ALS WIR JUNG WAREN

D as Büro des U.S. Marshals Service liegt in einer kleinen Seitenstraße im Zentrum von Austin. Von den Fenstern aus sieht man auf andere Gebäude und ein Parkhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die meisten dieser Gebäude liegen jetzt im Dunkeln und sind über Nacht verwaist. Der Parkplatz ist weitgehend leer. Aber in den Büros von Grady und seinen Kollegen herrscht reger Betrieb.

»Gehen wir es noch einmal durch«, sagt Grady.

Er sitzt auf der Kante seines Schreibtischs, während ich im Zimmer auf und ab laufe. Ich spüre, dass er mir Vorwürfe macht, aber das ist nicht nötig. Niemand macht mir mehr Vorwürfe als ich selbst. Bailey ist verschwunden. Sie ist weg. Sie ist irgendwo da draußen, allein.

»Wie soll uns das helfen, Bailey zu finden?«, frage ich. »Entweder Sie verhaften mich jetzt, oder ich mache mich auf die Suche.«

Ich marschiere Richtung Ausgang, aber Grady springt von seinem Schreibtisch und stellt sich mir in den Weg.

»Wir haben acht Deputys abgestellt, die nach ihr suchen«, sagt er. »Was Sie jetzt tun müssen, ist, alles noch einmal durchzugehen. Wenn Sie uns helfen wollen, sie zu finden, ist das die einzige Möglichkeit.«

Ich starre ihn an, lenke aber schließlich ein, denn er hat recht.

Ich gehe zum Fenster hinüber und schaue nach draußen, als könnte ich damit irgendetwas bewirken – als könnte ich Bailey unten auf der Straße entdecken. Ich weiß nicht genau, wen ich wirklich sehe – im abendlichen Austin sind Unmengen von Menschen unterwegs. Die Mondsichel über den dunklen Häusern macht die Vorstellung, dass Bailey ein Teil der Menge sein könnte, noch erschreckender.

»Und wenn er sie entführt hat?«, frage ich.

»Nicholas?«

Ich nicke, in meinem Kopf dreht sich alles. Zwanghaft gehe ich durch, was ich über ihn weiß – wie gefährlich er ist, was Owen unternommen hat, um von ihm wegzukommen, um seine Tochter vor Nicholas’ Welt zu schützen. Und dass ich sie hierher zurückgebracht habe.

Beschütze sie.

»Das ist unwahrscheinlich«, sagt Grady.

»Aber nicht unmöglich?«

»Jetzt, wo Sie das Mädchen nach Austin gebracht haben, ist wahrscheinlich gar nichts unmöglich.«

Eigentlich will ich getröstet werden, aber dafür hat Grady im Moment offenbar keinen Sinn. »Er kann uns nicht so schnell gefunden haben …«, sage ich.

»Nein, wahrscheinlich nicht.«

»Wie haben Sie uns überhaupt gefunden?«, frage ich.

»Na ja, Ihr Anruf heute Morgen war leider keine große Hilfe. Aber dann hat sich Ihr Anwalt gemeldet, ein gewisser Jake Anderson aus New York. Er hat mir gesagt, Sie seien in Austin und er könne Sie nicht erreichen. Er hatte Angst. Also habe ich Ihr Handy überwachen lassen. Offenbar ein bisschen zu spät …«

Ich drehe mich zu ihm um.

»Was zum Teufel hat Sie eigentlich auf die Idee gebracht, nach Austin zu kommen?«, fragt er plötzlich.

»Zum Beispiel, dass Sie bei mir zu Hause aufgetaucht sind. Das fand ich verdächtig.«

»Owen hat mir gar nicht erzählt, dass Sie Privatdetektivin sind.«

»Owen hat mir von dem allen nichts erzählt.«

Wahrscheinlich ist es unklug, weiter darauf herumzureiten, dass ich nicht hergekommen wäre, wenn Grady mir die Wahrheit gesagt hätte. Wenn irgendwer mir die Wahrheit über Owen und seine Vergangenheit gesagt hätte. Grady ist zu wütend, um sich dafür zu interessieren. Trotzdem kann ich es nicht lassen. Wenn hier irgendwem die Schuld in die Schuhe geschoben werden soll, dann bitte nicht mir.

»In den vergangenen zweiundsiebzig Stunden habe ich erfahren, dass mein Ehemann nicht derjenige ist, für den ich ihn gehalten habe. Was sollte ich denn tun?«

»Das habe ich Ihnen in Sausalito schon gesagt: sich bedeckt halten und sich einen Anwalt suchen. Und mich in Ruhe meinen Job machen lassen.«

»Und was heißt das genau?«

»Owen hat sich vor mehr als zehn Jahren entschieden, seine Tochter aus einem Milieu herauszuholen, vor dem er sie auf keine andere Art schützen konnte.«

»Aber Jake hat mir gesagt … Ich dachte, Owen sei nicht im Zeugenschutzprogramm.«

»Jake hat recht. Owen war nicht in diesem Programm. Nicht direkt.«

Verwirrt schaue ich ihn an. »Was zum Teufel soll das jetzt heißen?«

»Nachdem Owen sich zur Aussage entschlossen hatte, wollten wir ihn in das Programm aufnehmen, aber er fühlte sich nie wirklich sicher. Seiner Meinung nach gab es zu viele undichte Stellen, er musste zu vielen Leuten trauen. Dann, während des Prozesses, ist tatsächlich etwas nach außen gedrungen.«

»Was meinen Sie damit?«

»Jemand im New Yorker Büro hat die Identitäten verraten, die wir für Owen und Bailey vorgesehen hatten«, sagt er. »Von dem Moment an hat Owen jegliche Einmischung der Behörden abgelehnt.«

»Das ist schockierend«, sage ich.

»So etwas kommt selten vor, aber ich verstehe, dass er lieber einen anderen Weg gewählt hat und mit Bailey verschwunden ist. Niemand wusste, wo sie hinwollten. Auch im Marshals Service wusste niemand Bescheid. Wir haben dafür gesorgt, dass es keine Verbindung zu ihm gab, die sich hätte nachvollziehen lassen.«

Grady ist durchs halbe Land geflogen, um nach Owen und seiner Familie zu sehen. Um Owen aus dem Schlamassel herauszuhelfen.

»Mit Ausnahme von Ihnen, heißt das?«

»Mir hat er vertraut«, erklärt er. »Vielleicht weil er wusste, dass ich hier neu war. Vielleicht weil ich mir sein Vertrauen verdient habe. Da müssten Sie ihn selbst fragen.«

»Im Augenblick kann ich ihn gar nichts fragen«, stelle ich fest.

Grady kommt zum Fenster herüber und lehnt sich dagegen. Vielleicht ist es Wunschdenken, aber ich entdecke in seinen Augen so etwas wie Mitgefühl.

»Owen und ich reden nicht viel miteinander«, sagt er. »Im Prinzip lebt er einfach sein Leben. Bei unserer letzten intensiveren Unterhaltung hat er mir erzählt, dass er Sie heiraten wollte.«

»Was hat er gesagt?«

»Dass Sie für ihn alles verändert hätten. Dass er nie zuvor so verliebt gewesen sei.«

Ich schließe die Augen, so tief treffen mich die Worte. Umgekehrt empfinde ich genau dasselbe.

»Um ehrlich zu sein, habe ich versucht, ihm die Hochzeit auszureden«, sagt Grady. »Ich habe ihm gesagt, seine Gefühle würden sich wieder legen.«

»Na, besten Dank.«

»Er hat nicht auf mich gehört, als ich ihm geraten habe, sich von Ihnen zu trennen. Aber offenbar hat er meinen Rat immerhin so weit befolgt, dass er Ihnen nichts über seine Vergangenheit erzählt hat. Weil es gefährlich für Sie hätte werden können. Ich habe gesagt, wenn er wirklich mit Ihnen zusammen sein wolle, müsse er seine Vergangenheit aus dem Spiel lassen.«

Ich stelle mir vor, wie wir zusammen im Bett lagen und Owen innerlich mit der Frage rang, ob er sich mir anvertrauen sollte – wie Owen mir die volle Wahrheit über seine Vergangenheit erzählen wollte. Vielleicht hat Gradys Warnung verhindert, dass wir uns der Sache gemeinsam stellen konnten.

»Ist das Ihre Art, mir zu sagen, dass ich nicht ihm, sondern Ihnen Vorwürfe machen soll?«, frage ich ihn. »Denn dazu bin ich gern bereit.«

»Es ist meine Art, Ihnen zu sagen, dass jeder von uns Geheimnisse hat, die er nicht mit anderen teilt. Vielleicht wie bei Ihnen und Ihrem Anwalt? Jake hat mir gesagt, dass Sie beide mal verlobt waren.«

»Das ist kein Geheimnis«, sage ich. »Owen wusste genau über Jake Bescheid.«

»Und was glauben Sie, wie er sich fühlen würde, wenn er wüsste, dass Sie Jake in die Sache hineingezogen haben?«

Mir blieb keine andere Wahl , würde ich am liebsten sagen. Aber ich weiß, wie sinnlos es wäre, mit ihm zu streiten. Grady will mich in die Defensive drängen, vielleicht weil er glaubt, dann leichter etwas von mir zu bekommen – nicht, dass ich ihm ein Geheimnis anvertraue, eher, dass ich meinen Widerstand aufgebe. Meinen Widerstand dagegen, mir von ihm vorschreiben zu lassen, was wir jetzt tun sollen.

»Grady, warum ist Owen weggelaufen?«

»Weil er es musste«, sagt er.

»Wie meinen Sie das?«

»Wie viele Fotos von Avett haben Sie diese Woche in den Nachrichten gesehen? Die Medien hätten sich auch über Owen hergemacht. Dann wäre sein Foto überall zu sehen gewesen, und Nicholas’ Leute hätten sofort versucht, ihn aufzuspüren. Er hat sein Äußeres zwar verändert, wäre auf den zweiten Blick aber zu erkennen gewesen. Das konnte er nicht riskieren. Deshalb musste er vorher verschwinden«, sagt er. »Bevor er Baileys Leben zerstört hätte.«

Ich lasse seine Worte auf mich wirken. Aus dieser Perspektive verstehe ich besser, warum er keine Zeit hatte, mir irgendetwas zu erzählen – warum er sich auf der Stelle aus dem Staub machen musste.

»Er wusste, dass man ihn festnehmen würde«, sagt er. »Und dann hätte man ihm Fingerabdrücke abgenommen, so wie Jordan Maverick heute Nachmittag. Und so wäre herausgekommen, wer er wirklich ist. Game over.«

»Dann halten Sie Owen also für schuldig?«, frage ich. »Naomi, das FBI , wer auch immer?«

»Nein. Aber sie glauben, dass er ihnen viele Fragen beantworten kann. Wenn Sie meine Meinung dazu hören wollen, ob Owen aktiv an dem Betrug mitgewirkt hat, würde ich sagen, wahrscheinlich nicht.«

»Und was wäre Ihrer Meinung nach wahrscheinlich?«

»Dass Avett über Owen Bescheid wusste.«

Ich schaue ihm in die Augen.

»Nicht über die Einzelheiten, darüber hätte Owen nie mit ihm gesprochen. Aber Avett war natürlich bewusst, dass er jemanden einstellte, der sozusagen aus dem Nichts kam. Keine nennenswerten Referenzen, keine Verbindungen in der Branche. Damals hat Owen mir erzählt, Avett suche einfach nach dem besten Programmierer, den er kriegen könne, aber ich schätze, er wollte jemanden, den er in der Hand hatte, falls es sich je als nötig erweisen sollte. Und es wurde tatsächlich nötig.«

»Dann glauben Sie, dass Owen wusste, was bei The Shop lief, es aber nicht aufhalten konnte?«, frage ich. »Dass er hoffte, das Problem in den Griff und die Software zum Laufen zu bekommen, bevor er ins Visier geriet?«

»Ja, das glaube ich.«

»Das klingt nach einer ziemlich präzisen Vermutung«, stelle ich fest.

»In gewisser Weise kenne ich Ihren Mann auch ziemlich präzise«, sagt er. »Und er hat schon so lange vorsichtig sein müssen, dass ihm klar war, dass er noch einmal würde verschwinden müssen, wenn es bei The Shop zum Skandal käme. Auch Bailey würde von vorn anfangen müssen. Wobei sie diesmal natürlich die ganze Geschichte erfahren würde. Keine ideale Situation, um es freundlich auszudrücken …« Er hält einen Moment inne. »Ganz abgesehen davon, was Sie würden aufgeben müssen, für den Fall, dass Sie mitgehen würden.«

»Für den Fall, dass ich mitgehen würde?«

»Na ja, mit Ihrem Beruf können Sie schlecht untertauchen, stimmt’s? Auch wenn Sie sich als Möbeldesignerin oder etwas in der Art bezeichnen würden. Sie müssten alles aufgeben. Ihren Beruf, ihre Existenzgrundlage.«

Plötzlich muss ich an eins meiner ersten Dates mit Owen denken. Damals hat er gefragt, was ich tun würde, wenn ich nicht Drechslerin geworden wäre. Ich habe gesagt, es liege wahrscheinlich an meinem Großvater – daran, dass die Arbeit mit Holz im Prinzip das einzig Stabile war, das ich je kennengelernt hatte –, aber ich hätte nie etwas anderes tun wollen. Ich hätte niemals auch nur über eine Alternative nachgedacht.

»Er hat nicht geglaubt, dass ich mit den beiden mitgehen würde, stimmt’s?« Ich richte die Frage mehr an mich selbst als an ihn.

»Das spielt im Moment keine Rolle. Ich habe es geschafft, die Sache nicht hochkochen zu lassen und Ihnen Ihre Freunde vom FBI vom Leib zu halten …«, sagt er. »Aber ich kann sie nicht mehr allzu lange hinhalten, es sei denn, Sie alle werden offiziell unter Schutz gestellt.«

»Sie reden vom Zeugenschutzprogramm?«

»Ja, ich rede vom Zeugenschutzprogramm.«

Ich sage nichts und versuche, mir die Konsequenzen seiner Worte auszumalen. Ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen, wie ein solches Leben aussehen würde. All meine Kenntnisse stammen aus Filmen – Harrison Ford, der in Der einzige Zeuge unter den Amish lebt, Steve Martin, der in My Blue Heaven heimlich die Stadt verlässt, um gute Spaghetti zu essen. Beide wirken deprimiert und verloren. Dann fällt mir ein, was Jake gesagt hat. Dass es im wirklichen Leben noch weniger rosig aussieht.

»Dann müsste Bailey ein ganz neues Leben anfangen?«, frage ich. »Neue Identität? Neuer Name? Bei null anfangen?«

»Ja, und trotzdem würde ich ihr dazu raten«, sagt er. »Ich würde es auch ihrem Vater raten. Es wäre besser als die Situation, wie sie jetzt ist.«

Ich versuche, mir die Tragweite einer solchen Entscheidung klarzumachen. Bailey wäre nicht mehr Bailey. Alles, wofür sie so hart gearbeitet hat – ihre schulische Ausbildung, ihre Noten, das Theater, sie selbst –, wäre mit einem Mal ausradiert. Könnte sie in Zukunft noch in Musicals auftreten, oder wäre das schon verräterisch? Könnte man Owen dadurch auf die Spur kommen? Dass die neue Schülerin in irgendeiner Schule in Iowa in einem Musical mitspielt? Würde Grady dagegen Einspruch erheben? Müsste sie, statt ihren alten Interessen nachzugehen, mit Fechten oder Hockey anfangen oder sogar komplett unter dem Radar bleiben? Wie man es auch dreht und wendet, es würde auf jeden Fall bedeuten, dass Bailey nicht mehr Bailey wäre – und das genau in dem Moment, wo sie auf einzigartige, unnachahmliche Weise sie selbst wird. Schon die bloße Vorstellung, mit sechzehn das eigene Leben aufzugeben, erscheint mir niederschmetternd. In dieser Phase bedeutet es etwas anderes als im Kleinkindalter. Oder mit vierzig.

Und trotzdem. Ich weiß, dass sie diesen Preis zahlen würde, um bei ihrem Vater bleiben zu können. Wir beide würden ihn gern zahlen – wieder und wieder –, wenn es bedeutet, dass wir alle zusammenbleiben können.

Mit diesem Gedanken versuche ich, mich zu trösten. Trotzdem nagt etwas an mir. Da ist noch ein Punkt, dem Grady bisher ausweicht und den ich nicht richtig zu fassen bekomme.

»Eins müssen Sie sich klarmachen«, sagt er. »Nicholas Bell ist ein schlechter Mensch. Am Anfang wollte nicht mal Owen akzeptieren, wie schlecht. Wahrscheinlich, weil Kate loyal zu ihrem Vater gestanden hat. Und Owen war loyal gegenüber Kate und Charlie, dem er ebenfalls ziemlich nahegestanden hat. Die beiden haben geglaubt, ihr Vater wäre ein guter Mann mit dem einen oder anderen fragwürdigen Klienten. Davon haben sie auch Owen überzeugt. Sie haben ihn überzeugt, dass Nicholas ein Strafverteidiger sei, der seinen Job gemacht und selbst nichts Illegales getan habe. Sie haben ihren Vater geliebt. In ihren Augen war er ein guter Vater und ein guter Ehemann. Und damit hatten sie sicher recht. Nur, dass er noch einiges mehr war.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel Komplize bei Mord, Erpressung und Drogenhandel«, sagt er. »Er hat keinen Gedanken an die Menschen verschwendet, die mit seiner tätigen Mithilfe auf die eine oder andere Art ruiniert wurden.«

Ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mir seine Worte an die Nieren gehen.

»Die Leute, für die Nicholas gearbeitet hat, sind skrupellos. Und sie vergessen nichts. Unmöglich zu sagen, welche Druckmittel sie benutzen würden, um an Owen heranzukommen.«

»Sie könnten sich Bailey schnappen?«, frage ich. »Wollen Sie darauf hinaus? Dass sie sich Bailey schnappen würden, um an Owen heranzukommen?«

»Ich will darauf hinaus, dass wir sie möglichst schnell in Sicherheit bringen sollten, um diese Möglichkeit auszuschließen.«

Trotz allem rauben Gradys Worte mir den Atem. Die unverhohlene Andeutung, dass Bailey in Gefahr geraten könnte. Dass Bailey, die allein in Austin herumläuft, vielleicht längst in Gefahr ist .

»Der Punkt ist, dass Nicholas sie nicht aufhalten wird«, sagt er. »Er könnte es nicht, selbst wenn er wollte. Deshalb musste Owen das Mädchen herausholen. Er wusste, dass Nick keine sauberen Hände hat. Und dieses Wissen hat er benutzt, um der Organisation zu schaden, verstehen Sie?«

»Vielleicht erklären Sie mir das etwas ausführlicher?«, sage ich.

»Nicholas steckte anfangs nicht mit drin, aber irgendwann hat er angefangen, für die führenden Köpfe Nachrichten weiterzuleiten. Von den inhaftierten Lieutenants zu den Bossen draußen. Nachrichten, die sich nicht anders übermitteln ließen als durch einen Anwalt. Und dabei ging es nicht um harmlose Themen. Sondern darum, wer bestraft werden musste, wer getötet werden musste. Können Sie sich vorstellen, wissentlich Botschaften weiterzugeben, die dazu führen, dass ein Mann und seine Frau ermordet werden und ihre Kinder elternlos aufwachsen müssen?«

»Und wie kommt Owen ins Spiel?«

»Owen hat Nicholas geholfen, ein Verschlüsselungssystem für diese Nachrichten zu entwickeln. Damit konnten sie, wenn nötig, auch aufgezeichnet werden«, sagt er. »Nachdem Kate getötet wurde, hackte Owen sich ins System ein und spielte uns sämtliche Informationen zu. Sämtliche E-Mails, die ganze Korrespondenz … Nicholas hat mehr als sechs Jahre wegen Verabredung zu Straftaten im Gefängnis gesessen. Was sich direkt aus den Daten beweisen ließ. Einen solchen Verrat an Nicholas Bell begeht man nicht ungestraft.«

Plötzlich sehe ich den Punkt klar vor mir, den ich eben nicht zu fassen bekommen habe, das Detail, um das Grady einen Bogen gemacht hat.

»Warum ist er dann nicht zu Ihnen gekommen?«, frage ich.

»Wie bitte?«

»Warum hat Owen sich nicht direkt an Sie gewandt? Falls Bailey tatsächlich nur in Sicherheit ist, wenn Owen und sie ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden, warum hat Owen sich dann, als die Bombe bei The Shop geplatzt ist, nicht gleich mit Ihnen in Verbindung gesetzt? Warum ist er nicht zu Ihnen gekommen und hat Sie gebeten, uns an einen sicheren Ort zu bringen?«

»Das müssen Sie Owen fragen.«

»Ich frage aber Sie. Wie ist es mit der undichten Stelle damals gelaufen? Haben Ihre Leute die Gefahr im Keim erstickt? Oder war Baileys Leben in Gefahr?«

»Was hat das mit der jetzigen Situation zu tun?«

»Eine ganze Menge. Wenn mein Mann damals zu dem Schluss gelangt ist, dass Sie Baileys Sicherheit nicht gewährleisten können, ist das für die jetzige Situation ziemlich entscheidend, oder?«

»Unterm Strich geht es darum, dass das Zeugenschutzprogramm für Owen und Bailey die beste Chance ist. Punkt.«

Er klingt keine Spur defensiv, aber ich merke, dass meine Frage ihn getroffen hat. Schließlich kann er es nicht leugnen. Wenn Owen überzeugt wäre, dass Grady für Baileys Sicherheit garantieren könnte, für unser aller Sicherheit, dann wäre er jetzt hier bei uns statt … wo auch immer.

»Hören Sie, wir sollten uns jetzt aufs Wesentliche konzentrieren«, sagt er. »Und das heißt, Sie müssen mir helfen herauszufinden, warum Bailey das Hotelzimmer verlassen hat.«

»Ich weiß es nicht«, antworte ich.

»Was vermuten Sie?«

»Ich glaube, Sie wollte Austin nicht verlassen.«

Die Einzelheiten behalte ich für mich. Sie wollte wahrscheinlich noch nicht weg, wo sie doch so dicht davorstand, ihre eigenen Antworten zu finden – Antworten auf Fragen zu ihrer Vergangenheit. Antworten, bei denen ich ihr nicht helfen kann, weil Owen mir nichts an die Hand gegeben hat. Irgendwie beruhigt mich der Gedanke, dass sie allein, aber in Sicherheit ist. Dass sie auf eigene Faust nach einer Wahrheit sucht, weil sie bei dieser Suche niemand anderem traut. Eigentlich sollte ich diesen Charakterzug gut kennen, weil ich selbst so ticke.

»Was glauben Sie, warum sie in Austin bleiben will?«, fragt Grady.

Ich sage das Einzige, was ich im Moment sicher weiß. »Manchmal spürt man es einfach.«

»Was spürt man?«

»Dass man sich selbst um alles kümmern muss.«

*

Grady wird zu einer Besprechung gerufen. Eine Kollegin namens Sylvia Hernandez führt mich einen Gang entlang zu einem Konferenzraum und sagt, ich könne von hier aus telefonieren – als würde der Anruf nicht mitgeschnitten oder nachverfolgt oder was immer sie hier machen, um sicherzugehen, dass sie alles wissen, was man selbst weiß. Noch ehe man es selbst weiß.

Sylvia bleibt draußen vor der Tür sitzen. Ich greife zum Hörer und rufe meine beste Freundin an.

»Ich versuche schon seit Stunden, dich zu erreichen«, sagt Jules als Erstes. »Alles klar bei euch?«

Ich setze mich an den langen Konferenztisch, stütze den Kopf auf die Hände und gebe mir Mühe, nicht auf der Stelle zusammenzubrechen. Auch wenn jetzt, wo Jules mich auffangen kann, der richtige Moment dafür wäre.

»Wo seid ihr?«, fragt sie. »Ich habe gerade einen durchgeknallten Anruf von Jake bekommen. Er hat rumgebrüllt, dein Mann würde dich in Gefahr bringen. Bin ich froh, dass ich nichts mehr mit dem Kerl zu tun hab.«

»Ja, nun, Jake ist Jake«, sage ich. »Er versucht nur zu helfen. Auf seine unglaublich wenig hilfreiche Art.«

»Was gibt’s Neues von Owen? Er hat sich nicht gestellt, oder?«, fragt sie.

»Nein, das ist es nicht …«

»Was ist passiert?«, fragt sie in sanftem Ton, der gleichzeitig sagt, dass sie nicht auf der Stelle eine Erklärung erwartet.

»Bailey ist verschwunden«, sage ich.

»Was?«

»Sie ist abgehauen. Aus dem Hotelzimmer. Wir können sie nicht finden.«

»Sie ist sechzehn.«

»Ich weiß, Jules. Was meinst du, warum ich solche Angst habe?«

»Nein, ich meine, sie ist sechzehn . Manchmal ist es genau das Richtige, für eine Weile zu verschwinden. Ich bin sicher, es geht ihr gut.«

»So einfach ist es nicht«, sage ich. »Hast du schon mal den Namen Nicholas Bell gehört?«

»Sollte ich?«

»Er ist Owens früherer Schwiegervater.«

Sie schweigt, anscheinend dämmert ihr etwas. »Moment, du meinst doch nicht etwa Nicholas Bell … ich meine, den Nicholas Bell? Den Anwalt?«

»Doch, genau den. Was weißt du über ihn?«

»Nicht viel. Ich meine … Ich erinnere mich, dass die Zeitungen über ihn berichtet haben, als er vor ein paar Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde. Ich glaube, er hatte wegen Körperverletzung oder Mord oder so was gesessen. Der war Owens Schwiegervater? Ich glaub’s nicht.«

»Jules, Owen steckt in riesigen Schwierigkeiten. Und ich glaube, ich kann nichts dagegen tun.«

Sie schweigt nachdenklich. Ich spüre, wie sie versucht, sich einiges von dem zusammenzureimen, was ich ihr nicht erzähle.

»Das kriegen wir hin«, sagt sie. »Versprochen. Zuerst holen wir Bailey und dich nach Hause. Dann überlegen wir, wie wir weiter vorgehen.«

Ich spüre, wie mein Herz sich zusammenzieht. So hat sie es immer gemacht – so haben wir es füreinander gemacht. Und deshalb bekomme ich plötzlich keine Luft mehr. Bailey läuft durch diese fremde Stadt. Aber selbst, wenn wir sie finden – und ich muss einfach glauben, dass die Beamten sie bald entdecken –, können wir nicht zurück nach Hause. Nie mehr, wie Grady mir eben erklärt hat.

»Bist du noch da?«, fragt sie.

»Bin ich«, sage ich. »Was hast du gesagt, wo du bist?«

»Zu Hause. Und ich hab ihn offen.«

Ihr bedeutungsschwangerer Ton sagt mir, dass sie von dem Safe spricht, dem kleinen Safe im Sparschwein.

»Tatsache?«

»Ja. Max hat einen Panzerknacker im Zentrum von San Francisco aufgetan. Wir waren vor einer Stunde bei ihm. Der Kerl heißt Marty und ist schätzungsweise siebenundneunzig. Verrückt, was der alte Mann draufhat. Er hat dem Mechanismus fünf Minuten zugehört und ihn auf die Art geöffnet. Das blöde kleine Sparschwein aus Stahl.«

»Was war drin?«

Sie hält kurz inne. »Ein Testament. Der letzte Wille von Owen Michaels, geborener Ethan Young. Soll ich dir sagen, was drinsteht?«

Ich mache mir klar, wer uns zuhört. Wenn Jules jetzt zu lesen anfängt, kommt Owens Testament noch anderen Leuten zu Ohren. Es ist nicht das Testament, das ich auf Owens Laptop entdeckt habe, sondern das, auf das in der Laptop-Version angespielt wird, in einer Art geheimen Botschaft an mich.

Owens echtes, vollständigeres Testament. Ethans Testament.

»Jules, dieser Anruf wird wahrscheinlich mitgehört. Ich denke, wir sollten uns auf ein paar Punkte konzentrieren, okay?«

»Natürlich.«

»Was steht da über das Sorgerecht für Bailey?«

»Du stehst an erster Stelle«, sagt sie. »Falls er stirbt, aber auch für den Fall, dass er sich nicht selbst um sie kümmern kann.«

Owen hat Vorsorge für diese Situation getroffen. Er hat dafür gesorgt, dass Bailey zu mir kommt. Ab welchem Zeitpunkt hat er mir so vertraut, dass er diese Entscheidung getroffen hat? Wann ist er zu dem Schluss gelangt, dass es das Beste für sie wäre, bei mir zu sein? In meinem Inneren bricht etwas auf, als ich mir bewusst mache, dass er sie mir anvertrauen wollte. Nur, dass sie jetzt vermisst wird, dass sie irgendwo in dieser Stadt ist. Und ich habe zugelassen, dass es so weit kommt.

»Hat er noch andere Namen genannt?«, frage ich.

»Ja. Es gibt verschiedene Anweisungen, abhängig von ihrem Alter und der Frage, ob du für sie sorgen kannst oder nicht.«

Während sie liest, höre ich aufmerksam zu, mache mir Notizen, schreibe die Namen auf, die ich kenne. Aber in Wahrheit warte ich auf einen ganz bestimmten Namen – den Menschen, von dem ich nicht weiß, ob ich ihm trauen kann, ob Owen ihn für vertrauenswürdig hält, trotz aller Hinweise auf das Gegenteil. Als ich den Namen höre, als sie »Charlie Smith«, sagt, höre ich auf zu schreiben. Ich erkläre, dass ich Schluss machen muss.

»Pass auf dich auf«, sagt Jules. Statt »Auf Wiedersehen«, statt ihres üblichen »Hab dich lieb«. Angesichts der Umstände, angesichts dessen, was ich jetzt tun muss, kommt es aufs Selbe hinaus.

Ich stehe auf und werfe einen Blick durch die Fensterfront des Konferenzraums. Obwohl es zu regnen begonnen hat, ist das Nachtleben von Austin in vollem Gange. Ich sehe Fußgänger mit Schirmen, auf dem Weg zum Abendessen oder irgendwelchen Shows, zu einem Schlummertrunk oder einem Spätfilm. Vielleicht sind sie auch zu dem Schluss gekommen, dass es genug für heute ist, dass der Regen heftiger wird und sie lieber nach Hause möchten. Die Glücklichen.

Ich drehe mich zur Glastür um, hinter der immer noch U.S. Marshal Sylvia sitzt. Sie widmet sich ihrem Handy. Entweder hat sie kein Interesse an mir, oder sie ist mit etwas Wichtigerem als ihrem Babysitter-Job beschäftigt. Vielleicht mit der Aufgabe, über die ich nur zu gut im Bilde bin: Owen zu finden, Bailey zu finden.

Ich will gerade auf den Gang hinaustreten und mich nach dem Stand der Dinge erkundigen, als Grady auftaucht.

Noch während er klopft, öffnet er die Tür und lächelt mich an. Er wirkt jetzt sanfter, ein Stück gelöster.

»Die Kollegen haben sie gefunden«, sagt er. »Sie haben Bailey. Sie ist in Sicherheit.«

Ich seufze, Tränen treten mir in die Augen. »Oh, Gott sei Dank. Wo ist sie?«

»Auf dem Campus. Meine Kollegen bringen sie hierher«, sagt er. »Können wir uns vorher kurz unterhalten? Ich denke, es ist wirklich wichtig, dass wir ihr gegenüber am selben Strang ziehen, was das weitere Vorgehen betrifft.«

Was das weitere Vorgehen betrifft. Damit meint er seinen Plan, sie woanders hinzubringen, uns woanders hinzubringen. Er meint, ich soll ihm helfen, sie zu beruhigen, wenn er ihr erklärt, dass ihr bisheriges Leben auf einen Schlag beendet ist.

»Und es gibt noch etwas, worüber wir reden müssen«, sagt er. »Ich wollte es eben nicht erwähnen, aber ich war nicht ganz offen zu Ihnen …«

»Was Sie nicht sagen.«

»Wir haben gestern ein Päckchen mit einer Speicherkarte bekommen, die Owens berufliche E-Mails enthält. Ich habe überprüfen lassen, ob sie echt sind, und das sind sie. Er hat peinlich genau dokumentiert, wie Avett Druck ausgeübt hat, um den Börsengang gegen Owens Einwände durchzuziehen. Und was er selbst versucht hat, um die Probleme noch rechtzeitig zu lösen …«

»Dann ging es also nicht nur um eine präzise Vermutung, wie ich es eben genannt habe? Was Owens Rolle betrifft?«

»Nein, wahrscheinlich nicht.«

»Das heißt, nicht Sie haben dafür gesorgt, dass das FBI die Füße stillhält, sondern letztlich mein Mann?«

Obwohl ich mich bemühe, möglichst ruhig zu bleiben, ist meine Stimme lauter geworden. Owen tut offensichtlich alles, um uns zu beschützen, selbst in seinem Versteck noch. Aber ich traue Grady nicht zu, dass auch ihm das gelingt.

»Er hat jedenfalls seinen Teil dazu beigetragen«, räumt Grady ein. »Die Kriterien für die Aufnahme ins Zeugenschutzprogramm sind recht anspruchsvoll, und diese Dateien in Verbindung mit seiner Vorgeschichte illustrieren ziemlich deutlich, warum er nicht zu den Behörden gegangen ist. Warum er keine andere Chance gesehen hat, als an Bord zu bleiben.«

Seine Worte lösen bei mir eine seltsame Mischung aus Erleichterung und einem Gefühl aus, das ich noch nicht richtig einordnen kann. Zuerst halte ich es einfach für den Ärger darüber, dass Grady mir die Information bis gerade eben vorenthalten hat. Dann wird mir klar, dass es noch etwas Weitergehendes ist. Denn mehr und mehr wird mir klar, was Grady mir sonst noch vorenthalten hat.

»Und warum teilen Sie mir das ausgerechnet jetzt mit?«, will ich wissen.

»Weil wir mit einer Stimme sprechen müssen, wenn Bailey hier auftaucht. Über das Zeugenschutzprogramm, über den besten Weg, wie es mit Ihnen weitergehen kann. Mir ist klar, dass es sich Ihnen im Moment anders darstellt, aber Sie müssten nicht bei null anfangen, jedenfalls nicht komplett.«

»Was soll das heißen?«

»Es heißt, dass wir das Geld, das Owen für Bailey zurückgelassen hat, als ehrlich verdientes Einkommen betrachten, das Owen zur Seite gelegt hat. Sie starten im Zeugenschutzprogramm mit einem hübschen finanziellen Polster. Davon können die meisten anderen nur träumen.«

»Das klingt, als wollten Sie sagen, dass wir das Geld verlieren, wenn wir Ihr Angebot ablehnen …«

»Wenn Sie ablehnen, verlieren Sie alles«, sagt Grady. »Sie verlieren die Möglichkeit, als Familie ein sicheres Leben zu führen.«

Ich nicke, denn ich habe längst begriffen, wovon Grady mich überzeugen will – mitzuziehen und gemeinsam mit Bailey in das Schutzprogramm einzutreten. Weil es gar keine andere Möglichkeit gibt, weil alles dafür vorbereitet ist, dass Owen Teil dieses neuen Lebens wird. Alles ist vorbereitet, um unsere Familie wieder zusammenzuführen. Mit neuen Namen, aber zusammen.

Nur, dass ich trotz Gradys Hartnäckigkeit meine Gefühle nicht ignorieren kann. Meine Zweifel. Ich weiß, dass auch Owen nicht wollen würde, dass ich sie ignoriere. Die Zweifel, die mich überkommen, wenn ich an das Leck im Zeugenschutzprogramm und an Nicholas Bell denke. Meine Zweifel, wenn ich mir Owens blitzartigen Abgang ins Gedächtnis rufe, für den es – so wie ich meinen Mann kennengelernt habe – nur eine Erklärung geben kann. Alles, was ich über Owen weiß, drängt mich in eine andere Richtung.

Unterdessen redet Grady unverdrossen weiter. »Wir müssen Bailey nur klarmachen, dass es der beste Weg ist, damit sie so sicher wie möglich leben kann.«

So sicher wie möglich. Er sagt nicht einfach »sicher«. Denn Sicherheit gibt es keine. Nicht mehr.

Bailey irrt nicht mehr durch die Stadt, sie ist auf dem Weg in dieses Büro, in eine Welt, in der so sicher wie möglich bedeutet, dass sie ein anderer Mensch werden muss. Dass Bailey nicht mehr Bailey sein darf.

Es sei denn, es gelingt mir, das zu verhindern.

Also wappne ich mich für das, was ich jetzt tun muss.

»Hören Sie, wir können über all das reden«, sage ich. »Wie wir am besten mit Bailey umgehen. Aber erst muss ich zur Toilette … mir ein bisschen Wasser ins Gesicht spritzen. Ich bin seit vierundzwanzig Stunden auf den Beinen.«

Er nickt. »Kein Problem.«

Dann hält er mir die Tür auf. Bevor ich den Konferenzraum verlasse, bleibe ich kurz im Türrahmen stehen, ganz nah bei ihm. Das Wichtigste ist jetzt, dass er mir glaubt.

»Ich bin so erleichtert, dass sie in Sicherheit ist«, erkläre ich.

»Ich auch«, sagt er. »Mir ist schon klar, dass es keine leichte Entscheidung ist, aber sicher die beste. Sie werden schon sehen, dass Bailey sich schneller daran gewöhnt, als Sie glauben. Dann verliert es seinen Schrecken. Sie werden zusammen sein, und wir bringen Owen zu Ihnen, sobald er wieder auftaucht. Ich bin sicher, dass Owen schon darauf wartet. Dass er Sie erst in Sicherheit wissen will, dass alles geregelt ist …«

Dann lächelt er. Und ich tue das einzig Richtige: Ich erwidere sein Lächeln. Ich lächle, als würde ich ihm abnehmen, dass er weiß, warum Owen sich noch versteckt hält. Als würde ich glauben, ein Umzug wäre die beste Lösung, um ihn und seine Tochter wieder zusammenzubringen und ihnen ein sicheres Leben zu ermöglichen. Als würde ich glauben, dass irgendjemand besser auf Bailey aufpassen könnte als ich.

Gradys Handy klingelt. »Ich muss kurz rangehen«, sagt er.

»Darf ich?« Ich deute Richtung Toiletten.

»Klar doch. Gehen Sie nur.«

Er tritt ans Fenster. Er konzentriert sich bereits auf die Person am anderen Ende der Leitung.

Ich gehe Richtung Toiletten und drehe mich noch einmal um, weil ich wissen muss, ob Grady mir nachsieht. Das tut er nicht. Er wendet mir den Rücken zu, das Handy am Ohr. Er dreht sich auch nicht um, als ich an der Tür zu den Toiletten vorbei zum Aufzug gehe und den Knopf für »Abwärts« drücke. Er starrt weiterhin aus dem Fenster, hinaus in den Regen.

Zum Glück kommt der Aufzug schnell. Ich springe hinein, bin allein in der Kabine, und drücke den Knopf zum Schließen der Tür. Als ich in den Eingangsbereich komme, stelle ich mir vor, wie Grady sein Gespräch beendet, wie er Sylvia Hernandez zur Damentoilette schickt, um nach mir Ausschau zu halten.

Hinter der ersten Straßenecke male ich mir aus, wie sie und Grady auf den Konferenztisch schauen und sehen, was ich dort für sie habe liegen lassen. Ich habe den Zettel unter das Festnetztelefon gelegt. Die Nachricht, die Owen mir hinterlassen hat. Grady soll sie finden.

Beschütze sie.

Mit schnellen Schritten gehe ich durch die unbekannten Straßen von Austin. Ich muss jetzt für Bailey da sein. Für sie und Owen, so gut ich kann. Selbst wenn ich dazu an den Ort zurückkehren muss, an den es mich am wenigsten zieht.