4 Theano

T heano, Frau von Antenor und Mutter von vier Söhnen und einer Tochter, beugte sich vor, um die Kerze anzuzünden, und blinzelte im Licht der kleinen, qualmenden Flamme. Sie war die Mutter von vier Söhnen, von denen sie nicht begraben werden würde, wenn ihre Zeit gekommen war. Sie war Mutter von vier Söhnen, die den Krieg nicht überlebt hatten. Von Söhnen, die wegen dem Leichtsinn des Sohnes einer anderen Mutter ausgelöscht worden waren.

Theanos Tränen kamen vom Rauch der Flamme und auch von der Wut, die in ihrem Innern loderte wie der Docht der Kerze, die sie nun zum Tisch trug und mittig auf die Tischplatte stellte. Ihr Mann saß ihr gegenüber, das Gesicht in den knochigen Händen vergraben. Sie hatte kein Mitleid mit ihm: Der Krieg vor den Stadtmauern wütete im zehnten Jahr, und ihr Mann war zu alt zum Kämpfen. Theano hätte sein restliches Leben hingegeben – sich nicht über ihr Dasein als Witwe beklagt –, um auch nur einen einzigen weiteren Moment mit einem ihrer toten Söhne zu verbringen.

»Du hast Priamos jede Chance gegeben, auf deine Warnungen zu hören«, sagte sie. Antenor schüttelte den Kopf. Seine dichten, grauen Augenbrauen quollen zwischen seinen Fingern hervor, und sie griff um die Kerze herum und zog seine Hände auf den Tisch. »Jede Chance«, wiederholte sie. Seine trüben Augen begegneten den ihren, und sie fragte sich, ob sie für ihn auch so alt und schwach aussah, wie er für sie: schneeweißes Haar, faltige Haut, tiefe Trauer.

»Er will nicht zuhören«, sagte ihr Mann. »Er sieht nur sie, nichts anderes existiert für ihn.«

Seine Frau spuckte auf den Boden. Mit »sie« war in Troja immer nur eine gemeint, und das war schon seit zehn langen Jahren so. Zehn Jahre, die Theano ihre vier wertvollsten Schätze gekostet hatten.

»Du hast ihm gute Dienste erwiesen«, sagte sie. »Es sind Jahre vergangen, seitdem du ihm zum ersten Mal geraten hast, diese Hure an ihren Ehemann zurückzugeben.«

»Jahre«, wiederholte Antenor. Sie hatten dieses Gespräch schon so viele Male geführt, dass es ihm mittlerweile wie ein Lied vorkam, an dessen Text er sich nicht mehr bewusst erinnern musste, genauso wie man den Weg nach Hause fand, ohne darüber nachzudenken. Es war einfach ein Teil von ihm.

»Priamos war zu stolz«, fuhr seine Frau fort. »Das hat mir die Göttin gesagt, mehr als einmal.«

Ihr Mann nickte. Theano war eine Priesterin von Athene gewesen, als er sie kennengelernt hatte. Ihre Eltern waren im selben Tempelbezirk gewesen. Wie viele Jahre war das her? Antenor könnte es nicht sagen. Sie war ein schlankes Mädchen gewesen, erinnerte er sich, mit wachen Augen und einer scharfen Intelligenz, aus der über die Jahre Ungeduld geworden war.

»Ich habe den Opfermantel dargebracht«, erinnerte sie ihn. Die Trojanerinnen hatten für die Statue der Göttin ein prächtiges Festgewand gestickt, das seine Frau ihr im Sommer des letzten Jahres geweiht hatte. Es hatte nicht dazu beigetragen, Athenes Unterstützung für die Griechen auf die Trojaner zu lenken. Sie hätten ihr genauso gut einen Haufen Lumpen darbieten können, hatte Theano geflüstert, als der Leichnam ihres jüngsten Sohnes vom Schlachtfeld zurückgebracht worden war, das hätte ebenso viel gebracht. Ihr Mann hatte sie angefleht, keine Gotteslästerung zu betreiben, aber jetzt, wo sie nur noch ein Kind, ihre Tochter Crino, hatten, wollte seine Frau das nicht hören. Die Göttin war deutlich gewesen, sagte Theano: Bringt Helena zu Menelaos zurück. Kehrt den Schmutz aus unserer Stadt. Gebt ihr zehn Goldvasen – Priamos’ größte und schönste Exemplare – und zehn fein gewebte rote und goldene Wandteppiche mit. Schickt Paris, damit er sich demütig zeige und den Mann, dessen Frau er gestohlen hat, um Vergebung bitte. Sollte dieser ihm das nicht gewähren, so hatte Theano hinzugefügt, müsste Priamos’ verwöhntes Söhnchen seine Sperenzchen eben mit dem Leben bezahlen. Das wäre auch kein übertrieben hoher Preis dafür, dass er die Frau eines anderen aus ihrem Zuhause gerissen und damit Generationen alte Traditionen über den Haufen geworfen hatte, die zu Recht besagten, dass ein Gast seinem Gastgeber Respekt zollen musste.

»Priamos würde seinen Sohn nie dazu zwingen, seinen Ruf zu verlieren«, sagte Antenor.

»Seinen Ruf verlieren!«, zischte Theano. »Den könnte er nur verlieren, wenn dieser nicht vorher schon mit Füßen in den Dreck getreten worden wäre. Nur wer völlig verblendet ist, könnte denken, dass Paris irgendeinen Ruf hat, außer dem eines Schürzenjägers. Jede Frau, die mit ihm das Bett teilt, gilt forthin als Hure.

»Das kann der König nicht erkennen.«

»Er wird keine andere Wahl haben.« Theano hielt inne. »Aber du hast eine Wahl.« Diese Wendung hatte das Gespräch noch nie zuvor genommen. Der Blick ihres Mannes begegnete flüchtig dem ihren, so kurz, dass er ihren Gesichtsausdruck sicher kaum erkennen konnte. »Du hast die Botschaft gehört, Antenor. Du weißt, dass sie heute Abend zuschlagen werden.«

»Vielleicht aber auch nicht.« Seine Stimme schwankte. »Die Nachricht besagte nur, dass sie in der Nähe auf der Lauer liegen.«

»Und du weißt ganz genau, wo«, schnaubte sie. »Sie sind in dem Pferd. Es muss so sein.«

»Aber wie viele Männer würden schon zwischen die paar Holzplanken passen, Theano, selbst wenn sich dein Verdacht bewahrheiten sollte? Fünf? Zehn? Das ist nicht genug, um eine Stadt wie Troja zu Fall zu bringen. Nicht mal annähernd genug. Wir sind stolze Krieger, die einen zehnjährigen Krieg überstanden haben. Man kann uns nicht so einfach stürzen wie Kinder in einer Sandburg.«

»Leise«, mahnte sie ihn. »Crino schläft.«

Er zuckte die Achseln, sprach aber leiser weiter. »Du weißt, dass ich recht habe.«

»Wir kennen nur die eine Hälfte der Geschichte«, antwortete sie. »Die Griechen haben ihre Abreise groß inszeniert. Was aber, wenn sie gar nicht fort sind? Was, wenn sie darauf warten, dass ein paar Krieger in diesem Holzpferd in die Stadt geschmuggelt werden? Was, wenn diese Männer dann einer ganzen Armee die Stadttore öffnen?«

Antenor verzog schmerzvoll das Gesicht. »Dann wäre Troja dahin«, sagte er. »Sie würden es plündern und niederbrennen.«

»Sie würden die Männer töten und die Frauen versklaven«, führte Theano seinen Gedanken fort. »Alle Frauen, Antenor. Deine Frau, Antenor. Deine Tochter.«

»Wir müssen sie warnen!«, sagte er und schaute sich aufgewühlt um. »Ich muss sofort zu Priamos und ihn warnen. Jetzt gleich, bevor es zu spät ist.«

»Es ist schon zu spät«, sagte sie. »Das Pferd ist bereits in der Stadt. Es gibt nur eine einzige Sache, die du noch tun kannst, um uns zu retten.«

»Und die wäre? Was hast du vor?«

»Geh zum Stadttor hinunter, jetzt gleich«, sagte sie, »und mach es selbst auf.«

»Du bist ja verrückt.«

»Die Wachen werden längst nicht mehr auf ihren Posten sein. Sie glauben, dass die Griechen davongesegelt sind. Sie glauben, dass es nur noch einen einzigen Griechen auf Trojanischem Boden gibt: Sinon, diese Schlange.«

Ihr Mann rieb sich mit der rechten Hand den linken Arm, als hätte er dort Schmerzen. »Er wird die Tore öffnen, wenn du es nicht tust«, sagte sie. »Und dann werden sie ihn für seinen Mut belohnen, nicht dich.«

»Du willst, dass ich unsere Stadt verrate? Unser Zuhause?«

»Ich will, dass unsere Tochter überlebt«, sagte sie. »Geh jetzt, bevor es zu spät ist. Beeil dich. Es ist unsere einzige Chance.«

Als der alte Mann zurückkam, hatte er eine Tierhaut und eine eindeutige Botschaft dabei: Er musste das Fell des Panthers an ihre Haustür nageln, und die Griechen würden daran vorbeigehen.