7
Ertappt!
Als Flora später Miri, Lea und die anderen im Wald traf, spielten sie tatsächlich Verstecken.
»Das war Gretas Vorschlag und irgendwie macht es richtig Spaß«, erklärte Miri.
»Ja, hier kennt man nicht schon jedes Versteck wie in der Schule«, meinte auch Lea. »Los, komm mit«, sagte sie und zog Flora weg, während Greta anfing zu zählen. Flora verkroch sich hinter einen Busch, von dem aus sie den Baum zum Freischlagen gut im Blick hatte.
Mit einem lauten »Ich komme!« begab sich Greta in entgegengesetzter Richtung auf die Suche. Während Flora auf einen günstigen Moment wartete, um sich aus der Deckung zu wagen, wanderten ihre Gedanken zu dem magischen Hirsch. Bislang wusste sie ja nur von magischen Eulen – und nicht von anderen magischen Tieren.
Klar, es hatte Marib gegeben, den weißen Hengst. Flora und Goldwing hatten ihm erst vor Kurzem geholfen und mit eigenen Augen gesehen, wie er durch meterhohe Dornenranken galoppiert war. Marib hatte auch Zauberkraft besessen, aber das war nicht seine eigene gewesen. Die hatte ihm nämlich eine Zaubereule verliehen.
Der goldene Hirsch dagegen hatte mit seiner eigenen Magie Menschen gesund gemacht. Klar, warum sollten auch nur Eulen Zauberkräfte haben, fragte sich Flora. Vielleicht gab es noch ganz andere Tiere mit solchen Kräften? Magische Mäuse, die von einem unterirdischen Zauberreich Wunder geschehen ließen? Oder Zauberkatzen? Doch hatte dieser besondere Hirsch tatsächlich Nachfahren, die bis heute hier im Wald lebten? Flora brannte darauf, das alles Goldwing zu erzählen, damit sie sich auf die Suche machte. Wenn einer den Hirsch finden konnte, dann sie!
Kaum lag Flora später in ihrem Schlafsack, konnte sie vor Ungeduld kaum die Beine still halten. Aber das musste sie, sonst würden Nathalie und Emilie nie einschlafen. Auch draußen kehrte nur langsam Ruhe ein. Immer wieder hörte Flora Schritte und Kichern. Nach einer aufregenden Schatzsuche im Wald und stiller Post am Lagerfeuer mussten doch jetzt endlich mal alle müde sein!
Als sie eine Weile Nathalies und Emilies gleichmäßigen Atemzügen gelauscht hatte, hielt Flora es nicht mehr länger aus. Die beiden würden hoffentlich tief genug schlafen. Sie wollte endlich zu Goldwing! Auf Zehenspitzen schlich sich Flora raus und schaute sich um. Verlassen lag der Platz vor ihr, kein Mensch war zu sehen. Nur die letzten Reste des erkalteten Feuers knisterten, ansonsten war es still. Flora zögerte nicht. Sie huschte in den Wald und war froh, als die dichten Zweige der hohen Tannen sie schützend umfingen. Suchend schaute sie sich nach Goldwing um, während sie ihren Ring aus der Hosentasche kramte. Das Mondlicht fiel darauf und ließ die Umrisse des silbernen Eulenkopfs leuchten. Dieser Ring – er war etwas ganz Besonderes! Ohne ihn war keine Verwandlung möglich. Und damit auch keine Magie! Leise fing Flora an, ihr Lied zu singen. Sie streckte den Ring in Richtung der Bäume, als ob sie Goldwing den Weg zu sich weisen wollte.
Plötzlich durchbrach ein lautes Knacken die friedliche Stimmung. Flora fuhr herum, vor Schreck blieb ihr beinahe die Luft weg. Da stand schon wieder Miri! Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Flora an.
»Was machst du da?«, fragte sie. Flora schluckte, aber sie brachte keinen Ton heraus. Das konnte doch nicht wahr sein!
»Ein bisschen vor sich hinzusingen, kann ich ja noch verstehen«, fuhr Miri schließlich fort, als von Flora keine Antwort kam. »Aber warum hältst du diesen Ring da in die Luft? Zeig mal her.« Sie streckte die Hand aus, aber Flora verbarg den Ring schnell hinter ihrem Rücken. Miri runzelte die Stirn.
»Was soll das? Hast du Geheimnisse vor mir?« Ihre Miene verfinsterte sich, als Flora weiterhin nichts sagte. »Ich dachte, wir sind weltallerbeste Freundinnen. Und dann kannst du mir nicht mal deinen Ring zeigen?«
Flora wurde es ganz heiß. Sie wünschte sich, ein großes Loch würde sich auftun und sie könnte darin verschwinden. Und Miri würde einfach wieder in ihrem Schlafsack liegen und hätte alles vergessen. Sie spürte, wie enttäuscht Miri von ihr war. Aber sie tat das ja nicht, um sie zu ärgern. Sie hatte sogar Angst vor Miris Fragen. Doch schließlich konnte sie ihrem Blick nicht länger standhalten und streckte ihr zögernd die Hand hin.
Miri nahm den Ring und betrachtete ihn neugierig.
»Ein Eulenkopf!«, murmelte sie. »Den Ring hab ich noch nie an dir gesehen. Der sieht richtig alt aus. Wo hast du den her?«
Flora wurde es immer heißer. Was sollte sie bloß sagen? In ihrem Kopf herrschte totales Chaos.
»Den … den habe ich …« Sie stockte, dann platzte sie heraus: »Von meiner Oma aus Griechenland.«
Miri schaute sie misstrauisch an. Floras Unsicherheit entging ihr nicht.
»Du weißt doch, von ihr habe ich auch die Eulentasche und das hübsche Kissen«, erklärte Flora und versuchte, sich ihre Aufregung nicht anmerken zu lassen. »Jetzt hat sie mir noch diesen Ring geschenkt. Ich habe ihn aber nicht oft an. Irgendwie trage ich Ringe nicht so gern.«
»Aber du hältst sie gern in den Mond und singst was von Eulen«, stellte Miri kopfschüttelnd fest. »Meinst du etwa, der kann zaubern? Und irgendwelche Wunder vollbringen?«
»Das war doch nur mal so«, versuchte Flora, die Sache herunterzuspielen. »Ich hab einfach bloß ein bisschen vor mich hingesungen.«
Miri schaute sie forschend an. »Das glaube ich dir nicht. Irgendwas verheimlichst du. Ich kenn dich doch.«
Mit diesen Worten drückte sie Flora den Ring in die Hand, machte auf dem Absatz kehrt und stapfte davon.
»Miri, warte!«, rief Flora ihr nach, aber Miri drehte sich nicht einmal um. Sie war wirklich sauer! So kannte Flora sie gar nicht.
»Tolle Freundschaft!«, hörte Flora sie murmeln, dann war sie zwischen den dunklen Tannen verschwunden.
Traurig schaute Flora ihr hinterher. Sie fühlte sich so schlecht. Sie wollte Miri nicht enttäuschen. Natürlich waren sie beste Freundinnen, für immer!
Flora ärgerte sich. Diese blöde Regel, die die Herrscherinnen aufgestellt hatten. Dass sie niemandem von ihrer Zaubereule erzählen durfte. Wenn es nach Flora gegangen wäre, hätte sie Miri schon längst in alles eingeweiht. Und jetzt dachte sie, dass Flora sie anlog. So ein Mist!
Da nahm Flora eine Bewegung wahr. Goldwing! Mit einem einzigen Flügelschlag glitt die Eule zwischen den Bäumen zu ihr herab. Erschrocken schaute sich Flora um, ob Miri vielleicht noch mal zurückgekommen war. Sie konnte sie zwar nicht entdecken, bedeutete Goldwing aber trotzdem, ihr tiefer in den Wald zu folgen. Erst als sie ein ganzes Stück weg waren, stoppte sie an einer Buche mit weit herabhängenden Zweigen. Flora verbarg sich hinter dem dicken Stamm und winkte ihre Eule zu sich, um sie zu verwandeln.
»Stell dir vor, Miri hätte mich beinahe erwischt!«, platzte Flora sofort heraus, kaum dass Goldwings Flügel strahlten.
»Was?«, fragte Goldwing und ihre Augen leuchteten vor Schreck orangener als sonst.
»Sie stand gestern Nacht schon plötzlich hinter mir«, fuhr Flora aufgeregt fort. »Ich hatte gerade angefangen, unser Lied zu singen …«
»Ich weiß, ich habe dich gehört«, erwiderte Goldwing. »Aber dann habe ich Miri kommen sehen und mich natürlich schön ruhig verhalten. Ich war genauso verdattert wie du. Als ihr weg wart, habe ich noch gewartet, weil ich dachte, du kommst vielleicht zurück.«
»Ich habe mich nicht getraut«, gestand Flora. »Und heute dasselbe! Sie hat meinen Ring gesehen und wollte wissen, warum ich den nachts in den Mond strecke und was von Eulen singe. Sie hat sogar gefragt, ob ich denke, dass das ein Zauberring ist!«
Goldwing schnappte nach Luft. »Und? Was hast du gesagt?«
»Dass ich ihn von meiner Oma habe«, erklärte Flora geknickt. »Goldwing, Miri ist wirklich sauer. Sie glaubt, dass ich ihr nicht die Wahrheit sage und was verheimliche. Und beste Freundinnen haben schließlich keine Geheimnisse voreinander.«
Goldwing saß da und schaute nachdenklich vor sich hin. »Ist das wirklich so? Man kann doch befreundet sein und trotzdem gibt es was, was man nicht sagen kann. Weil man sich vielleicht dazu überwinden muss und dafür Zeit braucht. Oder weil man es jemandem versprochen hat. Und so ist es ja auch. Sich an die Regel von Athenaria zu halten, ist wie ein Versprechen. Trotzdem ist Miri deine Freundin. Kannst du ihr das nicht noch mal erklären, damit sie das besser versteht?«
Flora starrte in den Wald und ließ sich Goldwings Worte durch den Kopf gehen. »Ja, ich kann’s versuchen. Ich werde ihr erklären, dass ich ihr gerade nicht mehr sagen kann, obwohl ich das so gern würde.« Sie stockte kurz. »Meinst du, dass sich dieser Wunsch vielleicht doch einmal erfüllt und ich das darf?«, fragte sie dann leise.
Goldwing streckte den Flügel aus und strich Flora mitfühlend über die Hand. »Das wäre schön. Vielleicht können die Herrscherinnen ja mal eine Ausnahme machen.« Flora wurde es ganz warm, als sie den zärtlichen Blick ihrer kleinen Eule sah. Niemand war so an ihrer Seite wie Goldwing. Wenn Flora ihr das Herz ausschüttete, war danach alles gleich ein bisschen besser. Auch jetzt schöpfte sie neuen Mut, dass sich Miri wieder mit ihr versöhnte.
»Bis auf diese Sache gerade eben hattest du aber heute einen schönen Tag?«, erkundigte sich Goldwing vorsichtig.
Das war das Stichwort für Flora. Die Geschichte, die ihr der Köhler erzählt hatte, sprudelte nur so aus ihr heraus. Ihre Eule bekam immer größere Augen, als sie von der Prinzessin und den magischen Kräften des Hirsches erfuhr. Doch kaum hörte sie von dem Forscher, der nun durch den Wald streifte, schnappte Goldwing erschrocken nach Luft.
»Wir müssen den Hirsch warnen!«, rief sie.
»Genau!«, pflichtete Flora ihr bei. »Aber dazu müssen wir ihn erst einmal finden. Wenn es ihn überhaupt gibt.«
»Ich fliege gleich los und höre mich um«, versprach Goldwing. »Ein Hirsch mit goldenem Geweih dürfte ja kaum zu übersehen sein.«
Flora nickte. »Alles klar, ich warte hier. Vorher verwandle ich dich noch schnell. Nicht, dass du dem Forscher in die Falle gerätst.«
Goldwing reckte sich und spreizte die Flügel von sich. »Eine Eule mit leuchtenden Federn – das wäre bestimmt ein tolles Foto!«