FÜNF JAHRE SPÄTER. ODER ACHT. ODER ZEHN.

I ch bin im Pacific Design Center in Los Angeles, wo ich gemeinsam mit einundzwanzig anderen Kunsthandwerkern an einer Ausstellung teilnehme. Ich präsentiere dort erstmals eine neue Sammlung von Objekten aus Weißeiche (vorwiegend Möbel, dazu ein paar Schalen und größere Stücke).

Solche Ausstellungen sind eine tolle Möglichkeit, potenzielle Kunden auf sich aufmerksam zu machen, aber sie sind auch eine Art Klassentreffen – und damit ziemlich anstrengend. Verschiedene Architekten und Kollegen schauen vorbei, um Hallo zu sagen und zu plaudern. Ich habe mir beim Small Talk alle Mühe gegeben, aber langsam werde ich müde. Je näher der Zeiger an 18 Uhr heranrückt, desto mehr weiche ich den Blicken aus.

Ich bin mit Bailey zum Abendessen verabredet, daher halte ich immer wieder nach ihr Ausschau und freue mich über den Vorwand, für heute Schluss machen zu können. Sie will jemanden mitbringen, mit dem sie seit Kurzem zusammen ist. Er heißt Shep und arbeitet für einen Hedgefonds, was beides gegen ihn spricht, aber sie mag ihn wirklich. Er ist nicht so , sagt sie immer wieder.

Ich weiß nicht, ob sie damit seine Arbeit im Finanzsektor oder den Namen meint. So oder so scheint er ein Gegenpol zu ihrem letzten Freund zu sein, der einen weniger irritierenden Namen (John) hatte und arbeitslos war. So sieht das Beziehungsleben zwischen zwanzig und dreißig aus, und ich bin froh, dass sie mit diesen Dingen beschäftigt ist.

Inzwischen wohnt sie in Los Angeles. Ich übrigens auch, nicht allzu weit vom Meer – und von ihr.

Ich habe das schwimmende Haus verkauft, sobald Bailey die Highschool abgeschlossen hatte, wobei ich mir keine Illusionen darüber mache, dass sie uns weiterhin im Auge behalten – die düsteren Gestalten, die auf ihre Chance für den Fall warten, dass Owen wieder auftaucht. Dass er sich irgendwann aus der Deckung wagt, um uns zu sehen. Ich verhalte mich grundsätzlich so, als würden sie mich beobachten, egal, was Owen tut.

Manchmal bilde ich mir ein, sie zu bemerken, in einer Flughafen-Lounge oder vor einem Restaurant, aber natürlich weiß ich letztlich nichts Genaues. Ich achte einfach auf jeden, der mich eine Sekunde zu lange ansieht. Auf diese Weise lasse ich nicht viele Menschen an mich heran, was gar nicht so schlecht ist. Ich habe alle Menschen um mich, die ich brauche.

Abgesehen von einem.

Er betritt den Ausstellungsraum, einen Rucksack über der Schulter. Er hat sich die struppigen Haare dunkel gefärbt und militärisch kurz geschnitten. Seine Nase ist krumm, als wäre sie gebrochen gewesen. Er trägt ein Button-down-Hemd, die Ärmel sind aufgerollt und lassen eine Reihe von Tattoos erkennen, die sich spinnenhaft bis hinunter zu den Fingern ziehen.

Dort entdecke ich seinen Ehering, er trägt ihn noch immer. Den Ring, den ich für ihn gemacht habe. Andere würden die dünne Eichenschicht vielleicht gar nicht bemerken, aber ich erkenne sie sofort. Er wirkt äußerlich völlig verändert. Aber vielleicht ist das nötig, wenn man in der Öffentlichkeit nicht erkannt werden will. Einen Moment lang frage ich mich, ob er es wirklich ist.

Schließlich glaube ich nicht zum ersten Mal, ihn zu sehen. Das glaube ich ständig.

Ich bin so nervös, dass ich die Unterlagen fallen lasse, die ich gerade in der Hand habe.

Er beugt sich hinunter, um mir zu helfen. Ohne zu lächeln, was ihn verraten würde. Er berührt nicht mal meine Hand. Wahrscheinlich wäre das für uns beide zu viel.

Er reicht mir die Unterlagen.

Ich versuche, mich zu bedanken. Spreche ich es laut aus? Ich weiß nicht.

Vielleicht. Denn er nickt.

Dann richtet er sich auf und wendet sich in Richtung Ausgang. In diesem Moment sagt er etwas, was niemand anders je sagen würde.

»Die Beinahe-Boys lieben dich noch immer«, sagt Owen. Ganz leise und ohne mich dabei anzusehen.

So wie man Hallo sagt.

Wie man Auf Wiedersehen sagt.

Ich spüre ein Prickeln auf der Haut, meine Wangen röten sich. Aber ich sage kein Wort. Dafür ist keine Zeit. Er zieht den Rucksack höher auf die Schulter. Dann verschwindet er in der Menge. Und das ist alles. Er ist nur einer der vielen Design-Junkies, schon auf dem Weg zum nächsten Stand.

Ich wage es nicht, ihm hinterherzuschauen. Ich wage es nicht mal, in seine Richtung zu sehen.

Stattdessen halte ich den Blick gesenkt und tue, als würde ich meine Unterlagen sortieren, aber es muss unübersehbar sein, wie heiß mir ist. Jedem, der gut genug hinschaut, muss mein knallrotes Gesicht auffallen. Ich hoffe nur, dass niemand auf mich achtet.

Ich zwinge mich, bis hundert zu zählen, dann bis hundertfünfzig.

Als ich schließlich aufblicke, entdecke ich Bailey, was mich auf der Stelle beruhigt und zu mir bringt. Sie kommt aus der Richtung auf mich zu, in die Owen gegangen ist. Sie trägt ihr graues Strickkleid und Converse -Basketballschuhe, die langen braunen Haare reichen ihr bis zur Mitte des Rückens. Ist Owen an ihr vorbeigegangen? Hat er mit eigenen Augen gesehen, wie schön sie geworden ist? Wie selbstsicher? Ich hoffe es. Ich hoffe es, und gleichzeitig hoffe ich es nicht. Vielleicht würde es dadurch noch schwieriger für ihn.

Ich atme tief durch und betrachte sie. Sie geht Hand in Hand mit Shep, dem neuen Freund. Er grüßt mich, indem er sich mit einer Hand an die Stirn tippt. Sicher soll das pfiffig rüberkommen. Was es nicht tut.

Trotzdem lächle ich die beiden an. Warum auch nicht? Auch Bailey lächelt.

Sie schaut mich an und sagt: »Mom.«