9 Die Frauen von Troja

H ekabe blinzelte in die Sonne, als die Flut kam. Ihre Frauen drängten sich noch immer dicht um sie: Sie blieb ihre Königin, bis sie voneinander getrennt und fortgebracht wurden. Die Wachen hatten ihnen erlaubt, zum Fluss zu gehen und Wasser in die ramponierten Gefäße zu schöpfen, die sie noch hatten. Wer hatte schon wissen können, dass sie in jener Nacht, als sie vor all dem Rauch geflohen war, innehalten und einen verbeulten alten Becher hätte aufheben müssen, um später einmal keinen Durst zu leiden? Als sie sah, dass Hekabe kein Trinkgefäß hatte, reichte eine der jüngeren Frauen der Königin schweigend ihren Becher, um schwesterlich ihr Wasser zu teilen. Hekabe nahm ihn ohne Dank an.

Hekabe forderte die Wachen auf, den Frauen Essen zu bringen, aber die lachten sie aus. Doch nach einer Weile wurde ein Sack Kleie gebracht, zusammen mit einem verbeulten Kessel und ein paar Stöcken zum Feuermachen. Andromache band sich ihr Kind an die Brust und machte sich an die Arbeit. Unter ihren geschickten Händen tanzten schon bald die Flammen. Polyxena wurde gestattet, mehr Wasser zu holen, denn die Wachen wussten, dass sie nicht fliehen würde. Wie könnte sie auch, wo ihre alte Mutter am Ufer saß? Die Frauen kochten eine dünne Suppe, die nur durch die dicken, feuchten Algenklumpen, die sie am Ufer gefunden hatten, einen leicht salzigen Geschmack bekommen hatte. Sie aßen, ohne zu murren. Die Wachen sagten, dass es später Korn geben würde, sodass die Frauen in der Glut ihres Feuers Brot backen konnten. Hekabe hätte die Männer gerne gefragt, wie lange sie die Frauen noch so an der Küste festhalten wollten, auf kargen Felsen ganz ohne Unterstand und in zerrissener Kleidung. Aber sie wusste, dass sie die Antwort eigentlich nicht hören wollte.

Dies war das letzte Mal, dass sie ihre Frauen sehen würde. Wenn die Griechen mit der Plünderung der Stadt fertig waren, würden sie in ihr Lager zurückkehren, das ein kleines Stück die Küste entlang entfernt lag. Sie würden untereinander diskutieren, oder vielleicht würde auch einer der Alten die Entscheidung treffen, und dann würden die Frauen unter den griechischen Stammeshäuptern aufgeteilt werden, je nach deren Status. Und dann würde jede der Frauen von ihrer Familie, ihren Freundinnen, ihren Nachbarinnen getrennt und einem Fremden zugeteilt werden, dessen Sprache sie nicht sprach. Hekabe konnte ein wenig Griechisch, aber das behielt sie lieber für sich. Vielleicht war es bei ein, zwei anderen ebenso. Aber wenn eine Stadt geplündert wurde, wurde alles in ihr zerstört, auch ihre Worte.

Hekabes Gedanken begannen, ihr Streiche zu spielen: Wenn du mit einer der Frauen zusammenbleiben könntest, welche würdest du wählen? Als würde ihr je ein derartiger Wunsch gewährt.

Sie ließ den Blick über ihre Frauen schweifen und gab zu, dass sie die Antwort trotzdem kannte. Andromache war nicht ihr Fleisch und Blut. Sie würde sie also nicht aussuchen, obwohl sie das Mädchen, das ihrem Lieblingssohn eine so gute Ehefrau gewesen war und ihm ihrerseits einen Sohn geboren hatte, sehr mochte. Und Kassandra war die reinste Plage, wie eine Stechfliege, die ihre Mutter jeden Tag piesackte, seit der Wahnsinn über sie gekommen war. Sie war so ein liebes Kind gewesen, erinnerte sich Hekabe. Rußschwarzes Haar und tiefgehende Augen, wie Lithotelmen. Sie war mit ihren Geschwistern durch die weitläufigen Hallen gerannt und hatte immer im Mittelpunkt gestanden. Und dann war es passiert, eines Tages, einfach so. Sie kam aus dem Tempel des Apollo, ihre Kleidung zerrissen und ihr Haar zerzaust. Kassandra konnte tagelang nicht sprechen. Sie stotterte und stammelte, als hätten die Worte es unglaublich eilig, über ihre Lippen zu kommen, könnten dabei aber keinen Weg an ihren Zähnen vorbei finden. Und als sie dann doch wieder sprach, mit der Amme, die sich seit ihrer jüngsten Kindheit um sie gekümmert hatte, war es nur Kauderwelsch gewesen. Sie redete von einer furchtbaren Sache nach der anderen, von einer Katastrophe, die sie ereilen würde, und dann von noch einer und noch einer. Niemand konnte es ertragen, ihr zuzuhören. Wohin sie auch sah, sagte sie Tod und Vernichtung voraus. Hekabe ließ sie in ihrer Kammer einschließen, in der Hoffnung, dass sie sich mit der Zeit beruhigen würde: Niemand musste sie schreien hören, wie Flammen die Stadt verschlingen und unzählige Männer vor den Toren oder in ihren Häusern sterben würden. Aber bald weigerten sich selbst die Sklaven, ihr zu dienen, selbst dann, wenn man ihnen mit der Peitsche drohte. Kassandra würde ihnen ihren bevorstehenden Tod voraussagen oder den ihrer Eltern oder Kinder. Und selbst wenn es Schwachsinn war – niemand glaubte dem gestörten Mädchen auch nur ein Wort –, so beunruhigte es sie doch. Einmal hatte Kassandra so schlimm geweint und geschrien, wegen … Hekabe hielt inne. Sie konnte sich nicht mehr erinnern. Ihre Tochter war hysterisch gewesen, wie gewöhnlich. Die Einzelheiten spielten wohl kaum eine Rolle – jedenfalls hatte Hekabe ihr eine schallende Ohrfeige verpasst, mitten ins Gesicht. Kassandra hatte ihre Hand festgehalten und weitergeschrien. Da hatte Hekabe sie mit der linken Hand weiter geschlagen, so lange, bis sich auf den Wangen ihrer Tochter knallrote Handabdrücke zeigten mit tieferen Abdrücken auf der rechten Seite, von den dicken Goldringen der Königin.

Seit diesem Tag hatte Kassandra ihre Flüche und ihren Wahnsinn zumindest etwas leiser vor sich hin gemurmelt. Ihre Familie und die Sklaven wehrten zwar immer noch mit Handzeichen das böse Auge ab, wenn sie Kassandra sahen, aber nun war es einfacher, sie zu ignorieren. Selbst jetzt, während die Frauen abwarteten, wo man sie hinbringen und wem man sie zuteilen würde, waren Kassandras Worte nicht lauter als ein Murmeln. Sie traute sich nicht.

Hekabe wusste also, dass die eine Frau, die sie in den kommenden Monaten und Jahren am liebsten bei sich behalten hätte, Polyxena war. Ihre schönste Tochter. Die jüngste, mit dem goldenen Haar, das so anders als das aller anderen trojanischen Frauen war. Die Leute hatten immer gesagt, dass eine Göttin sie mit dieser außergewöhnlichen Schönheit gesegnet haben musste. Dennoch war Polyxena nie eingebildet gewesen. Sie war ein freundliches und rücksichtsvolles Mädchen, der Liebling aller. Hekabe schauderte bei dem Gedanken, welcher Grieche sie wohl bekommen würde. Der Schlächter Neoptolemos, der Priamos, Polyxenas Vater, abgestochen hatte, während dieser sich an einen Altar klammerte und um Verschonung flehte? Der hinterhältige Odysseus? Der bescheuerte Menelaos?

Hekabe sagte nichts, aber Polyxena wurde plötzlich unruhig, so als könne sie spüren, worüber ihre Mutter gerade nachdachte. Sie hob die Arme und streckte sich, dann ging sie in die Hocke. »Ich glaube nicht, dass es die Amazone war«, sagte sie. Hekabe verkniff sich eine genervte Antwort. Sie hatte bereits eine Tochter, die nur Schwachsinn von sich gab, sie brauchte keine zweite.

»Du glaubst nicht, dass es die Amazone war?«, fragte Andromache leise. Sie hatte endlich die Sprache wiedergefunden. Aber das Baby schlief, und sie hoffte, dass das noch eine Weile so blieb. Wenn er aufwachte, würde er Hunger haben, und sie hatte nur ein wenig in Milch eingeweichtes Korn, das sie ihm geben könnte.

»Troja ist nicht gefallen, weil Penthesilea gestorben ist«, sagte Polyxena. »Troja ist gefallen, weil die Gottheiten es so wollten. Wir wären fast gerettet worden, wisst ihr noch? Aber die Gottheiten müssen es sich anders überlegt haben. Selbst eine Amazone konnte daran nichts ändern.«

»Fast gerettet?«

»Als sie die Tochter des Priesters geholt haben, Mama. Und das Mädchen aus Lyrnessos.«