18 Penelope

M ein liebster Gatte,

Ich wurde einst gewarnt, dass du mir Ärger machen würdest. Meine Mutter sagte immer, dass schon dein Name damit bestickt sei und du dich nie davon lösen könntest. Ich wiegelte ab und sagte ihr, dass du zu klug seist, um dich in den Ärger verwickeln zu lassen. Du würdest ihn überlisten, habe ich gesagt. Und sollte das nicht funktionieren, würdest du ihm davonlaufen. Ich hätte wissen müssen, dass der Ärger dich auf dem Meer finden würde, wo Klugheit und Schnelligkeit dir nur einen geringen Vorteil verschaffen.

Nun ist es ein Jahr her, dass Troja gefallen ist, und du bist immer noch nicht zu Hause. Ein Jahr! Ist es möglich, dass Troja jetzt viel weiter entfernt ist als noch vor zehn Jahren, als du dorthin gesegelt bist? Wo bist du, Odysseus? Die Geschichten, die ich höre, sind nicht gerade ermutigend. Wenn ich dir erzähle, was die Barden über dich singen, wirst du lachen. Zumindest hoffe ich das.

Es heißt, du bist von Troja aus in See gestochen und dann, nachdem du hier und da ein paar Piraten umschifft hast, auf einer Insel mit einäugigen, Schafe hütenden Riesen gestrandet. Zyklopen sollen sie heißen, diese Männer mit dem einen Auge und den vielen Schafen. Hast du schon einmal so etwas Lächerliches gehört? Man sagt, du wärst in der Höhle eines bösartigen Zyklopen gefangen gewesen, der die Absicht hatte, dich zu töten und aufzuessen. Nun, zumindest gehe ich davon aus, dass er dich zuerst töten wollte.

Die Barden singen, dass die Stimmung deiner Männer – die mit dir gefangen waren – rasch in Verzweiflung umschlug. Aber du hattest wie immer schon einen Plan. Ich frage mich, ob die Barden die Geschichte verändern, wenn sie sie im Hause von jemand anderem vortragen? In den Hallen von Ithaka bist du jedenfalls immer der Schnellste, der Klügste und der Einfallsreichste. Wenn dies meine letzte Mahlzeit ist, so sollst du gesagt haben, dann lasst mich meine Gastfreundschaft mit Euch teilen. Danach hast du dem Riesen, der sonst nur Schafsmilch trinkt, angeblich einen Schlauch unverdünnten Wein gegeben. Kein Wunder, dass er so schnell so betrunken war. Wie heißt Ihr, Reisender?, soll er lallend gefragt haben. Ich wüsste gerne, wen ich gleich esse.

Man nennt mich Niemand, hättest du geantwortet, damit er ja nicht auf die Idee kam, den Ruhm für deinen Tod einzuheimsen, und der Riese war zu betrunken und vielleicht auch zu dumm, um an der Echtheit dieses Namens zu zweifeln.

Natürlich hätte jeder auf die Idee kommen können, ihn betrunken zu machen. Die echte Brutalität deines Plans zeigte sich erst danach. Und die Barden mögen diesen Teil besonders gerne, Odysseus: Sie singen immer und immer wieder davon. Denn als der Wein wie Blut durch den Zyklopen floss, wollten deine Männer ihn im Schlaf töten. Sie hatten nicht, wie du, daran gedacht, dass sie dann samt dem toten Riesen in der Höhle feststecken würden. Ihr brauchtet den Zyklopen wach und unverletzt, damit er den Steinblock – den er als Tür verwendete – vom Höhleneingang wegrollte. Du und deine Männer hätten das nicht geschafft, weder alleine noch zusammen. Das haben dir deine Männer zuerst nicht geglaubt. Also durften sie sich selbst überzeugen. Drei Krieger versuchten mit aller Kraft, den Felsen wegzuschieben, doch der bewegte sich keinen Fingerbreit. Niemand konnte entkommen. Erst jetzt erkannten deine Männer, wie komplex das Problem war.

Hatte ich unverletzt gesagt? Natürlich brauchtest du den Zyklopen nicht unverletzt. Du brauchtest nur die richtige Art von Verletzung.

Du hattest gesehen, dass er einen langen Stock verwendete, um sich in dem felsigen Gelände, wo er seine Schafe hütete, abzustützen. Wenn er am Ende eines jeden Tages seine Herde in die Höhle getrieben hatte, rollte er den Felsblock vor den Höhleneingang, sodass die Schafe, während er schlief, im Höhleninneren gefangen waren, sicher wie in einem Stall und unerreichbar für alle Raubtiere. Er brachte also die Schafe in die Höhle und steckte dann den Stock quer vor den Höhleneingang, damit er die Hände frei hatte, um den Fels zu bewegen.

Genau diesen Stock hast du dir genommen und in die Glut des Feuers gehalten, wo du ihn die ganze Zeit drehtest. Die Männer jammerten und beschwerten sich über ihr grausames Schicksal: Sie hatten all die Kriegsjahre überlebt, um jetzt, auf dem Nachhauseweg, als Festmahl für einen Riesen zu enden. Aber du hast ihre Klagen nicht beachtet, sondern immer weiter den Stock gedreht, der so lang war, wie du groß bist. Langsam bildete sich eine geschwärzte Spitze. Selbst da verstanden die Männer noch nicht, was du vorhattest, und du musstest ihnen zwei Mal befehlen, dass sie zurücktreten und sich in der wolligen Herde des Riesen verstecken sollten. Ich wusste schon, bevor es der Barde zum ersten Mal sang, was du tun würdest. Deine Rücksichtslosigkeit war eine der ersten Eigenschaften, die ich an dir liebte, Odysseus. Und das ist immer noch so.

Du hast dem Zyklopen den angespitzten Stock in die Augenhöhle gestoßen und ihn dort gedreht, während es brutzelte und zischte. So, wie es die Barden singen, muss das Brüllen des Riesen so laut gewesen sein, dass er damit die Kriegstoten hätte erwecken können.

Anschließend bist du zurückgetreten und hast dich wie deine Männer zwischen die Schafe gekauert. Du hast die Tiere an ihren weichen Hälsen festgehalten, damit sie nicht davonlaufen konnten.

Der Zyklop zog derweil den Stock aus seiner nassen, geschwärzten Augenhöhle und brüllte wieder auf, noch lauter als zuvor. Er machte einen so schrecklichen Lärm, dass die anderen Riesen angerannt kamen. Sie waren Einsiedler, so hörte ich, die alle mit ihren Schafen in einzelnen Höhlen lebten. Aber keiner von ihnen hatte jemals ein solches Gebrüll gehört. Das konnten sie einfach nicht ignorieren. Was ist los?, riefen sie draußen vor dem Felsblock. Ihn wegzuschieben wäre – für sie zumindest – ein zu drastisches Eindringen gewesen. Also standen sie stumm da und lauschten. Ich bin verletzt, kreischte der Zyklop.

Du oder ich hätten dieselbe Frage gestellt, Odysseus. Welche Verletzungen hast du? Vielleicht hätte ich auch gefragt: Wie kann ich dir helfen? Aber die Zyklopen haben andere Sitten, und sie fragten das, was sie am meisten interessierte: Wer tut dir weh? Der verletzte Zyklop kannte die Antwort, und so brüllte er aus den Tiefen seiner zerklüfteten Kehle heraus: Niemand hat mich verletzt, schrie er. Niemand hat mir ein Auge ausgestochen.

Die anderen Riesen schauten von einem zum anderen und zuckten mit den Schultern. Ihre Art neigt nicht zur Neugier. Zwar schien die Stimme des Zyklopen schmerzerfüllt zu sein, aber sie hatten alle dasselbe gehört. Niemand hatte ihn verletzt.

Verärgert über die Störung verzogen sie sich wieder in ihre Höhlen und schenkten dem Schreihals keine weitere Beachtung. Aber auch wenn du bereits so viel erreicht hattest und auch wenn dein falscher Name weitaus nützlicher gewesen war, als du es dir hattest vorstellen können, hast du weiterhin Pläne geschmiedet. So ist mein Mann.

An dieser Stelle machen die Barden immer eine Pause, um sich zu stärken. Natürlich wollen sie Spannung aufbauen, indem sie dich noch etwas länger in der Riesenhöhle gefangen lassen. Sie wissen, dass sie sich damit einen zusätzlichen Kelch Wein verdienen. Erst wenn sie ihn haben, fahren sie fort: Du wusstest, wann der Morgen hereinbrach, weil es im Höhlendach des Zyklopen ein Loch gab. Es war zu klein, als dass sich ein Mann hätte hindurchzwängen können, und zu weit oben, als dass er es überhaupt hätte erreichen können. Aber es ließ den Rauch des Feuers hinaus und das Sonnenlicht herein, und so wusstest du, dass es hell wurde. Die Schafe wussten das auch, und sie begannen in dem dämmrig grauen Licht zu blöken. Der Zyklop wusste, dass er die Schafe zum Grasen hinauslassen musste, aber er wollte euch keinesfalls entkommen lassen. Also rollte er den Felsblock nur halb zur Seite und setzte sich daneben.

Einer deiner Männer gab ein Wimmern von sich, das glücklicherweise im Blöken der Schafe unterging. Er dachte immer noch, der Riese würde euch kriegen, Odysseus. Aber du wusstest, was zu tun war. Du bandest drei der Schafe zusammen und zeigtest deinen Männern, wie sie sich unter den wolligen Bäuchen festhalten konnten. Dann gabst du den Schafen einen Tritt, und sie rannten zum Höhleneingang. Als du gerade dabei warst, dem zweiten Mann ein weiteres Trio zuzuweisen, ließ der Zyklop seine riesige Hand fallen, fühlte drei flauschige Rücken und Köpfe – nicht die Spur eines Mannes – und lehnte sich zurück, damit die Schafe nach draußen konnten. Als du an der Reihe warst – wie immer hattest du bis zum Schluss gewartet –, war nur noch ein riesiger Schafbock übrig. Zum Glück bist du kein großer Mann. Du hast dich an die Unterseite des Tieres geklammert und bist entkommen, am Zyklopen vorbei, in die Freiheit.

Du warst unversehrt, was man von dem Monster, das dich gefangen gehalten hatte, nicht behaupten kann. Aber, oh Odysseus, der Ärger haftete so fest an dir wie das Fell an den Schafen. Als ihr davonsegeltet, konntest du es dir nicht verkneifen, zur Insel zurückrufen und dem verstümmelten Riesen mitzuteilen, dass du, Odysseus, ihn übertroffen hattest. Du konntest es nicht lassen, mit deinem Sieg anzugeben. Und selbst wenn du gewusst hättest, dass die blinde Kreatur der Sohn Poseidons war, der den Fluch seines Vaters auf dich herabrufen würde, so weiß ich nicht, ob du etwas anders gemacht hättest. Du konntest noch nie das Prahlen unterlassen.

Die Barden singen, dass Poseidon dich verflucht hat, Odysseus. Er schwor, dass du zehn Jahre brauchen würdest, um nach Ithaka zurückzukehren. Er schwor, dass deine Männer mit dir bestraft würden und dass du ohne sie nach Hause zurückkehren würdest, ohne einen einzigen aus deiner Besatzung. Werden sie dich im Stich lassen, Odysseus, oder werden sie auf dem Nachhauseweg sterben? Beide Vorstellungen sind zu düster für uns, die wir auf Ithaka auf euch alle warten. Ich würde mir nie wünschen, dass du anders wärest, als du bist, mein Mann. Aber ich wünschte, ich hätte dir den Mund zuhalten können, bevor du dem Zyklopen deinen Namen verrietst.

Deine dich liebende Frau,

Penelope