AM SEE

W ir verlassen die Stadt in nordwestliche Richtung, vorbei am Mount Bonnell und hinein ins Texas Hill Country. Plötzlich finde ich mich in den sanften Hügeln wieder, zwischen belaubten Bäumen. Der See wirkt still und friedlich. Unbewegt.

Als wir in die Ranch Road biegen, klingt der Regen ab. Charlie redet nicht viel, erzählt mir aber, dass seine Eltern ihren im mediterranen Stil gehaltenen Landsitz am Ufer vor wenigen Jahren gekauft haben – in dem Jahr, als Nicholas aus dem Gefängnis kam und Charlies Mutter starb. Es sei das Traumhaus seiner Mutter gewesen, sagt er, ihr Rückzugsort, und Nicholas sei nach ihrem Tod allein hiergeblieben. Später erfahre ich, dass der Landsitz lässige zehn Millionen Dollar gekostet hat. Auf einer Tafel am Tor vor der Auffahrt lese ich, dass Meredith, Charlies Mutter, ihn THE SANCTUARY genannt hat, die Zuflucht.

Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, warum sie diesen Namen gewählt hat. Das Gelände ist riesig, von einer wilden Schönheit, und abgeschieden. Völlig abgeschieden.

Charlie tippt einen Code ein, und das sich öffnende Metalltor gibt den Blick auf eine gepflasterte, mindestens vierhundert Meter lange Zufahrt frei, die sich sanft zu einem kleinen Wachhäuschen hin windet. Das Gebäude ist von Weinranken überwuchert und wirkt unscheinbar.

Das Haupthaus dagegen ist alles andere als unscheinbar. Es sieht aus, als gehöre es an die französische Riviera – gestaffelte Balkone, uralt wirkende Dachziegel, Natursteinfassade. Am bemerkenswertesten sind die bodentiefen, einladenden Fenster.

Wir halten neben dem Häuschen, aus dem ein Wächter tritt. Er hat die Figur eines Profifootballers und trägt einen engen Anzug.

Charlie öffnet das Fenster auf der Fahrerseite, als der Leibwächter sich herunterbeugt. »Hi, Charlie.«

»Ned, wie läuft’s?«

Neds Blick schweift zu mir herüber, er nickt mir kurz zu. Dann wendet er sich wieder an Charlie. »Er erwartet dich«, sagt er.

Er klopft auf die Motorhaube und geht zurück in das Häuschen, um ein zweites Tor zu öffnen.

Wir fahren hindurch, auf die halbkreisförmige Auffahrt, und halten vor der Eingangstür.

Charlie stellt den Motor ab, macht aber keine Anstalten auszusteigen. Ich habe den Eindruck, dass er etwas sagen will. Aber offenbar überlegt er es sich anders, denn er öffnet wortlos die Tür und steigt aus.

Ich folge seinem Beispiel und trete hinaus in die kühle Abendluft, der Boden ist nach dem Regenguss rutschig.

Als ich mich Richtung Haustür bewegen will, deutet Charlie auf ein Tor an der Seite des Hauses.

»Hier lang«, sagt er.

Er hält mir das Tor auf und lässt mich vorangehen. Ich warte, während er wieder abschließt, dann folgen wir einem von Sukkulenten und anderen Pflanzen gesäumten Weg an der Seite des Hauses.

Wir gehen nebeneinander, Charlie auf der dem Garten zugewandten Seite. Ich schaue durch die bodentiefen Fenster ins Haus und sehe ein Zimmer nach dem anderen, alle hell erleuchtet.

Ich frage mich, ob um meinetwillen sämtliche Lampen brennen – damit ich die beeindruckende, detailverliebte Einrichtung bewundern kann. An den Wänden des langen, gewundenen Hausflurs hängen teure Kunstwerke und Schwarz-Weiß-Fotografien. Der Salon hat eine hohe Spitzgiebeldecke und tiefe, aus Holz gefertigte Sofas. Die rustikale Küche, die sich an der kompletten Rückfront des Hauses entlangzieht, verfügt über einen Terrakottaboden und einen riesigen, steinernen Kamin.

Die ganze Zeit muss ich daran denken, dass Nicholas allein hier lebt. Wie mag es sich anfühlen, als Einziger in einem derart riesigen Haus zu wohnen?

Der Weg macht eine Kurve und führt zu einer überdachten Terrasse mit Schachbrettboden, antiken Säulen und einer atemberaubenden Aussicht auf den See – kleine Boote, deren Lichter in der Ferne glitzern, ein Baldachin aus hohen Eichen, die beruhigende Stille des Wassers selbst.

Und ein Graben.

Dieses Haus, Nicholas Bells Haus, ist von einer Art Festungsgraben umgeben. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass man diesen Ort nicht ohne explizite Erlaubnis betritt oder verlässt.

Charlie deutet auf eine Reihe von Chaiselongues und nimmt selbst auf einer davon Platz. In der Ferne glitzert das Wasser.

Ich weiche seinem Blick aus und starre stattdessen hinaus auf die kleinen Boote. Ich weiß, warum ich herkommen wollte. Aber jetzt, wo ich tatsächlich hier bin, erscheint es mir wie ein Fehler. Als hätte ich auf Charlies Warnung hören sollen, als könnte mich dort drinnen nichts Gutes erwarten.

»Setzen Sie sich, wo Sie wollen«, sagt Charlie.

»Danke, es geht schon.«

»Er könnte sich Zeit lassen.«

Ich lehne mich gegen eine der Säulen.

»Ich stehe gern.«

»Vielleicht sollten Sie sich nicht um Ihretwillen Gedanken machen …«

Als ich die Männerstimme höre, drehe ich mich um und sehe Nicholas im Hintereingang stehen. An seiner Seite zwei Hunde, zwei große schokoladenbraune Labradore. Sie lassen Nicholas nicht aus den Augen.

»Die Säulen sind nicht so massiv, wie sie aussehen«, sagt er.

Ich trete von der Säule weg. »Oh, tut mir leid.«

»Nein, nein. Ich mache nur Spaß«, sagt er.

Er tritt auf mich zu und wedelt mit der Hand, seine Finger sind leicht gekrümmt. Der Mann ist dünn und trägt einen schütteren Kinnbart. Mit den arthritischen Fingern, der locker sitzenden Jeans und dem Strickpullover wirkt er zerbrechlich.

Ich beiße mir auf die Unterlippe und versuche, meine Überraschung zu verbergen. Nie im Leben hätte ich erwartet, dass Nicholas so aussieht – sanft und weich. Mit seiner Stimme – der langsamen Sprechweise, dem trockenen Humor – erinnert er mich an meinen eigenen herzensguten Großvater.

»Meine Frau hat diese Säulen einem Kloster in Frankreich abgekauft. Ein einheimischer Kunsthandwerker hat sie wieder zusammengesetzt und in ihrer ursprünglichen Form angeordnet. Sie sind ziemlich robust.«

»Und sehr schön«, sage ich.

»Wunderschön, nicht wahr?«, sagt er. »Meine Frau hatte ein Händchen fürs Design. Sie hat jedes Stück ausgesucht, das in dieses Haus gekommen ist. Jeden einzelnen Gegenstand.«

Bei der Erwähnung seiner Frau wirkt er gequält.

»Ich rede nicht oft so ausführlich über die Details der Ausstattung, aber ich dachte, Sie wüssten ein paar Hintergrundinformationen zu schätzen …«

Innerlich zucke ich zusammen. Will Nicholas andeuten, dass er schon weiß, womit ich meinen Lebensunterhalt verdiene? Kann er das wissen? Kann in der kurzen Zeit schon etwas durchgesickert sein? Vielleicht habe ich auch selbst etwas verraten. Vielleicht habe ich, ohne es zu merken, gegenüber Charlie eine Bemerkung fallen gelassen. Etwas, womit ich uns alle verraten habe.

So oder so, Nicholas ist jetzt am Drücker. Vor gerade mal zehn Stunden mag das noch nicht der Fall gewesen sein. Aber mit meinem Eintreffen in Austin habe ich dafür gesorgt, dass sich alles verändert. Jetzt befinden wir uns auf Nicholas’ Terrain. Austin ist seine Welt, und ich habe uns hineingeführt. Als ginge es darum, diesen Umstand noch zu unterstreichen, treten zwei Leibwächter nach draußen – Ned und ein anderer Kerl. Beide sind sie riesig und verziehen keine Miene. Sie postieren sich direkt hinter Nicholas.

Nicholas lässt nicht erkennen, dass er sie bemerkt hat. Stattdessen streckt er mir den Arm entgegen, als wären wir alte Freunde. Was bleibt mir übrig? Ich lasse zu, dass er mit beiden Händen meine Hand umfasst.

»Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen …«, sagt er.

»Hannah«, sage ich. »Nennen Sie mich Hannah.«

»Also Hannah.«

Er schenkt mir ein Lächeln, es wirkt echt und großzügig. Und plötzlich verstört mich das mehr, als wenn er sich komplett gegensätzlich präsentiert hätte. Ich frage mich, wann Owen das erste Mal vor ihm gestanden und gedacht hat: Nicholas muss ein guter Kerl sein . Wie könnte jemand auf diese Weise lächeln, wenn er kein guter Kerl ist? Wie könnte er die Frau großgezogen haben, die Owen geliebt hat?

Es fällt mir so schwer, ihn weiter anzusehen, dass ich den Blick senke, zu Boden schaue, zu den Hunden.

Nicholas folgt meinem Blick. Dann beugt er sich hinunter und tätschelt die Hinterköpfe der Tiere.

»Das ist Casper, und das ist Leon«, sagt er.

»Wirklich prächtige Hunde.«

»Ja, das sind sie. Vielen Dank. Ich habe sie aus Deutschland mitgebracht. Wir sind mitten in ihrer Schutzhundausbildung.«

»Was bedeutet das?«

»Sie sollen lernen, ihren Besitzer zu bewachen. Aber für mich sind sie vor allem eine angenehme Gesellschaft.« Er hält kurz inne. »Möchten Sie sie streicheln?«

Es kommt mir nicht wie eine Drohung vor, aber auch nicht wie eine Einladung, jedenfalls nicht wie eine, die ich annehmen möchte.

Ich sehe zu Charlie hinüber, der immer noch zurückgelehnt auf dem Sofa sitzt, den Arm über die Augen gelegt. Seine lässige Pose wirkt bemüht, fast als fühle er sich in Gegenwart seines Vaters so unbehaglich wie ich. Dann aber streckt Nicholas den Arm aus und legt seinem Sohn die Hand auf die Schulter. Charlie legt seine auf die Hand seines Vaters.

»Hey, Pop.«

»Langer Abend, Junge?«, fragt Nicholas.

»Das kannst du wohl sagen.«

»Dann besorgen wir dir einen Drink. Was hältst du von einem Scotch?«

»Klingt gut«, sagt Charlie. »Klingt perfekt.«

Er wirft seinem Vater einen ernsten, offenen Blick zu. Und ich verstehe, dass ich seine Anspannung fehlinterpretiert habe. Was immer ihm Unbehagen bereitet, es scheint nicht um seinen Vater zu gehen, dessen Hand er immer noch hält.

In diesem Punkt hat Grady offenbar recht gehabt – wie hässlich und gefährlich Nicholas in seinem Berufsleben auch agiert haben mag, zugleich ist er ein Mann, der seinem erwachsenen Sohn die Hand auf die Schulter legt und ihm nach einem langen Arbeitstag etwas zu trinken anbietet. Das ist die Seite des Mannes, die Charlie zu sehen bekommt.

Was mich auf die Frage bringt, ob Grady auch mit der anderen Seite richtigliegt. Oder besser: inwieweit er richtigliegt. Ob ich um Baileys und meiner Sicherheit willen besser nicht hergekommen wäre.

Auf ein Nicken von Nicholas hin tritt Ned auf mich zu. Ich zucke zusammen, mache einen Schritt zurück und hebe die Hände.

»Was haben Sie vor?«, frage ich.

»Er soll nur sichergehen, dass Sie nicht verkabelt sind«, sagt Nicholas.

»Sie haben mein Wort«, entgegne ich. »Was hätte ich davon, mich verkabeln zu lassen?«

Nicholas lächelt. »Das sind Fragen, über die ich mir nicht mehr den Kopf zerbrechen will. Wenn Sie jetzt bitte …«

»Heben Sie bitte die Arme hoch«, sagt Ned.

In der Hoffnung auf Unterstützung schaue ich zu Charlie hinüber – er soll sagen, dass so etwas nicht nötig ist. Aber er schweigt.

Ich tue, was Ned von mir will, und rede mir ein, es wäre wie das Abtasten bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen. Nichts, worüber ich mir Gedanken machen muss. Aber seine Hände fühlen sich kalt an, und als sie an meinen Seiten entlanggleiten, sehe ich die ganze Zeit die Pistole an seiner Hüfte. Griffbereit. Und ich sehe, wie Nicholas uns beobachtet. An seiner Seite die Wachhunde, auch sie offenbar einsatzbereit.

Mir stockt der Atem, aber ich will mir nichts anmerken lassen. Falls diese Männer meinem Ehemann gegenüberstünden, würden sie ihm etwas antun. Und nichts, was ich hier tue, hätte dann noch irgendeine Bedeutung. Ich höre Gradys Stimme: Nicholas ist ein schlechter Mensch. Diese Männer sind skrupellos.

Ned tritt zurück und gibt Nicholas ein Zeichen, das wohl bedeuten soll, dass ich sauber bin.

Ich sehe Nicholas in die Augen, am Körper spüre ich immer noch die Hände seines Aufpassers. »Heißen Sie all Ihre Gäste auf diese Art willkommen?«

»Inzwischen empfange ich nur noch selten Gäste«, erklärt er.

Ich nicke, streiche meinen Pullover glatt und schlinge die Arme um meinen Oberkörper. Dann dreht Nicholas sich zu Charlie um.

»Weißt du was, Charlie? Ich würde gern einen Moment allein mit Hannah reden. Warum genießt du deinen Drink nicht am Pool? Und fährst nach Hause?«

»Ich bin Hannahs Chauffeur.«

»Marcus bringt sie, wenn sie aufbrechen will. Wir unterhalten uns morgen, ja?«

Nicholas klopft seinem Sohn ein letztes Mal auf die Schulter. Bevor Charlie etwas einwenden kann, falls er überhaupt etwas einzuwenden hätte, öffnet Nicholas die Tür zum Haus.

Vor dem Eintreten hält er noch einmal inne. Er bleibt in der Tür stehen und lässt mir die Wahl. Ich kann mich jetzt verabschieden und mit Charlie fahren oder allein hier bei ihm bleiben.

Ich habe die Wahl: bei Nicholas bleiben und meiner Familie helfen oder meine Familie im Stich lassen und mir selbst helfen. Es kommt mir vor wie ein bizarrer Test. Als wäre ein solcher Test noch nötig, als wäre ich nicht aus freien Stücken an diesen Ort gekommen, wo die Sorge um meine Familie und die Sorge um mich selbst sich nicht mehr trennen lassen.

»Sollen wir?«, fragt Nicholas.

Noch kann ich verschwinden. Noch kann ich mit Charlie fahren. Ich sehe Owens Gesicht vor mir. Er würde nicht wollen, das ich hierbleibe. Dann sehe ich Gradys Gesicht. Weg. Weg. Weg. Mein Herz hämmert so laut, dass ich sicher bin, dass Nicholas es hören kann. Und selbst wenn nicht: Er muss es spüren, muss die Spannung spüren, unter der ich stehe.

Es gibt Momente, in denen man sich restlos überfordert fühlt. Solch ein Moment ist jetzt.

Die Hunde starren hoch zu Nicholas.

Alle hier starren Nicholas an, mich eingeschlossen.

Bis ich mich in Bewegung setze, in die einzige Richtung, die Sinn ergibt. Auf ihn zu.

»Nach Ihnen«, sage ich.