14 Laodameia

D ie Hitze in Phylake war erdrückend, selbst jetzt schon, so früh am Tag. In den niedriger gelegenen Ebenen von Thessalien, zwischen dem Golf von Pagasa im Osten und den Bergen von Phthiotis im Süden und Westen, war es immer heiß. Die Sonne brannte so unbarmherzig auf Protesilaos’ kleines Königreich herab, dass die Bäume nie hoch oder grün genug wurden, um mehr als einen kümmerlichen, unzulänglichen Schatten zu spenden.

Die Berge in der Ferne stiegen in scharfen, harten Zickzacklinien an, und Laodameia hatte sich oft gewünscht, dass sie darin umherstreifen könnte wie eine Ziege. Dort oben, wo die Bäume dichter wuchsen, war es doch sicher kühler. Doch da diese ersehnte Kühle außerhalb ihrer Reichweite lag, spürte sie, wie sich Schweißperlen an ihren Schläfen und ihrer Beinrückseite bildeten. Als sie klein war, hatten ihre Eltern ihr immer Gute-Nacht-Geschichten erzählt, und eine davon war bis heute fest in ihrem Gedächtnis verankert: die von Helios, dem Sonnengott, der jeden Tag genau über dieser Stadt, die sie ihr Zuhause nannte, eine Pause machte, damit sich seine Pferde ausruhen konnten.

Laodameia ging einen Rundweg entlang – vom Palast aus hinunter zu den Stadtmauern, bis zu der Straße, die von Phylake hinweg in Richtung Meer führte. Dort wartete sie jeden Tag, bis die Seeleute und Händler, die ins Landesinnere unterwegs waren, ankamen. Wie viele Tage brauchte ein Mann, um von Troja nach Thessalien zu segeln? Bis er knapp an der Insel Lemnos vorbeifuhr, bevor er das dunkle Ägäische Meer überquerte und an der Küste von Euboeia vorbei zum pagasaeischen Golf fuhr? Sie hatte die ganze Route genauestens im Kopf, denn bevor er gefahren war, hatte Protesilaos von kaum etwas anderem gesprochen als davon, wie er wieder nach Hause kommen würde.

»Weine nicht, kleine Königin«, hatte er gesagt, während ihre Tränen so ungehemmt flossen, dass sie dachte, sie würde daran ertrinken. Er hatte die Hand ausgestreckt – seine Hand mit den langen, schlanken Fingern, die so viel besser dazu geeignet waren, die Laute zu spielen, als ein Schwert zu führen – und sie mit dem Daumen abgewischt. »Ich bin wieder da, bevor du Zeit hast, mich zu vermissen. Versprochen.«

Und sie hatte genickt, als würde sie ihm glauben. »Du musst mir noch etwas versprechen«, sagte sie.

»Was du willst.«

»Du musst mir versprechen, nicht der Erste zu sein.«

Nur seine schöne Stirn – diese leichte Falte zwischen seinen Augen hatte sie von Anfang an besonders an ihm geliebt – verriet seine Verwirrung. Sein Mund machte weiterhin leise, beruhigende Laute, als versuche er, ein ängstliches Pferd zu beruhigen.

»Ich meine es ernst.« Sie hätte ihm gerne gesagt, dass er aufhören sollte, ihre Arme zu streicheln, und ihr stattdessen besser zuhörte. Aber das Licht der Fackel tanzte auf seiner goldenen Haut, und sie konnte sich selbst kaum darauf konzentrieren, was sie sagen wollte. »Du musst dafür sorgen, dass dein Schiff hinter den anderen zurückbleibt, wenn ihr in Troja landet. Deines darf nicht als Erstes dort anlegen.«

»Ich bezweifle, dass ich am Steuer sein werde, Liebling«, antwortete er. Er spürte, wie sie sich neben ihm anspannte. »Aber ich werde den Steuermann bitten, sich nicht allzu sehr zu beeilen. Ich werde ihn mit Geschichten von Seeungeheuern und Strudeln ablenken.«

»Du nimmst mich nicht ernst.« Sie versuchte, ihm ihren Arm zu entreißen und mit ihm zu schimpfen, aber sie schaffte es nicht. Sie sehnte sich nach seinen Berührungen, schon während er sie noch berührte. »Du musst die anderen Männer vor dir an Land gehen lassen. Alles wird gut, wenn du nur ein wenig zurückbleibst und einen anderen zuerst von Bord gehen lässt.«

»Ah«, sagte er. »Aber je schneller ich mein Schiff verlasse, desto eher kann ich wieder zurück an Bord sein und dann zu dir zurückkommen.«

»Nein«, sagte sie. »Nein, bitte. Das stimmt überhaupt nicht. Du darfst nicht als Erster an Land gehen, auf gar keinen Fall.« Wieder flossen ihre Tränen.

Protesilaos lächelte geduldig und wuschelte ihr durchs Haar. »Ich sagte doch, weine nicht, kleine Königin. Bitte, hör auf.«

*

Sie war sich sicher, dass ihr Schlafzimmer im Vergleich zu anderen Palästen weder besonders groß noch besonders prunkvoll war. Das Königreich war klein, der Palast war klein, und sie war klein. Oder zierlich, wie Protesilaos lachend verkündete. Er sagte immer, dass er sie auch dann geheiratet hätte, wenn sie nicht so schön gewesen wäre. Schließlich sei sie die einzige Königin, die in sein Zuhause mit den niedrigen Decken passen würde. Aber die dicken Mauern sorgten auch dafür, dass es im Palast schön kühl blieb: der einzige kühle Ort in ihrer heißen kleinen Stadt. Und so konnten sie ihr Schlafzimmer mit warmen Decken und Fackeln füllen, während die Abendsonne auf das restliche Königreich hinabbrannte. Sie liebte dieses Zimmer mehr als alles andere, liebte es, dort mit ihrem Mann verschlungen in ihrem eigenen Reich zu sein.

Doch als die Kunde kam, dass Helenas Freier ihre Schiffe bei Aulis versammeln sollten, begann ihr kleines, perfektes Glück zu zerbrechen. Sie wusste natürlich, dass Protesilaos einmal um Helenas Hand angehalten hatte. Das war noch, bevor sie sich gekannt hatten, also nahm sie es ihm nicht im Geringsten übel. Aber ach, wenn er es doch nie getan hätte. Denn die Freier hatten alle den Eid geschworen, Helena zurückzubringen, sollte sie je verloren gehen – und zwar demjenigen unter ihnen, der zu ihrem Ehemann erklärt wurde, ganz gleich, um wen es sich dabei handelte. Ansonsten hätte Helena nie heiraten können: Jeder griechische König wollte sie für sich. Bei so vielen konkurrierenden Interessen mussten Konsequenzen vereinbart werden.

*

Der Mann, der sie sich letztendlich nahm, war kein Grieche und hatte rein gar nichts geschworen. Dennoch konnte der Eid, der Laodameias Mann band, nicht gebrochen werden. Als Helena also mit dem Prinzen von Troja verschwand, erhielt Protesilaos den Befehl, mit seinen griechischen Mitstreitern in die Schlacht zu ziehen und um Helenas Rückkehr zu kämpfen. Weil der König von Sparta seine Königin verloren hatte, verloren hundert Königinnen ihre Könige. Und Laodameia war auf die Griechen mindestens genauso sauer wie auf die Trojaner. Sie hatte sich im Leben nur sehr wenig gewünscht: Sie wollte nur, dass ihr Mann der ihre sei, in Sicherheit und in der Nähe.

*

Und jetzt war nichts davon der Fall. Das wusste sie seit dem Moment, als es passierte, schon Tage bevor der Bote mit der Nachricht kam, die sie mehr als alles andere gefürchtet hatte. Sie hatte es immer gewusst, dachte sie, noch bevor sie ihre Angst in Worte fassen konnte. Seit dem Moment, in dem sie Prothesilaos begegnet war, hatte sie gewusst, dass sie ihn verlieren würde. Sie erinnerte sich noch gut an ihre widersprüchlichen Gefühle, als ihr Vater sie einander vorstellte: Eine sofortige Hingabe mischte sich mit einer verzweifelten Vorahnung von Trauer.

Sie hatte es gewusst, als sie während seiner letzten Umarmung die Augen schloss. Sie war mit ihm zu seinem Schiff gereist, um ihm zum Abschied zu winken. Wieder flehte sie ihn an, sich vor den Stränden Trojas zurückzuhalten, der letzte, der vorletzte, aber auf gar keinen Fall der erste Grieche zu sein, der das fremde Land betrat. Sie hatte ihre Tränen vor ihrem Mann versteckt, damit es ihr Lächeln war, das ihn begleitete. Aber sobald sie dachte, dass er sie nicht mehr sehen konnte, hatte sie angefangen zu weinen und seitdem nicht mehr aufgehört. Sie hielt den Blick auf seine Silhouette gerichtet, bis sie ihn nicht mehr erkennen konnte, und dann beobachtete sie sein Schiff, bis es nur mehr ein Fleck am Horizont war. Und immer noch konnte sie es nicht ertragen, das Ufer zu verlassen, so stark war das Gefühl, dass sie sich, sobald sie dem Meer den Rücken zuwandte, auch von jeglichem Glück abwandte. Irgendwann führten Sklaven sie zurück zum Palast. Ihre Dienstmagd hielt sie an der Taille fest, damit sie nicht hinfiel, wenn sie stolperte (durch die Tränen und das schwindende Licht der Dämmerung konnte sie den holprigen Pfad nicht richtig erkennen). Das arme Mädchen erkannte nicht, dass Laodameia längst hingefallen war und nie wieder aufstehen würde.

*

Ihre Eltern trösteten sie: Protesilaos würde zurückkommen, die Entfernung wäre gar nicht so groß, das Meer war ruhig. Zu ruhig, wie sich herausstellte. Ein paar Tage, nachdem er von Thessalien abgesegelt war, schickte Protesilaos eine Nachricht, dass er – genau wie die anderen Griechen – wegen einer Flaute bei Aulis festsaß. Die Flotte konnte nicht weitersegeln, und Laodameia erlaubte sich, zu hoffen, dass das Vorhaben abgebrochen werden und ihr Mann wieder nach Hause kommen würde. Sie hoffte, dass das Bild, das sie immer wieder sah – von seinen wunderschönen Füßen mit den langen Zehen, die nach außen zeigten, der linke Fuß vor dem rechten, wie er ganz vorne am Bug des Schiffes stand –, Protesilaos zeigte, wie er an der Küste von Thessalien an Land ging, und nicht wie er in Troja in sein Verderben sprang. Sie sah es so detailliert: Er hatte die Knie leicht gebeugt, wie ein Tänzer, der sein Gewicht mit wohl gewählter Präzision nach vorne verlagerte.

Aber sie wusste natürlich, dass es hoffnungslos war. Und so beging Agamemnon, der Anführer der Expedition, irgendeine Gräueltat, um die Gottheiten zu besänftigen und den Wind für die Schiffe zurückzugewinnen. Die Flotte segelte weiter, genauso, wie sie es immer gewusst hatte. Sie erreichte Troja sicher, und ihr Mann, ihr Geliebter, so sehr darauf bedacht, den Krieg rasch zu beginnen, um schnell wieder bei seiner kleinen Königin zu sein, sprang von seinem Schiff in das flache Wasser, das in sanften Wellen an die Küste schwappte. Die Trojaner warteten schon auf sie, aber Protesilaos war kein Feigling. Sie hatte nicht gewusst – jedenfalls nicht, bis der Bote mit der furchtbaren Nachricht kam –, dass ihr Mann so ein guter Krieger war. Wenn man sie gefragt hätte, hätte sie das natürlich behauptet. Gleichzeitig hätte sie, wenn man sie gefragt hätte, genauso stolz verkündet, dass er fliegen konnte. Es war kein Trost für sie, zu erfahren, dass ihr Mann so mutig und geschickt mit Speer und Schwert kämpfen konnte. Sie hätte es vorgezogen, wenn er sich zitternd und bebend hinter einem Sofa versteckt und sich geweigert hätte, in die Schlacht zu ziehen. Wer könnte schon einen Feigling lieben, hatte sie einmal eine Frau sagen hören. Laodameia kannte die Antwort. Jemand, für den die Alternative darin besteht, eine Leiche zu lieben.

Aber obwohl ihr sein Mut kein Trost war, wusste sie, dass es anderen anders ging. Seine Untertanen waren mit Stolz auf ihren ehemaligen König erfüllt. Sie saßen unter den sonnengebleichten Sonnensegeln aus Flachs und erzählten einander von Protesilaos’ Heldentaten. Wie er vor allen seinen Männern von seinem Schiff gesprungen war und drei – nein, vier – Trojaner getötet hatte, bevor die Schiffe der Myrmidonen überhaupt gelandet waren. Die Leute nannten den König der Myrmidonen den leichtfüßigen Achill. Aber ihr König war noch schneller gewesen.

Wie sie mit ihm prahlten: Laodameia hörte es von den Sklaven, die ihr Leiden damit zu lindern hofften. Und es war kein gewöhnlicher Trojaner gewesen, der ihren Mann niedergestreckt hatte. Es war kein Geringerer als Hektor gewesen, der Lieblingssohn des Barbarenkönigs Priamos. Sein Körperbau war der eines Ochsen, sagten sie. Groß und stark, und er kämpfte, um seine Stadt zu verteidigen. Alle waren sich einig, dass diejenigen, die verteidigten, was sie liebten, verzweifelter kämpften als die Angreifer. Nur ein solcher Mann war dazu in der Lage, ihren jungen König zu töten und aus ihm den ersten gefallenen Griechen zu machen.

*

Nachdem sie die Nachricht von seinem Tod erreicht hatte, hatte Laodameia nicht gewusst, was sie tun sollte. Sie zerriss ihre Kleider und zerrte an ihren Haaren und Wangen, weil sie wusste, dass man das von ihr erwartete. Sie zerkratzte sich die Haut mit ihren scharfen Fingernägeln – Nägeln, die in Momenten der Lust über die Wirbelsäule ihres Mannes geglitten waren –, und in dem Moment, in dem sie sich die Verletzung zufügte, spürte sie eine Erleichterung. Der körperliche Schmerz war nur ein schwacher Abglanz des Schmerzes in ihrem Inneren, aber das war besser als nichts. Doch das dumpfe Leiden, das folgte, reichte nicht annähernd aus. Die Wunden verheilten, aber sonst heilte nichts. Weil sie die Gespräche mit ihren Eltern, Freundinnen und Bediensteten nicht ertragen konnte, ging sie wieder und wieder über den Rundweg hinüber zur Ostseite der Stadt, wo sie unter einem dünnen Baum saß und auf niemanden wartete, denn es würde nie wieder Neuigkeiten geben, die ihr etwas bedeuteten.

Ganz Phylake ließ sie mit ihrer Trauer in Ruhe, bis der Schmied – dessen Werkstatt gegenüber von ihrem Baum lag – es nicht länger aushalten konnte. Der große, kräftige Mann, der mächtige, rußgeschwärzte Unterarme hatte und seinen Bauch mit einem gegerbten Ledergürtel zurückhielt, hatte seine Königin von seinem Amboss aus sitzen sehen, seit dem Tag, an dem der König fortgesegelt war. Er hatte sich selbst nie für sentimental gehalten: Schließlich war er derjenige, der die Speerspitzen des Königs angefertigt hatte. Er wusste genau, was auf dem Schlachtfeld vor sich ging. Aber die Trauer, die von ihr ausging wie ein übler Geruch – der andere dazu zwang, sich umzudrehen oder so rasch sie konnten an ihr vorbeizulaufen, obwohl es eigentlich zu heiß war, um sich zu beeilen –, schreckte ihn nicht ab. Im Gegenteil. Das erinnerte ihn an seine Frau, als sie nur wenige Monate nach der Geburt ihr zweites Kind verloren hatten. Das Baby hatte unruhig geschlafen und oft geweint, bis es eines Morgens kalt in seinem Bettchen gelegen hatte. Es gab kein Anzeichen für eine Krankheit oder eine Verletzung: Ihr Sohn war perfekt gewesen. Im Tod sah er noch schöner aus als zu Lebzeiten, als er ständig nach Luft schnappen musste. Der Schmied hatte das Kind genommen und in einer selbst ausgehobenen Grube begraben. Seine Frau konnte tagelang nicht sprechen. Der Schmied versuchte, sie daran zu erinnern, dass sie noch einen zweiten Sohn hatte, der zwischen den Stuhlbeinen herumwuselte und an ihren Röcken zerrte – und dass sie sicher noch mehr Kinder haben würden. Aber die Trauer stand vor seiner Frau wie ein unbewegliches Hindernis, an dem sie kein Weg vorbeiführte. Sie wurde immer dünner und blasser, weil sie nur im Haus blieb. Nach ein, zwei Tagen begann er, seinen überlebenden Sohn jeden Morgen mit zu seiner Schmiede um die Ecke zu nehmen, weil er befürchtete, dass sie, wenn sie schon selbst nicht aß, auch den Jungen nicht versorgen würde. Er flehte seine Schwestern und die Frauen seiner Brüder an, mit ihr zu sprechen. Aber niemand konnte zu ihr durchdringen. Einen Monat, nachdem das Kind gestorben war, begrub er seine Frau.

Der Schmied war ein guter Mann, der für eine Familie sorgen konnte, also heiratete er binnen eines Jahres erneut. Seine zweite Frau war zehn Jahre jünger – mit breiten Hüften und einem lachenden Gemüt. Sie bekamen dicht hintereinander fünf weitere Kinder. Seine neue Frau behandelte den ältesten Sohn des Schmiedes nie anders als ihre eigenen Kinder, und daran lag es, dass ihm immer noch die Worte in der Kehle steckenblieben, wenn er von ihr sprach. Seine Freunde hoben dann ihre Becher und grölten und lachten, wenn sie sahen, wie der kräftige Mann durch seine Liebe ganz weich wurde. Aber ihr Lachen war nie böswillig.

Jeden Morgen beobachtete er, wie Laodameia zu ihrem Baum ging. Und jeden Nachmittag, wenn er mit seinem Tagewerk fertig war, schmiedete er noch etwas anderes. Er war nie ein reicher Mann gewesen, aber er hatte den Griechen, die jetzt ihren Krieg gegen Troja führten, sehr viele Waffen verkauft. Außerdem hatte er auch noch einen großen Klumpen Bronze, für den er keine Verwendung mehr hatte, weil dieser erst geliefert worden war, nachdem die Männer bereits in See gestochen waren. Seine Frau beschwerte sich nicht, wenn er etwas später nach Hause kam, und sie fragte auch nicht, was er so lange in der Schmiede machte. Stattdessen rieb sie die roten Striemen an seinen Händen und unter seinem Gürtel, wo der Schweiß die Haut angegriffen hatte, mit Olivenöl ein.

Zwei Monate, nachdem der König in den Golf von Pagasea gesegelt war, stellte der Schmied fest, dass er schon auf das Erscheinen der kleinen Königin wartete, während er ein paar Beinschienen zurechthämmerte. Er hatte diese Arbeit schon so oft getan, dass er kaum auf die Schienen hinabschauen musste. Sie würden dem Besitzer perfekt passen, wenn er sie am nächsten Tag abholte.

Als Laodameia ihren Platz unter dem Baum einnahm, dachte der Schmied noch ein letztes Mal darüber nach, ob er wirklich das Richtige tat. Aber ihre vogelartige Gestalt war so mager geworden, dass er es nicht länger ignorieren konnte. Er ging zu ihr hinüber, ganz langsam, weil er sich seiner Größe bewusst war und ihr keine Angst machen wollte.

»Potnia«, sagte er und neigte leicht den Kopf. Er kam sich dumm vor und hoffte, dass es früh genug war und seine Nachbarn noch so mit ihrer eigenen Arbeit beschäftigt waren, dass sie ihn nicht sehen würden.

Es gab keinerlei Anzeichen, dass sie ihn gehört hatte. Er ging vor ihr in die Hocke. »Hoheit«, sagte er wieder. Sie riss den Blick vom Horizont los, um zu sehen, welch riesiger Felsblock auf sie zugerollt war. Sie war erstaunt, als sie erkannte, dass es sich um einen Mann handelte.

»Ich kann dir nicht helfen«, sagte sie. Was immer er von ihr wollte – etwas zu essen oder Wasser –, sie hatte nichts. Und sie hatte auch nicht die geistige Kapazität, um etwas zu beschaffen.

»Vergebt mir«, sagte sie. »Ich kann Euch nicht helfen.«

Als ihre Blicke sich trafen, fand er darin die unermesslichen Trauer seiner ersten Frau wieder. Er hatte Philonome nicht retten können, aber dieses Mädchen würde er retten.

»Ich brauche Eure Hilfe nicht, Potnia«, sagte er.

Bei diesem Wort musste sie fast lächeln. So hatte Protesilaos sie immer genannt, in dem Schlafzimmer, das nur ihnen gehört hatte.

»Kommt mit mir«, sagte er, und sie schaute ihn verwirrt an. Er streckte ihr seine kräftige Hand hin, und sie legte die ihre hinein, als wäre er ihr Vater und sie sein Kind. Er führte sie über den staubigen Pfad und um die Furchen herum, die die mit Marmor und Stein beladenen Wägen ausgefahren hatten.

»Jetzt hier entlang.« Er brachte sie in seine Schmiede: Nur die niedrigen Wände trennten sie von der Straße, und sie folgte ihm an einer Reihe von hängenden Blasebälgen aus Kalbsleder vorbei, die mit dem Schweiß des Schmiedes poliert worden waren, dass sie glänzten. Hinter dem ramponierten Amboss und einer Sammlung an kleinen, scharfen Speerspitzen, die der Schmied aus Metallresten angefertigt hatte, befand sich eine Tür, die zu einem Lagerraum führte. Ihre Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Dann sah sie verbeulte Töpfe und löchrige Kessel, die wieder erhitzt und neu zusammengefügt werden wollten.

Dahinter, in der hintersten Ecke, lag ein riesiger Haufen an Stoffen. Nein, das war kein Haufen, stellte sie fest. Das war ein einzelnes Tuch, das etwas Großes verhüllte. Etwas, das größer war als sie.

»Würdet ihr ein Geschenk von einem Fremden annehmen?«, fragte der Schmied und zog mit einer raschen Bewegung das Tuch weg.

Laodameia spürte, wie die Luft aus ihren Lungen wich, als wären diese zusammengedrückt worden wie die Blasebälge vor der Tür. Denn dort, direkt vor ihr, stand Protesilaos. Es war ihr nicht bewusst, dass ihre Füße sich bewegten, sie folgten nur ihrer Hand, die sie ausgestreckt hatte, um das perfekte Gesicht ihres Mannes zu berühren. Die Bronze fühlte sich unter ihren Fingerkuppen warm an, als würde tatsächlich sein Blut darunter fließen. Sie öffnete den Mund, konnte aber keinen Ton von sich geben.

»Es tut mir aufrichtig leid, was Ihr verloren habt«, sagte der Schmied. »Wenn Eure Hoheit es wünschen, werde ich die Statue zum Palast bringen, wann immer Ihr möchtet.«

Sie nickte. »Ja. Ja.«

Der Schmied warf ihr einen Blick zu, dann schüttelte er das Tuch aus, um seine Arbeit wieder abzudecken.

»Nein!«, schrie sie. »Bitte nicht.« Sie schlang die Arme um die Statue und hielt sie fest.

Der Schmied lächelte. »Keine Sorge«, sagte er. »Meine Jungs werden bald hier sein. Ihr könnt bei der Statue bleiben und sie nach Hause begleiten, wenn Ihr das wünscht.«

»Ihn nach Hause begleiten«, sagte sie. »Danke, das mache ich.«

*

In den folgenden Tagen und Monaten ließ Laodameia ihren bronzenen Ehemann keine Sekunde lang aus den Augen. Sie weigerte sich, zu essen und zu trinken, wenn die Statue nicht anwesend war, und niemand konnte sie dazu bringen, ihr Zimmer zu verlassen. Ihre Eltern begannen, sich Sorgen zu machen. So konnte ihre Tochter nicht weitermachen. Die Sklaven hatten von ihr immer als tragische Person gesprochen, aber mit der Zeit wurden sie gehässig. Dieses Mädchen könne den Tod ihres Mannes nicht akzeptieren und wieder heiraten. Dabei wäre sie noch jung genug, um einem anderen Mann Kinder zu schenken.

Ihre Eltern versuchten, sie zur Vernunft zu bringen, aber als alles nichts nützte, beschlossen sie, zu tun, was das Beste für sie war. Eines Nachts warteten sie, bis Laodameia eingeschlafen war, und ließen dann die Statue von mehreren Sklaven aus dem Zimmer tragen. Als Laodameia am nächsten Morgen erwachte, sah sie, wie die Statue auf einem Scheiterhaufen brannte – anstelle der Leiche, die nie nach Griechenland zurückgebracht worden war. Sie stieß einen markerschütternden Schrei aus und warf sich in die Flammen.

Die Gottheiten sahen dies und hatten Mitleid mit ihr, was ungewöhnlich war. Nachdem sie von ihrem Vater gepackt, in ihr Zimmer zurückgebracht und zu ihrer eigenen Sicherheit dort eingesperrt worden war, schickten sie Hermes, um mit dem Herrscher der Unterwelt zu verhandeln. Zum ersten und letzten Mal gab Hades ihrer Bitte nach. Laodameia weinte hoffnungslose Tränen in ihr bereits völlig durchweichtes Kissen, als sie plötzlich eine warme Hand auf ihrem Rücken spürte.

»Still, kleine Königin. Weine nicht«, sagte ihr Mann. Und endlich hörte sie auf zu weinen.

*

Sie verbrachten einen einzigen Tag miteinander, bevor Hades die Geduld ausging und Protesilaos wieder in die Hallen der Toten zurückgebracht wurde. Laodameia konnte ohne den, den sie schon einmal verloren hatte, nicht leben. Also knüpfte sie eine Schlinge aus ihren Bettlaken und folgte ihm. Die Gottheiten sprachen über ihre Hingabe, und als die Menschen von Phylake ihrem Königspaar einen Schrein errichteten, erhörten die Gottheiten viele ihrer Gebete.