THE NEVER DRY , TEIL 2

D as The Never Dry hat jetzt geöffnet.

Unter den Gästen sind Angestellte, die ihren Feierabend einläuten, ein paar Studierende aus den oberen Semestern und ein Pärchen – er mit stachligen grünen Haaren, sie mit Sleeve-Tattoo –, das sich selbst genug ist.

Ein junger sexy Barkeeper in Weste und Krawatte hält hinter dem Tresen Hof und schenkt dem Paar identische Manhattans ein. Eine Frau im Jumpsuit beobachtet ihn und wartet auf ihre Chance, noch etwas zu bestellen, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Und dann ist da noch Charlie. Er sitzt allein in der Nische seines Großvaters und trinkt ein Glas Whiskey, die Flasche steht gleich daneben.

Offenbar tief in Gedanken versunken, streicht er über das Glas. Vielleicht geht er unsere Begegnung im Kopf noch einmal durch und fragt sich, was er hätte anders machen können, als diese Frau, die er nicht kannte, aufgetaucht ist. Und die Nichte, die er gern wieder kennengelernt hätte.

Ich trete an seinen Tisch. Zuerst bemerkt er mich nicht. Als er mich schließlich wahrnimmt, wirkt er nicht wütend, sondern ungläubig.

»Was machen Sie hier?«, fragt er.

»Ich muss mit ihm reden«, sage ich.

»Mit wem?«

Ich antworte nicht, denn das ist nicht nötig. Er weiß genau, von wem ich spreche. Er weiß, wen ich treffen will.

»Kommen Sie mit«, sagt er.

Dann steht er auf, führt mich durch einen Gang, vorbei an den Toiletten und dem Sicherungskasten, bis wir die Küche erreichen.

Charlie zieht mich durch die Schwingtür hinein.

»Haben Sie eine Ahnung, wie viele Bullen heute Abend hier aufgekreuzt sind? Noch haben sie mir keine Fragen gestellt, aber sie legen es darauf an, dass ich sie sehe. Ich soll wissen, dass sie hier sind.«

»Ich glaube nicht, dass das Polizisten sind«, sage ich. »Wahrscheinlich U.S. Marshals.«

»Finden Sie das witzig?«

»Überhaupt nicht.«

Dann schaue ich ihm direkt in die Augen.

»Sie mussten ihm sagen, dass wir hier waren, Charlie. Er ist Ihr Vater. Sie ist Ihre Nichte. Sie beide haben die ganze Zeit, seit er sie mitgenommen hat, nach ihr gesucht. Sie konnten es nicht für sich behalten, selbst wenn Sie es gewollt hätten.«

Charlie drückt die Tür zum Notausgang auf, von der eine Treppe hinunter auf die Gasse führt.

»Sie müssen gehen«, sagt er.

»Das kann ich nicht.«

»Warum nicht?«

Ich zucke die Achseln.

»Ich kann nirgendwohin.«

Es ist die Wahrheit. So ungern ich es mir – geschweige denn ihm – eingestehe: Charlie ist meine einzige Chance, alles wieder in Ordnung zu bringen.

Vielleicht spürt er es. Jedenfalls hält er inne, und ich sehe, wie seine Entschlossenheit ins Wanken gerät. Er lässt die Tür wieder zufallen.

»Ich muss mit Ihrem Vater sprechen«, sage ich. »Und ich bitte den Freund meines Mannes, das für mich zu arrangieren.«

»Ich bin nicht sein Freund.«

»Ich glaube nicht, dass das stimmt«, sage ich. »Meine Freundin Jules hat Ethans Testament für mich gefunden.« Ich benutze den Namen Ethan . »Sein richtiges Testament. Sie tauchen darin auf. Er hat Sie als Sorgeberechtigten für Bailey aufgeführt, zusammen mit mir. Er wollte, dass Sie sich um sie kümmern, falls ihm etwas zustößt. Ich sollte mich um Bailey kümmern, und Sie auch.«

Als meine Worte zu ihm durchdringen, nickt er langsam. Für einen Moment glaube ich, er fängt an zu weinen. Seine Augen werden feucht, er greift sich an die Stirn und zupft an seinen Augenbrauen herum, als wolle er die Tränen zurückhalten. Tränen der Erleichterung über die Chance, seine Nichte wiederzusehen – und Tränen tiefer Trauer, weil das zehn Jahre lang nicht möglich war.

»Und was wollen Sie von meinem Vater?«, fragt er dann.

»Ich glaube nicht, dass Ethan will, dass sie Kontakt zu Nicholas hat. Aber die Tatsache, dass mein Mann Sie erwähnt hat, sagt mir, dass er Ihnen vertraut, auch wenn Sie selbst offenbar ziemlich gemischte Gefühle haben.«

Er schüttelt den Kopf, als könne er nicht glauben, dass dies alles wirklich passiert. Das Gefühl ist mir nicht fremd.

»Hier geht es um eine uralte Auseinandersetzung«, sagt er. »Und Ethan ist nicht unschuldig, auch wenn Sie das glauben. Aber Sie kennen nicht die ganze Geschichte.«

»Das ist mir schon klar.«

»Was erwarten Sie dann? Dass Sie mit meinem Vater sprechen und zwischen ihm und Ethan vermitteln können? Es spielt keine Rolle. Nichts, was Sie sagen, spielt eine Rolle. Ethan hat meinen Vater verraten. Er hat das Leben meines Vaters zerstört, was letztlich zum Tod meiner Mutter geführt hat. Und wenn ich es nicht schaffe, etwas zu heilen, dann schaffen Sie es erst recht nicht.«

Charlie kämpft mit sich, unübersehbar. Ich sehe, wie er damit ringt, was er mir über seinen Vater erzählen kann und über Owen. Wenn er mir zu wenig sagt, wird er mich nicht los. Und vielleicht wird er mich auch nicht los, wenn er zu viel sagt. Mich loszuwerden, darum geht es ihm. Er glaubt, dass es für alle das Beste ist, wenn ich verschwinde. Aber ich denke ein Stück weiter. Ich weiß, dass es nur eine Möglichkeit gibt, alles zum Besseren zu verändern.

»Seit wann sind Sie mit Ethan verheiratet?«

»Was spielt das für eine Rolle?«

»Er ist nicht der Mann, für den Sie ihn halten.«

»Das habe ich jetzt schon häufiger gehört.«

»Was hat er Ihnen erzählt?«, fragt er. »Über meine Schwester?«

Nichts , möchte ich sagen. Nichts, wovon ich weiß, dass es stimmt. Schließlich hat sie weder feuerrote Haare noch liebt sie Naturwissenschaften. Sie hat kein College in New Jersey besucht. Vielleicht konnte sie nicht mal schwimmen. Mir ist jetzt klar, warum er uns das alles erzählt hat – warum er sich so eine komplizierte Hintergrundgeschichte ausgedacht hat. Im unwahrscheinlichen Fall, dass Bailey jemals der falschen Person über den Weg laufen würde, dass die falsche Person jemals Verdacht schöpfen würde, wer Bailey wirklich war, sollte sie diesem Menschen in die Augen sehen und es aus tiefstem Herzen verneinen können. Meine Mutter war eine rothaarige Schwimmerin. Meine Mutter ist ganz anders als der Mensch, den Sie da beschreiben.

Ich schaue Charlie in die Augen und beantworte seine Frage ehrlich. »Er hat mir nicht viel erzählt. Aber einmal hat er gesagt, dass ich sie wahrscheinlich sehr gemocht hätte. Dass wir uns gegenseitig gemocht hätten.«

Charlie nickt, sagt aber nichts. Und ich spüre all die Fragen, die er zu meinem Leben mit Owen hat, die Fragen zu Bailey: Wer sie jetzt ist, was sie mag und ob sie vielleicht noch ein bisschen wie seine verlorene Schwester ist, die er offensichtlich geliebt hat. Aber er kann diese Fragen nicht stellen, ohne selbst welche zu beantworten. Fragen, die er nicht beantworten will.

»Schauen Sie«, sagt er. »Falls Sie hören möchten, dass bei meinem Vater um Kristins willen genügend guter Wille da sein könnte, um das, was zwischen ihm und Ethan passiert ist, zu vergessen – dass die beiden sich irgendwie verständigen können, dann bemühen Sie sich umsonst. Es geht nicht. Das kommt für ihn nicht infrage. So funktioniert es nicht. Mein Vater ist nicht über die Sache hinweg.«

»Das weiß ich auch.«

Und ich weiß es wirklich. Aber ich setze darauf, dass Charlie mir trotzdem helfen will. Sonst würden wir dieses Gespräch gar nicht führen. Wir würden ein anderes Gespräch führen, das wir beide nicht wollen – darüber, was Owen seiner Familie angetan hat. Und mir. Wir würden ein Gespräch führen, das mir das Herz brechen würde.

Er sieht mich etwas freundlicher an. »Habe ich Sie heute Nachmittag erschreckt?«, fragt er.

»Das könnte ich Sie auch fragen.«

»Ich wollte nicht so aggressiv reagieren. Sie haben mich einfach komplett auf dem falschen Fuß erwischt. Sie glauben gar nicht, wie viele Leute hier auftauchen und meinem Vater Ärger machen. All diese Verbrechensjunkies, die im Fernsehen den Prozess verfolgt haben und glauben, meinen Vater zu kennen. Manche wollen sogar Autogramme, auch nach all den Jahren noch. Ich glaube, wir sind eine Station bei einer Art ›Stadtführung auf den Spuren der Verbrecher‹. Wir und die Newton Gang …«

»Das klingt schrecklich«, sage ich.

»Das ist es auch. Ziemlich schrecklich.«

Charlie mustert mich. »Ich glaube nicht, dass Sie wissen, was Sie tun. Ich glaube, Sie hoffen immer noch auf ein Happy End. Aber diese Geschichte endet nicht gut. Unmöglich.«

»Das ist mir klar. Ich hoffe auch auf etwas anderes.«

»Nämlich?«

Ich zögere kurz. »Dass sie nicht hier endet.«