf, um mich zu verabschieden, aber Charlie lässt den Blick auf der Suche nach einem bestimmten Foto über das Regal schweifen. Es ist eine Aufnahme von Charlie zusammen mit einer dunkelhaarigen Frau und zwei kleinen Jungen, beide in Texas-Rangers-Hemden.
»Vielleicht war es meine Frau Andrea, die Sie hier gesehen haben. Sie hat jahrelang hier gearbeitet. Während meines Studiums war sie wesentlich öfter in der Bar als ich.«
Er reicht mir den Rahmen. Ich sehe mir das Foto an, diese nette Familie, die mir entgegenblickt, das wunderschöne Lächeln seiner heutigen Ex-Frau.
»Ja, ich schätze, sie war es«, sage ich. »Seltsam, oder? Ich weiß nicht, wo ich den Schlüssel für mein Hotelzimmer habe, aber an ihr Gesicht glaube ich mich zu erinnern.«
Nach einem weiteren Blick auf das Foto füge ich hinzu: »Ihre Jungs sind hinreißend.«
»Danke. Sie sind wirklich toll. Aber ich muss ein paar neuere Bilder aufstellen. Auf dem Foto waren sie fünf. Heute sind sie elf und – wie sie Ihnen jederzeit bestätigen würden – praktisch erwachsen.«
Elf. Sofort überschlage ich, dass das Alter genau hinkommt. Andrea muss kurz vor oder kurz nach der Hochzeit schwanger geworden sein.
»Seit der Scheidung sind sie ziemlich raffiniert. Sie setzen darauf, dass ich ihnen jeden Wunsch erfülle, damit ich als cooler Dad rüberkomme …« Er lacht. »Leider funktioniert es zu oft.«
»Ist doch okay«, sage ich.
»Ja.« Er zuckt die Achseln. »Haben Sie Kinder?«
»Noch nicht«, sage ich. »Ich suche noch nach dem richtigen Kerl.«
Was der Sache näherkommt, als mir lieb ist. Charlie glaubt, ich flirte mit ihm. Plötzlich wird mir klar, dass dies der Moment ist, um die Frage zu stellen, auf die ich am dringendsten eine Antwort brauche.
Doch ich weiß nicht, wie ich es anstellen soll.
»Ich muss jetzt los, aber wenn es nicht zu spät wird, komme ich vielleicht noch mal wieder.«
»Klar doch«, sagt er. »Dann können wir feiern.«
»Oder Sie bemitleiden mich.«
Er lächelt. »Oder das.«
Ich stehe auf, als wollte ich gehen. Das Herz schlägt mir bis zum Hals.
»Wissen Sie … die Frage ist vielleicht ein bisschen seltsam. Ich hoffe, es ist trotzdem okay, wenn ich sie stelle? Bevor ich jetzt aufbreche? Ich schätze, Sie kennen eine Menge Einheimische.«
»Viel zu viele«, sagt er. »Was wollen Sie wissen?«
»Ich versuche, jemanden zu finden. Meine Freundin und ich haben ihn kennengelernt, als wir damals hier waren … vor einer Ewigkeit. Er wohnte in Austin und tut das wahrscheinlich noch immer. Meine Freundin hat sich total in ihn verknallt.
Er mustert mich neugierig. »Okay …«
»Um es kurz zu machen: Sie steckt gerade in einer hässlichen Scheidung, und er ist ihr nie aus dem Kopf gegangen. Ich weiß, dass es lächerlich klingt, aber ich dachte, wo ich sowieso schon in der Stadt bin, könnte ich versuchen, ihn ausfindig zu machen. Sie hatten gleich einen Draht zueinander. Ist eine Ewigkeit her, trotzdem passiert so etwas nicht allzu häufig …«
»Wissen Sie, wie er heißt?«, fragt er. »Nicht, dass ich ein tolles Namensgedächtnis hätte.«
»Und wie ist es mit Gesichtern?«
»Gesichter kann ich mir gut merken«, sagt er.
Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und suche das Foto von Owen heraus. Es ist das Bild, das wir auch Professor Cookman gezeigt haben, das Bailey mir von ihrem Handy aus geschickt hat. Ihr Gesicht von Blumen verdeckt, Owen glücklich lächelnd.
Charlie mustert das Foto.
Dann geht alles ganz schnell. Er schleudert mein Handy auf den Tresen, springt mit einem Satz herüber und steht direkt vor mir. Er berührt mich nicht, aber es fehlt nicht viel.
»Finden Sie das witzig?«, fragt er. »Wer sind Sie?«
Verängstigt schüttele ich den Kopf.
»Wer hat Sie geschickt?«, fragt er.
»Niemand.«
Ich weiche zurück, bis ich mit dem Rücken zur Wand stehe. Er folgt mir, unsere Gesichter sind nur Zentimeter voneinander entfernt.
»Sie wühlen in meinen Familienangelegenheiten herum«, sagt er. »Wer hat Sie geschickt?«
»Lassen Sie sie in Ruhe!«
Ich schaue zur Tür und sehe Bailey. In der einen Hand hält sie Professor Cookmans Liste, in der anderen einen Becher Kaffee.
Sie wirkt ängstlich, aber vor allem wütend. Als könnte sie jederzeit mit einem Barhocker auf ihn losgehen.
Charlie sieht sie an, als wäre ihm ein Gespenst erschienen.
»Ach du Scheiße!«, sagt er.
Langsam zieht er sich von mir zurück. Ich atme mehrmals tief durch, mein Puls hört auf zu rasen.
Es ist eine seltsame Pattsituation. Bailey und Charlie starren sich gegenseitig an, während ich mich von der Wand abstoße. Wir stehen dicht beieinander, aber niemand rührt sich. Plötzlich bricht Charlie in Tränen aus.
»Kristin?«, fragt er.
Als ich höre, wie er sie beim Namen nennt – einem Namen, den ich nie gehört habe –, stockt mir der Atem.
»Ich heiße nicht Kristin«, sagt sie kopfschüttelnd und mit belegter Stimme.
Ich hebe mein Handy vom Boden auf. Über das Display zieht sich ein Riss, aber das Gerät funktioniert. Es funktioniert trotz allem. Ich könnte die 9-1-1 wählen. Ich könnte Hilfe rufen. Langsam nähere ich mich Bailey.
Beschütze sie.
Charlie hebt kapitulierend die Hände. Hinter Bailey und mir liegt die blaue Tür. Und gleich dahinter die Treppe, die in die Außenwelt führt.
»Hören Sie, es tut mir leid. Ich kann es erklären. Setzen Sie sich doch einen Moment«, sagt er. »Könnten Sie sich beide setzen? Ich habe etwas zu sagen, wenn es Sie interessiert.«
Er deutet auf einen Tisch, an dem wir alle Platz finden würden. Dann tritt er einen Schritt zurück, wie um zu demonstrieren, dass er uns die Wahl lässt. In seinen Augen sehe ich, dass es ihm ernst ist. Sie wirken eher traurig als aggressiv.
Aber sein Gesicht ist noch knallrot, ich habe Angst vor der Wut und der Panik, die ich dort gesehen habe. Was immer der Grund gewesen sein mag, ich kann nicht zulassen, dass Bailey in der Nähe ist, solange ich nicht weiß, worum es ihm geht. Solange ich nur vermuten kann, in welcher Verbindung er zu Bailey steht.
Also drehe ich mich zu ihr um. Ich drehe mich um, packe ihr T-Shirt und ziehe sie unsanft zur Tür.
»Raus!«, sage ich. »Sofort!«
Und als hätten wir so etwas schon tausendmal gemacht, laufen wir zusammen die Treppe hinunter. Raus auf die Straße, weg von Charlie Smith.