10
Nathalies Geheimnis
Als Flora zurück in die Hütte kam, um sich ein frisches T-Shirt anzuziehen, saß Nathalie mit einem Block auf den Knien auf ihrer Luftmatratze.
»Machst du noch was für unser Referat?«, erkundigte sich Flora.
Nathalie schüttelte den Kopf. »Ich wollte meiner Freundin ein paar Tipps für den Brief an ihre Mutter geben. Dass sie ihr zum Beispiel schreiben kann, dass sie gern reitet und sich für Klamotten interessiert. Aber mehr fällt mir jetzt gar nicht ein. Hast du eine Idee?«
»Na ja, dass sie ihre Mutter auch ein bisschen kennenlernen möchte«, schlug Flora nach kurzem Nachdenken vor. »Also sich erkundigt, was sie so macht. Hat sie eine Familie? Was arbeitet sie? Hat sie ein Lieblingsessen? Reitet sie zufällig auch?«
»Reiten?« Nathalie riss erstaunt die Augen auf. »Das wäre ja was! Da hätten wir ja gleich was gemeinsam!«
Erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund. Als ob sie die Worte zurückhalten könnte, doch sie hingen bereits wie ein Paukenschlag in der Luft.
Flora wurde es ganz heiß und sie schaute schnell zur Seite. Nathalie war es bestimmt wahnsinnig unangenehm, dass sie ihr Geheimnis so ungewollt verraten hatte. Eine Weile herrschte Stille. Flora überlegte fieberhaft, was sie sagen konnte, aber ihr fiel einfach nichts ein.
»Okay, jetzt ist es ja sowieso raus«, fuhr Nathalie schließlich leise fort. »Also … diese Freundin … das bin ich.«
Ihr Blick fing an zu flackern und Flora entgingen die Angst und Unsicherheit darin nicht.
»Keine Sorge, von mir wird niemand ein einziges Wort erfahren«, versuchte sie, Nathalie zu beruhigen. »Ich denke, das ist sowieso alles schon nicht leicht.«
»Ja, das ist es«, bestätigte Nathalie. »Ich bin so wahnsinnig aufgeregt, dass ich jetzt meine Mutter vielleicht mal kennenlerne. Und ich überlege mir dauernd, wie sie so ist. Oder was ich mache, wenn sie danach nichts mehr von mir wissen will. Wenn sie einfach wieder verschwindet.«
Flora spürte, welcher Druck auf Nathalie lastete. »Warte doch erst mal ab, bis ihr euch überhaupt seht. Dann ist bestimmt alles viel leichter, als du denkst. Ich kann mir auf keinen Fall vorstellen, dass deine Mutter sich gleich wieder aus dem Staub macht. Man muss sich doch mehr als einmal treffen, um sich ein bisschen kennenzulernen. Und wenn sie dir auf deinen Brief antwortet, dann weißt du auch schon was über sie.«
Nathalie nickte. »Ja, das stimmt. Ich schreibe noch ein paar Fragen an sie auf, wie du gesagt hast.«
Flora warf einen Blick auf die Uhr. »In einer halben Stunde geht’s los. Also schreib nicht zu lang.«
»Mach ich«, versprach Nathalie und vertiefte sich sofort wieder in ihren Brief. Flora schnappte sich ihre Karteikarten und das Plakat. Ob Nathalie nachher überhaupt bei der Sache war? Sie hatte vollstes Verständnis, dass es für sie gerade wichtigere Dinge gab als Eichenbäume. Trotzdem hoffte sie, dass ihre Vorstellung nicht so peinlich werden würde …
Doch als sie wenig später mit der Klasse im Wald standen, klappte ihr kleiner Vortrag erstaunlich gut. Sie wechselten sich wie besprochen ab und trugen ihre Texte ohne Spicken und Stocken vor. Auch die anschließenden Fragen konnten sie beantworten. Als Frau Hauser sie lobte, lächelte Flora Nathalie zu. Wie schön, dass sich ihre Mühe gelohnt hatte!
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Miri sich abrupt abwandte und den anderen zum nächsten Baum folgte. Warum kam sie denn nicht her? Freute sie sich nicht für Flora?
Doch es gelang ihr nicht, Miri zu fragen. Ein Referat reihte sich ans nächste.
Als sie dann zum Mittagessen ins Lager zurückkehrten, nutzte Flora die Gelegenheit und passte Miri auf dem Weg zum Toilettenhäuschen ab.
»Hast du was?«, fragte sie. »Ich habe das Gefühl, du gehst mir aus dem Weg.«
Miri schaute zur Seite. »Wie kommst du darauf?«, fragte sie. Aber Flora hörte, dass ihr gleichgültiger Ton nicht echt klang.
»Du hättest nach dem Referat ja mal kurz herkommen können«, meinte sie.
»Wieso? Ist doch alles prima gelaufen«, erwiderte Miri schnippisch und schaute an Flora vorbei Richtung Grillstelle. Flora runzelte die Stirn. Gönnte ihr Miri das etwa nicht? Warum war sie in letzter Zeit immer so schnell eingeschnappt? Das war eigentlich gar nicht ihre Art.
Da verfinsterte sich Miris Miene. Flora drehte sich um und sah Nathalie. Sie kam direkt auf sie zu!
»Ich will nicht stören«, sagte sie, zog ein zusammengefaltetes Stück Papier aus der Tasche und hielt es Flora hin. »Kannst du da vielleicht mal drüberlesen?«
Flora stutzte. Sie wusste schon, was das war. Der Brief an Nathalies Mutter. Das war eigentlich ein echter Vertrauensbeweis, aber Flora fühlte sich trotzdem ziemlich unbehaglich vor Miri. Zögernd nahm sie das Papier an sich.
»Mach ich«, versprach sie und steckte den Brief schnell ein.
Nathalie murmelte »Alles klar« und ging wieder zurück. Mürrisch schaute Miri ihr nach. »Nachdem ihr beide euch neuerdings so super versteht, müssen wir zwei hier auch nicht länger herumstehen«, meinte sie und wollte ebenfalls los.
»Halt, warte mal!« Flora griff nach Miris Arm. »Wie meinst du das?«
»So wie ich es sage«, erwiderte Miri patzig. »Ausgerechnet mit dieser Ziege freundest du dich an. Und jetzt liest du auch noch irgendwelche Briefe von ihr! Aber mir kannst du nicht mal sagen, was du nachts im Wald treibst. Wahrscheinlich bin ich einfach zu blöd, aber ich kapier das alles nicht!« Miri warf Flora einen grimmigen Blick zu, holte tief Luft und rauschte dann kopfschüttelnd davon.
Flora war so verdattert, dass sie Miri nicht einmal aufhalten konnte. War sie etwa eifersüchtig? Das konnte doch nicht ihr Ernst sein! Wusste sie denn nicht, dass Flora natürlich am allerliebsten Zeit mit ihr verbrachte? Es war schließlich nicht Floras Schuld, dass Frau Hauser sie mit Nathalie für das Referat eingeteilt hatte. Und dann sogar für die Hütte. Miri hatte doch mitbekommen, wie traurig Flora gewesen war. Und jetzt so was! Flora wischte sich trotzig ein paar Tränen aus dem Augenwinkel. Das war so was von ungerecht. Warum konnte mit Miri nicht einfach alles sein wie immer?
Traurig stocherte Flora beim Mittagessen in ihren Nudeln herum. Ihr war der Appetit gründlich vergangen. Auch Miri schien keinen Hunger zu haben und Lea fragte die beiden ein paar Mal, was los war. Doch sie nuschelten nur irgendwas vor sich hin und starrten auf ihre Teller.
Flora war froh, als das Essen vorbei war und sie aufstehen konnte. Sie wollte gerade zum Abspülplatz gehen, da drang plötzlich ein leises Huh zu ihr herüber. Alarmiert schaute sie sich um. Noch einmal hörte sie den drängenden Ruf. Er kam rechts von ihr aus der Tanne. Dort wackelten nun auch ein paar Zweige. Denn eine kleine Waldohreule trippelte auf einem der unteren Äste aufgeregt hin und her! Flora war wie elektrisiert. Wenn Goldwing hier einfach so auftauchte, musste was passiert sein! Nun nickte sie ein paar Mal mit dem Kopf Richtung Wald. Flora verstand. Sie wollte sich mit ihr treffen. Aber so am helllichten Tag – war das nicht viel zu riskant?