MANCHMAL GIBT ES EINEN WEG ZURÜCK

W ir stehen auf der Rollbahn, das Flugzeug wird jeden Moment starten. Bailey starrt aus dem Fenster. Sie sieht erschöpft aus, hat dunkle Ringe unter den verquollenen Augen; ihr Gesicht ist voller rötlicher Flecken. Sie wirkt mitgenommen und verängstigt.

Ich habe ihr noch nicht alles erzählt. Aber einiges weiß sie inzwischen. Sie weiß genug, um Angst zu haben, was mich entsprechend nicht überrascht. Überraschend wäre, wenn sie keine Angst hätte.

»Sie werden zu Besuch kommen«, sage ich. »Nicholas und Charlie. Wenn du willst, werden sie deine Vettern mitbringen. Das könnte doch ganz nett werden, sie wollen dich sicher kennenlernen.«

»Aber sie wohnen nicht bei uns, oder?«

»Nein. Wir treffen uns ein- oder zweimal mit ihnen zum Essen. Für den Anfang reicht das.«

»Und du bist dabei?«

»Die ganze Zeit.«

Sie nickt nachdenklich.

»Muss ich mich wegen meiner Vettern jetzt gleich entscheiden?«

»Im Moment musst du gar nichts entscheiden.«

Sie sagt nichts mehr. Sie hat akzeptiert – soweit sie es überhaupt schon an sich heranlassen kann –, dass ihr Vater nicht nach Hause zurückkommt. Aber sie will nicht darüber reden, noch nicht. Sie will sich nicht zusammen mit mir ausmalen, wie das Leben ohne ihn aussehen, wie es sich anfühlen wird. Und auch das ist jetzt noch nicht nötig.

Ich atme tief durch und versuche, nicht an all die Dinge zu denken, die nun zu erledigen sind – wenn nicht sofort, dann doch ziemlich bald. Die einzelnen Schritte, die wir unternehmen müssen, um unser Leben neu zu organisieren. Jules und Max werden uns vom Flughafen abholen, der Kühlschrank wird gefüllt sein und das Abendessen auf dem Tisch stehen. Aber in Zukunft werden wir diese Dinge täglich selbst erledigen müssen, und es wird dauern, bis sie sich wieder normal anfühlen.

Manches wird sich nicht vermeiden lassen. Mit Schrecken denke ich an den Moment in einigen Wochen (oder Monaten), wenn Bailey langsam beginnt, wieder Fuß zu fassen, und ich zum ersten Mal in Ruhe über mich selbst nachdenken kann. Wenn ich an mich denke und an Owen. Daran, was ich verloren habe – auch für die Zukunft.

Wenn die Welt um mich herum wieder zur Ruhe kommt, werde ich alle Energie brauchen, um mich nicht von der Trauer überwältigen zu lassen.

Aber vielleicht habe ich eine Chance, denn bis dahin werde ich die Antwort auf eine Frage gefunden haben, die sich erst langsam in mir herausbildet: Wäre ich hier, wenn ich von Anfang an Bescheid gewusst hätte? Wenn Owen mir seine Vergangenheit von Anfang an offengelegt und mich vorgewarnt hätte? Hätte ich mich dann trotzdem für ihn entschieden? Hätte ich in Kauf genommen, dass es so ausgehen könnte? Ich werde mich für einen Moment daran erinnern, wie mein Großvater mir, kurz nachdem meine Mutter mich verlassen hatte, klargemacht hat, dass ich genau dort war, wo ich hingehörte. Und ich werde die Antwort wie eine heiße Welle durch meinen Körper strömen fühlen: Ja. Ohne zu zögern. Auch wenn Owen mir alles gesagt, wenn ich jedes Detail gewusst hätte, hätte ich mich nicht anders entschieden. Diese Erkenntnis wird mich durch die schlimmste Zeit tragen.

»Warum dauert es so lange?«, fragt Bailey. »Warum starten wir nicht?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube, die Flugbegleiterin hat etwas von einem Rückstau vor der Startbahn gesagt.«

Sie nickt und legt die Arme um den Oberkörper. Sie ist unglücklich und friert, ihr T-Shirt kann wenig gegen die kalte Luft in der Kabine ausrichten. Wieder hat sie Gänsehaut an beiden Armen.

Aber diesmal bin ich vorbereitet. Vor zwei Tagen – vor zwei Tagen! – war ich das nicht. Inzwischen ist eine ganz neue Zeit angebrochen. Ich ziehe Baileys wollenen Lieblings-Hoodie aus meiner Tasche. Genau für diesen Moment hatte ich ihn ins Handgepäck gesteckt.

Zum ersten Mal weiß ich, wie ich ihr geben kann, was sie braucht.

Natürlich wird sie viel mehr brauchen. Aber sie nimmt ihr Sweatshirt, zieht es über und reibt sich die Ellbogen.

»Danke«, sagt sie.

»Gern geschehen.«

Ruckartig bewegt sich das Flugzeug ein Stück nach vorn, dann wieder zurück. Schließlich setzt es sich langsam, aber sicher in Bewegung.

»Es geht los«, sagt Bailey. »Endlich.«

Erleichtert lehnt sie sich zurück. Dann schließt sie die Augen und legt den Ellbogen auf die Armlehne, die wir teilen.

Die Maschine nimmt Tempo auf. Ich lege meinen Ellbogen zu ihrem und spüre, dass sie ein Stück näher an mich heranrückt – dass wir beide ein Stück näher aneinander heranrücken. Auch das ist anders als zuvor.

Es fühlt sich nach dem an, was es ist.

Ein Start.